Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Coming of Karlo: Roman
Coming of Karlo: Roman
Coming of Karlo: Roman
Ebook775 pages9 hours

Coming of Karlo: Roman

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Der siebzehnjährige Karlo findet heraus, dass sein Vater nicht sein Vater ist. Zudem plagt ihn eine Fußballverletzung, obwohl sie verheilt sein soll. Dann lernt Karlo Gwen kennen. Sie ist direkt, stark, faszinierend – er verliebt sich in sie und sie sich in ihn. Er ist unbeschreiblich glücklich. Doch hat sie auch was mit einem anderen? Karlo ist verzweifelt, Karlo ist vor Eifersucht rasend, Karlo zieht sich in den Wald zurück. Schließlich kommt es zu einer Konfrontation, die in einer Katastrophe endet …

Lisa Kränzler ist ein Roman gelungen, der mit allen Mitteln der Sprache die Geschichte verletzter Menschen in einer kaputten Welt erzählt, in der toxische Männlichkeit wie ein wildes Tier lauert und einen Charakter befällt.
LanguageDeutsch
Release dateApr 17, 2019
ISBN9783957323972
Coming of Karlo: Roman

Read more from Lisa Kränzler

Related to Coming of Karlo

Related ebooks

Literary Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Coming of Karlo

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Coming of Karlo - Lisa Kränzler

    76

    1.

    Ich laufe nicht, ich fliege – die Vorfreude auf den Torjubel schon unterm Brustbein.

    Zwischen mir und dem Torwart, der ein Nichtskönner ist, liegen 16,50 × 40,32 m weiß-umrissenes Grün.

    Das wird mein Drittes heute. Gleich, gleich werd ich’s machen.

    Der Verteidiger mit der Vier auf dem Trikot kommt von rechts und ich denke, dass der noch weniger kann als der im Tor, mich auch diesmal – da kracht es, fährt Nummer Viers Stollenschuh in mein linkes Bein wie eine Axt, splittert, birst und bricht es in mir, wird mein Flug zum Fall. Ich rase auf den Rasen zu: ein Gekeilter, der sich selbst schlägt, schreiend Reißaus nimmt, ins zeitlose Dunkel flüchtet.

    Schon bin ich dort, fort, weg, weiß ich nichts mehr von Karlo.

    Zurück im Jetzt spüre ich das Piksen störrischer Grashalme unter meinen nackten Armen. Der Himmel über dem Feld ist ein schäbigblaues Waschbecken, der Mond ein abgeknipster Fußnagel, umrahmt von kalkweißen Wolkenschlieren.

    Der Boden vibriert. Ich sehe Schuhe, Stutzen, Knie, Schirischwarz und verschwommene Gesichter.

    Mein Bein. Was ist mit meinem Bein?

    Augen seichen.

    Wo der Schmerz am schlimmsten ist, werkeln Sanitäterhände. Ich stütze mich auf dem Ellbogen auf, blinzle Plörre weg und sehe meinen Schienbeinknochen aus dem Fleisch ragen.

    Mein Blut ist greller als das Neonorange, in dem der Sanitäter schwitzt.

    Es wird wieder dunkel.

    2.

    Im Bett: Wenn sie flach liegt, vergrößert sich der Abstand zwischen ihren Brüsten. Die Brustwarzen schielen dann nach außen, zu den Achseln hin.

    Sie hat die Augen geschlossen, wirkt dabei allerdings weder genießerisch noch hingebungsvoll. Konzentriert, angestrengt, angespannt; als versuche sie, eine komplizierte Rechenaufgabe im Kopf zu lösen – so sieht sie aus. Besonders sexy ist das nicht. Macht nichts. Sowie ich sie anfass, vergess ich ihr Gesicht, spielt, ob sie grade stirnrunzelt, zitronig- oder honig-schnutet, keine Rolle mehr. Die dünne, duftige, super-softe, extrazarte Haut ihrer Brüste ist’s, die diese Amnesie erzeugt, einen Autisten aus mir macht, für den die Zeichen, die Mund und Augenbrauen formen, keine Bedeutung haben.

    Meine Finger fahren südwärts, erklimmen abwechselnd braungebrannte und blassgebliebene Wölbungen, kurven um den Bauchnabel.

    Um zu fühlen, dass sie da ist, müsste ich sie nicht berühren: Die Wärme, die ihr Körper abstrahlt, wird spürbar, noch ehe sich die ersten hauchfeinen Härchen in die Rillen meiner Handfläche schmiegen.

    Als mein Tasttrupp (fünfkuppiges Grope-Team) in das schwarze, über ihren Hüftknochen aufgespannte Baumwolldreieck schlüpfen, slick dem letzten Hügel ihrer Rumpflandschaft entgegengleiten will, wird er aufgehalten.

    »Nicht.«

    Der Griff ihrer kleinen kalten Puppenhand ist erstaunlich fest.

    »Warum?«

    »Einmal im Monat, zwölfmal im Jahr …«

    »Achso«, sage ich und kehre mit den Händen zu ihren Brüsten zurück.

    Um Mitglied bei den Hell’s Angels zu werden, muss man ’ne blutige Muschi auslecken, behauptet Achim. Keine Ahnung, ob ich das machen würde. Dass man sich vor so ’n bisschen Blut nicht ekeln sollte, leuchtet mir ein, aber ablecken? Umringt von schmerbäuchigen Kuttenträgern die Nase reinstecken? Ne.

    Brustwarzen reagieren auf Berührung wie Pupillen auf Licht, ziehen ihr Rosa zusammen, werden klein – und hart! Meine Härte scheint Mel indessen überhaupt nicht zu interessieren: Ständig büxt ihr Puppenhändchen aus, spielt anderswo herum, anstatt ordentlich zuzupacken und sich so auf und ab zu bewegen, wie ich es vormache. Derjenige, der das Gerücht »Mit Mel geht’s schnell« in Umlauf gebracht hat, hatte offenbar mehr Glück als ich …

    Langsam bin ich die sinnlose Fummelei leid. Wie spät ist es? Ich strecke den Arm nach dem Wecker aus, drehe das Display zu mir: 17:32 Uhr.

    Auch Mel wirft einen Blick auf die roten Zahlen.

    »Hast du heute kein Training?«

    »Ich geh nicht.«

    »Warum nicht?«

    Weil mein beschissenes Bein weh tut, denke ich und stecke meine Zunge in ihren Mund, damit sie still ist.

    »Wenn du unentschuldigt fehlst …«

    Sie kann’s einfach nicht lassen!

    »… fliegst du dann nicht aus ’m Kader?«

    Mels Lippen sind weich und voll. Ich sauge mich fest und stecke meine Hand in ihren Slip.

    »Nicht.«

    Nicht, nicht, nicht! Warum legt sie sich in mein Bett, wenn sie nicht angefasst werden will? An ihren Schamlippen klebt etwas, das ich nicht sehen muss, um zu wissen, dass es die Farbe von OP-Kitteln hat. (OP/o.b./türkisgrün/türkisgrün … bestimmt kein Zufall …) Ich picke das Bändchen aus der Falte und ziehe dran: Einmal, zweimal – wie an einer Klingelschnur, woraufhin Mel entsetzt die Augen aufreißt.

    In ihrem Schreck sieht sie so dämlich aus, dass ich lachen muss.

    2.1

    Scheiße ja, sowas findet er witzig …

    Sie ist aufgestanden, geht im Zimmer umher, klaubt ihre Sachen zusammen. Der Tampon ist verrutscht, sitzt schräg und zu weit unten, so dass sie ihn bei jeder Bewegung spürt. Weil sie weiß, dass er ihr beim Anziehen zusieht, gibt sie sich alle Mühe, dabei nicht unsicher, sondern wütend-aufgebracht-angepisst zu wirken.

    Karlo mag keine Verbote. Ihm eine Grenze aufzuzeigen, ist immer ein Fehler. Seine Respektlosigkeit gilt dem Verbot-an-sich, nicht mir, Er meint es nicht so und Bin selber Schuld, hab ihn ja quasi dazu eingeladen, hofft, wünscht, sagt sie sich insgeheim.

    Eigentlich will sie gar nicht gehen. Sowie ihre Jeans die Womöglich-nicht-mehr-ganz-dichte Intimzone bedeckt, lässt sie sich Zeit, tut, als suche sie die Ringelsocke, die auf links gedreht, einen Bettpfosten umgarnt.

    Warum entschuldigt er sich nicht einfach? Warum sagt er nicht, dass sie bleiben soll?

    Sie kann ihm nicht böse sein, nicht, wenn er so (halb zugedeckt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt) daliegt und sie so (amüsiert, beinahe lächelnd) anschaut …

    »Nur Frauen sind schön«, sagt ihre Mutter immer, aber das stimmt nicht.

    Blonde Haare und dunkle Augen … darf’s eigentlich gar nicht geben …, denkt Mel in Anbetracht Karlos zum Weiß-Gott-wie-vielten Mal.

    Als sie schließlich doch fertig angezogen ist, es nichts mehr gibt, das sie zurechtzupfen könnte, schlägt er die Decke zurück, steht auf und geht zum Fenster, wo er sich eine Zigarette ansteckt. Abendliches Gelblicht beglänzt und schummert den breitschultrigen, kantigen Körper, der idolisch angeschmachtet, am Fensterbrett lehnt und raucht.

    Letzter Versuch, denkt sie, indem sie die Brauen hochzieht, das Kinn hebt und ein großes Fragezeichen in ihren Blick legt. Karlo antwortet prompt: Mit einer routinierten, fast gelangweilt wirkenden Geste nimmt er die Fernbedienung vom Fensterbrett, zielt auf die Stereoanlage, drückt 16 × Forward und 1 × Play.

    »Bitches ain’t shit but hoes and tricks«, rappt es aus den Boxen, und als Mel den Mund aufmacht, vermehren sich die Balken auf der Anlagenanzeige: Aus 26 wird 27 wird 28 wird ohrenbetäubend laut.

    Sie dreht sich um und geht.

    3.

    Der Ledereinband des Fotoalbums hat diesen speziellen Goldbraunton, der an dünne, eigelbig-glänzende Hefezopfkrusten erinnert.

    Mein Fingernagel kratzt eine kleine, helle Spur ins Leder. Könnte das Datum einritzen oder »Dreigewinnt« gegen mich selbst spielen, wie auf den Sprungkästen in der Turnhalle, meinen Namen in den Einband des Bilderschatzes, den Mam seit mehr als drei Jahrfünften versteckt hält, gravieren. Dann wär’s raus … wüsste sie, dass ich’s weiß …

    Werds lassen. Ihr zuliebe drauf verzichten.

    Vorerst.

    3.1

    Früher waren Fotografien offenbar nicht einfach rechteckig, sondern quadratisch. Quadratisch mit umlaufenden, weißen Rändern …

    In einem dieser Quadrate sitzt ein dunkelblonder Typ, den ich auf Mitte zwanzig schätze, an einem Campingtisch. Der Himmel über ihm ist sommerlich blau. Von links nähert sich eine Herde Schäfchenwolken, zählt ein bewaldeter Berg Nebeltiere. Der Rest der Landschaft besteht aus einer gemähten Wiese und einem Zaun, dem man das Heu angehängt, einen buscheligen Bewurf aufgebürdet hat, sodass er wie eine Pompon-Girlande ausschaut, sein drahtiges Wesen nur noch stellenweise durchblitzt.

    Das Tischstillleben lässt auf ein Frühstück schließen, das aus Knäckebrot, Nescafé Gold und zwei Eiern bestand. Die Marmelade, die hinter dem riesigen, rundum etikettierten Nescafé-Behälter – der Glaszylinder fasst bestimmt ’n halbes Kilo, wenn nicht mehr – hervorlugt, entdecke ich erst auf den zweiten Blick. Butter, Käse oder Wurst gibt’s keine – was Sinn ergibt, zumal das Zeug zu schnell schlecht wird.

    Hinweise auf die Tageszeit (bzw. den Beweis, dass der Typ und die, die ihn fotografiert, lange geschlafen, genau genommen also gebruncht haben) liefert der Schatten, der beinah exakt unter dem Campingmöbel liegt. Allzu heiß scheint es, trotz Sonnenhochstand, jedoch nicht zu sein, denn der Typ trägt lange Hosen. Jeans … Jeans und ein dunkelblaues Poloshirt, in dessen Brusttasche eine Zigarettenschachtel steckt. Das Shirt sitzt locker, den Kragen hat er aufgeknöpft … Dass er fotografiert wird, scheint ihn weder zu stören, noch besonders zu interessieren und ich muss zugeben, dass ich selten jemanden lässiger sitzen und rauchen gesehen habe. Auch hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass man eine Pilotenbrille aus den 70ern tragen kann, ohne dabei wie ’n Zuhälter auszusehen …

    Sitzen, rauchen, Sonnenbrillenvorurteile widerlegen – was hat er sonst noch drauf? Meistert er schwierigere Aufgaben (Pech, Pannen, Peinlichkeiten; Prüfungsstress & Pärchen-Scheiß; Pussy-Mangel & Prügeleien; parentale Probleme; physiologische Pein etc.) mit derselben Lässigkeit?

    Wie klingt seine Stimme? (Tief? Heiser? Rau vom Rauchen?)

    Über was haben die beiden Camper sich unterhalten, damals, als die Fotos noch quadratisch und ich noch nicht geboren waren?

    Bewaldeter Berg und Heubüschel, Nescafé-Großfamilienglas und ausgelöffelte Eier: Dinge, die vor meiner Zeitrechnung, vor meinem Jahr Null abgelichtet wurden und doch zu mir gehören, Teil meiner Vorgeschichte sind, zu den Requisiten der Exposition zählen, die ich zu rekonstruieren versuche.

    Seit dem Albumfund bin ich nicht mehr derselbe und doch der Gleiche, hat sich einerseits alles, andererseits nichts verändert.

    »Neugierde hat ihren eigenen Existenzgrund«¹: Wenn ich Mams Privatsphäre respektiert, mich von ihrem Schreibtisch ferngehalten hätte, wäre ich ihm nie begegnet, dem Typen mit den dunkelblonden Haaren, der mein Gesicht hat.

    1zit. n. Physiksaal-Poster-mit-Albert-Einstein-Motiv

    4.

    18:00 Uhr.

    Die anderen sind jetzt beim Warmlaufen.

    Er schnippt die Zigarette aus dem Fenster, damit Frank beim nächsten Rasenmähen was zum Aufsammeln hat.

    Rasenmähen, Fressen, Geldscheißen und Benzfahren sind seine wesentlichen Funktionen. Sich bücken bzw. das Knie beugen, um einen Zigarettenstummel aus dem zartgrünen Halmhaar seines Gartens zu zupfen, ist die sportlichste Übung seines Alltags, eine ungeliebte Kür, die er ächzend und stöhnend absolviert. Auf den vom mehrmaligen Bücken herrührenden Schweißausbruch folgt für gewöhnlich ein Wutanfall, lächerliches Rumbrüllen und wildes Gestikulieren am Abendbrottisch.

    Er denkt an Franks Finger: überdehnbare, kurze Dinger, die aus seinen fetten Patschehändchen wachsen wie Stummelschwänze.

    Schweinekringel mit Nägeln …

    Warum sich seine Mutter von diesen widerlichen Weichwursthänden begrabschen lässt, begreift er nicht.

    Ausweichen, abschütteln, wegschieben; sich mit ’nem Rohrstock bewaffnen und ihm für jedes Hinterntätscheln fünf Tatzen verpassen – das sollte sie tun!

    Er packt das Fensterbrett, hält es im Daumen-und-Fingerschnabel, übt massiv Druck auf Massivholz aus, beobachtet das Anschwellen der Adern auf seinem Handrücken.

    Die fummelnd vertändelten Nachmittagsstunden haben ein Kribbeln hinterlassen. Als wäre die vergeudete Zeit nicht verflogen, sondern zerbrochen und Hundertstel um Hundertstel in sein Blut gefallen.

    Plitsch-Platsch statt Tick-Tack.

    Mikroskopisch kleine Quarzkiesel, die die Kreisbewegung der rundherum rasenden Zeiger nachahmen und so das Fließen in seinem Inneren aufrühren, Strudel, Wirbel und, schlussendlich, ein Gefühlsgemisch aus Geilheit, Wut und Unruhe erzeugen.

    Während Karlo – Schwanz auf Halbmast, Stirn finster beflaggt – am Fenster steht, legen locker joggende U-18-Oberliga-Spieler etwa 400 m zurück.

    Um Mitglied bei den Dust Devils zu werden, muss man ’ne rußige Fensterrahmenrille mit der Zunge reinigen oder, zu Sauberkeitsfanatiker Franks Freude, einen spiritusgetränkten Tampon einführen und von der linken in die rechte Ecke schieben … Beides scheiße … lieber vereinslos … Player with no club affiliation …

    Er schließt das Fenster, verlässt sein Zimmer, geht ins Bad, tauscht Boxer- gegen Badeshorts, streift sich ein T-Shirt über und schwingt sich, das Treppengeländer wie einen Turnbarren fassend, die Beine soweit wie möglich nach vorne schleudernd, vom Ober- ins Erdgeschoss.

    Skateschuhe haben den Vorteil, dass sie nach einmaligem Schnüren zu Schlupfschuhen werden, sich quasi im Gehen überstreifen lassen … Schlüssel?

    »Ach was! Wird schon jemand da sein später.«

    Wenn das Rad geklaut wird, kann Frank ihm ja ein neues kaufen.

    4.1

    Die Straße, die in den Wald führt, steigt steil an. Auf den letzten asphaltierten Metern kommt man selbst im kleinsten Ritzel kaum noch vorwärts, will jede Pedalumdrehung hart erkämpft sein. Karlo schwitzt, hört sich atmen, spürt, wie in seinen Oberschenkeln Feuer auflodert und sich ausbreitet, zum Flächenbrand wird, der alle Fasern erfasst. Und ich fach’s noch an, denkt er, indessen er seinen strampelnden Beinen einen Luftstoß nach dem anderen versetzt.

    Einen Schlagballwurf entfernt wartet, anstelle eines Gipfelkreuzes, das Forstwirtschaftlicher-Verkehr-frei-Schild.

    Pulmo-Power und Furiose Femora; Blasebalg in der oberen, Inferno in der unteren Körperhälfte: Karlo braucht keinen Udo Bölts, quält sich auch ohne Motivator wie Sau, würde die Hilfe einer kämpferherzigen Zugmaschine ablehnen, zumal er die gekieste Zieleinfahrt vor Augen haben will, keinen Männerarsch. Von seiner Zeitanzeigmaschine – einer Casio mit Edelstahlarmband, wasserdicht bis 10 bar, die er heute Nachmittag, um sich nicht im entscheidenden Moment in Mels Haaren zu verfangen, ausnahmsweise abgelegt hat – ließe er sich indessen nur zu gerne anspornen. Als er das Fehlen der Uhr bemerkt hat, saß er jedoch schon abfahrbereit (und hausschlüssellos) auf dem Rad. Ob er seinen Streckenrekord verbessert, endlich die 20-Minuten-Marke geknackt hat, wird er (da er nicht abgesessen, umgekehrt und durchs Küchenfenster eingebrochen ist, die Uhr nicht aus der Hosentasche, in der sie pflichtvergessen schwingquarzt, befreit hat) nie erfahren. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sein Bein nicht weh tut.

    Dann sind die Bäume da: grüne, schattenspendende Buchenschirme mit langen, glatten Griffen; struppige Fichten, Tannen und Totholzstümpfe, die im hell-dunkel gefleckten Waldboden stecken wie Geburtstagskerzen im Marmorkuchen.

    Zum See hin wird es holprig, bringen Stolperfallen aus Baumwurzeln das Rad von der Ideallinie ab. Scheppernd schanzt es über den Pfad, kommt ohne Sturz, aber nicht ohne einen Achter davon.

    An Tagen wie diesen, an denen die Augustsonne sich von früh bis spät im See spiegelt und die grün-braune Moorsuppe auf dreißig Grad erhitzt, kann man das Stillgewässer schon von weitem riechen.

    4.2

    Er lehnt sein Rad gegen die krebskranke, mit einem neonpinken Abholzsymbol gekennzeichnete Eiche und steigt auf den Steg, balanciert über den Brückenteil, dem schon ein paar Planken fehlen, zur Plattform, einem sonnigen, wettergebeizten Rechteck, dessen linke Flanke von einem Heer dunkelgrüner Seerosenblätter bedroht wird. T-Shirt und Schuhe fallen wie Gold und Silber vom Haselbaum. Zehen krallen sich um die Stegkante.

    Er beugt die Knie, gesellt seine Hände zum vorangestellten, rechten Fuß und senkt den Kopf, verlagert sein Körpergewicht in dieser, an die Fertig-Position eines Sprinters erinnernden Stellung, nach hinten, bevor er es, durch eine Zugbewegung beider Arme (die er nicht ausführen kann, ohne dabei »Motorrad« und »Gas« zu denken) wieder aufs vordere Bein (sein Gasbein) bringt, welches sich streckt und (mit dem Gasfuß) kräftig vom Holz abdrückt.

    Einmal losgeschnellt, gibt es kein Zurück, keinen Halt und kein Halten mehr, saust er hinweg über Pflanzensamen in Seenot, eifrig rudernde Wasserläufer und die konzentrische Spur eines Kleinfischs.

    Wie viele Weiherbewohner den schröcklichen und wunderbahrlichen Kometen, der Sekundenbruchteile später das gespannte glitzernde Nassland verheert, tatsächlich kommen sehen, sich fürchten und fliehen, weiß der Schöpfer.

    4.3

    Wie eine Kanüle sticht Karlo in den See. Umfangen von waldhonigfarbenen Wassermassen, genetzt von unzähligen süßen Drops, taucht er dem merkwürdigen Betonklotz entgegen, auf dem für gewöhnlich, d.h. an vier von sieben Wochentagen bzw. immer, wenn das Wetter es erlaubt, der alte Gruber mit seiner Angel sitzt.

    Die Länge der Transweiher-Passage (Seerosensteg-Betonklotz/Ostufer-Westufer) beträgt rund 0,035 Seemeilen = 65 m = 35–45 Freistilzüge.

    Schon kehrt Karlo aus der Tiefe zurück und krault, sieht dabei Wolkenzipfel und Tannenwipfel, dazu Himmelbläue, diverse Blattgrüns, Schilf und den Schatten seines Armes, der in einem Halbkreis übers Bild wischt, die Auslöschung der Uferlandschaft einleitet, die Karlo mit einer Kopfdrehung vollendet.

    Alles auspusten … wegblasen … weg, weg, weg!

    Der Betonklotz eignet sich besser zum Wenden als der Steg, dessen glitschige, schmale Pfähle die Füße leicht verfehlen.

    Früher (genauer gesagt: letzten Sommer) war Karlo schon nach einmal Klotz und zurück, sprich 0,07 Seemeilen, platt. Jetzt schafft er glatt das Zehnfache, ehe die Arme schwer werden und ihm der erste Wadenkrampf eine Pause aufzwingt.

    Schwimmen bedeutet schwerelose Schmerzfreiheit; ergo, Fortbewegung ohne Vorbehalte; ergo, elegantes Gleiten statt elendes Hinken. Schwimmen bedeutet Vergessen. Vergessen bedeutet Glück.

    4.4

    Bleiarm

    Substantiv, m

    Worttrennung:

    Blei-arm, Plural: Blei-ar-me

    Bedeutungen:

    (1) Schwimmweise, bei der konstant Vollgas gegeben wird

    (2) Medizin: Durch Belastung ausgelöste starke Ermüdung der Armmuskulatur

    Beispiel:

    Nach allzu langem Schwimmen mit Bleiarm, bereitet das Erklettern einer Stegplattform große Mühe.

    »Nur die Harten komm aufs Harte« lautet der Slogan, »Hoo-ray and up!« das Kommando.

    Dann liegt er auf den Planken, bestaunt pink- und pfirsichfarbene Cirrostrati, denkt Dungeon of Dopamin und wünscht sich Strafverlängerung.

    4.5

    19:30 Uhr, schätzt Karlo.

    Anderswo sammelt Trainer Reuter die Hütchen ein, um die herumgedribbelt und gepasst wurde.

    Zigarette wär jetzt gut …

    Zum Abschluss sie 7 gegen 7 auf Strafraumbreite. Treffer nach Flanken zählen doppelt.

    Wer nicht leistungsorientiert Fußball spielt, darf so viel rauchen wie er will.

    Karlo zieht die Füße aus der Kühle und streckt die Knie durch. Die Narbe auf seinem Schienbein ist unbehaart. Er will sie nicht sehen.

    Ist ja gar kein Bein … ist das blassgestreifte Fühlhorn der hydrophilen Holzraupe, im Volksmund auch flachleibiger Floßwurm genannt – es funktioniert nicht, ist zu viel verlangt, führt zum Generalstreik der Vorstellungskräfte, die »Su-per crazy vi-sions? – Not un-der these condi-tions!« skandieren, ein schokoladentafelgroßes Stück Traubenzucker fordern – und zwar sofort!

    Ist das Fantasievermögen verkrault, muss man analytisch vorgehen, die Dinge in ihre Einzelteile zerlegen:

    Eine Raupe besteht aus einer Reihe gleichartiger …

    Er spannt die Bauchmuskeln an, beobachtet das Wettrennen zweier Wassertropfen, die links und rechts über je drei Segmente! laufen und Richtung Badehose rinnen. Rechts gewinnt.

    Karlo steht auf, streift T-Shirt und Schuhe über und macht sich auf den Rückweg, fährt freihändig, lässt sich vom Wind umarmen, der als räße Kindsmagd und samtweiches Badetuch zugleich auftritt, ihm während des Abtrocknens die Ohren vollbraust.

    Pneu voran geht’s ins Tal hinab. Das Tempo ist mörderisch. Er denkt an nichts.

    5

    Schweiz, Österreich, Jugoslawien, Italien – sind ganz schön rumgekommen, die beiden. Die senfgelbe Karre, die immer wieder auftaucht – hier im Hintergrund rumsteht, da ’n Stück Kühler, dort ’n Eck Heck ins Bild streckt – sieht aus wie Spielzeug, erinnert an Darda-Gebrauchtwägen vom Flohmarkt, und ich frage mich, wie sie’s in dem Ding mit den runden Frontscheinwerfern so weit in den Süden schaffen konnten, ohne vorher rückwärts bis nach Dänemark gezogen zu werden von – ja, von wem?

    5.1

    Mams fabelhaft-unsinnige Antwort:

    Der skandinavische Löwe fängt Mobilchen wie der aesopische Mäuschen.

    »Warum?«, hätte ich wissen wollen.

    Weil die Ölvorräte in der Nordsee zur Neige gehen.

    »Er ernährt sich von Öl?«, hätte ich verblüfft gefragt.

    Ja … Aber Benzin schmeckt ihm beinah genauso gut, deshalb …

    »Schlägt er seine Krallen in Mobilchens Tankwanne und …«

    Nicht so schnell! Erstmal langt er mit seiner gigantischen, schwedengrünen Tatze über die Mecklenburger Bucht und Niedersachsen und Hessen und …

    »Hör auf! Ich kenn die Bundesländer!«

    Und den Odenwald hinweg und packt sich unser Mobilchen, das ja, wie wir wissen, ein zu groß geratener Darda ist …

    »Ach ja … das hatt ich vergessen: Rückzugmotor …«

    … also gar kein Benzin braucht, nicht einen Tropfen!

    »Armer Löwe. Muss verhungern.«

    Vielleicht. Aber vorher will er wissen, was er da eigentlich gefangen hat: Neugierig tastet er an Mobilchen herum, dann …

    »Will er’s ablecken!«

    Oder beschnuppern … Jedenfalls zieht er’s rückwärts bis nach Dänemark, wo er es, nahe der Stadt Aarhus, aus Versehen loslässt.

    Dann ziehen der neun- oder zehnjährige Karlo und die zweiunddreißig- oder dreiundreißigjährige Mam Gummistiefel an und gehen in den Wald, treiben sich stundenlang im herbstfarbenen Fell des Welfen-Löwens herum.

    5.2

    Die Nachmittage im Wald; Mam, die Buchen und Ahornlaub aufsammelt und daraus das goldene, rot bezungte und rot bewehrte Wappentier der Welfen legt, gab es wirklich.

    The rest is sighlence.²

    5.3

    Zu dumm, dass Mobilchen weder full-frontal noch full-dorsal geblitzt wurde, kein einziges emblemiertes Karosserieteil zu sehen ist …

    Von den mir bekannten Fahrzeugmodellen erinnert kein einziges auch nur entfernt an den kastenförmigen Kleinwagen. Wahrscheinlich war Mobilchen nicht erfolgreich genug, verzichtete die Firma auf eine Fortsetzung der Baureihe zugunsten eines sportlich-prolligen Vierzylinders³, rollte der Typ »Toybox« bald nur mehr Richtung Schrott, erlosch das Geschlecht der Senfgelblinge Mitte der 80er …

    Der dunkelblonde Raucher und die Fotografin haben indessen

    Definitiv!

    Ganz sicher!!

    Eindeutig!!!

    einen Nachfolger produziert. Sie weiß das.

    Und er?

    5.4

    Die Aufnahmen, auf denen die Fotografin mehr als ein ins Bild ragender Schatten ist, sich vor statt hinter der Kamera aufhält, zeigen eine junge Frau, der man durchaus zutrauen würde, dass sie ihrem Reisebegleiter gewisse Informationen vorenthält, zumal sie irgendwie … Verschlagen? Nein. Hinterhältig? Auch nicht.

    Gerissen, denkt Karlo, gerissen sieht sie aus …

    Eine spezifisch weibliche, mutternatürlich raffinierte, intuitiv perfektionierte Art der Gerissenheit; Schlichen, auf die Holmes & Watson nicht kämen; rechengesetzloses Kalkül – aus den frechen, fuchsbraunen Augen der Fotografin lacht das Unbegreifliche.

    5.5

    Was ist der Grund für Mams mysteriösen Funkelblick? Ein Bauchgefühl?

    Sie on the road, ich unterwegs; sie Paradise, ich Moriarty …?

    5.6

    Sherlock Holmes nennt Professor Moriarty den »Napoleon des Verbrechens«.

    Moriarty’s Paradise = Gangsta’s Paradise

    Mams Bauch = Ganovenhimmel

    Vage Erinnerung an den Film »Dangerous Minds – Wilde Gedanken«.

    (Videoabend bei Caro … Die sozial engagierte Lehrerin (Michelle Pfeiffer mit Biederfrau-Frisur) ist nicht Catwomans neues Alter Ego … Karlos Versuch, sich Michelle-im-Catsuit vorzustellen, führt zu Danny-DeVito-als-psychopathischer-Pinguin respektive missgebildeten, grottenolmartigen Händen … »My name is not Oswald! It’s Penguin! I am not a human being. I am an animal! Cold-blooded!«, brüllt der Flugunfähige – und die beigefarbene Weste, die er sich dabei vom Fettvogelleib reißt, könnte glatt aus dem Schrank der ghettokinderlieben Lehrerin stammen … »He! Nicht einpennen!«, fordert Caro. »Bin wach«, versichert Karlo, eh er seine Wildlife-Tour durch Gothams Kanalisation fortsetzt …)

    Intrazerebrale Safari … Vom Rubber-Duck-Boat aus Mutanten- Pinguine gucken … Dangerously bored

    5.7

    Hübsch ist sie, schlank und braungebrannt, mit langen, schnurgeraden Haaren, deren nussfarbene Strähnen zwei Bikini-Dreiecke tangieren. Zwischen ihren Brüsten blitzt ein goldenes Kettchen, im Lächelmund schimmern perlweiße Zähne. Sie wirkt ausgelassen, aufgedreht, ungestüm, nimmermüde, wirbelwindig, ist ein Wildfang, der sich nicht festhalten lässt, hat Spaßigeres zu tun, als für ein Foto zu posieren, Hände, Beine, Haare – irgendwas ist immer schon unterwegs und nurmehr als verschwommene Farbspur präsent.

    Dass sich so eine schwängern lässt, ihr Bauch anschwillt, die Taille verschwindet, sie mit ödematösen Füßen herumwatschelt, folglich lieber Sofa-sitzt und dann Probleme beim Aufstehen hat, dass sie ihre Freiheit freiwillig aufgibt, brav heiratet und häuslich wird, scheint ausgeschlossen. Fast.

    Sie hat mich gekriegt … Mich und einen Ehemann, der sie am Tag meiner Geburt in ’nem bonzigen S-Klasse Mercedes ins Krankenhaus gefahren hat und dabei um die Sauberkeit seiner Sitze besorgt war.

    2 Sighlent fiction (Sigh-Fi), to be precise.

    3 Renault-Fuego-Rip-off, das sich als Flop erwies?

    6.

    Eine sommerlaue Brise weht durch die offene Küchentür und vertreibt den Essensgeruch, vollendet die Arbeit der Dunstabzugshaube.

    Ilsa räumt die Spülmaschine ein: 3 × Silber, 3 × Porzellan; 1 Wasserglas mit Disney-Motiv (Schneewittchen + Zwerg); 2 Weingläser. Die Hoffnung, dass Lina das Geschirrgeklapper als Aufforderung versteht und spontan mithilft, hat sie inzwischen aufgegeben.

    Und Frank? Frank macht nach Feierabend keinen Finger krumm, ist dazu zu müde, findet es schon beschwerlich, den Daumen über die grauen Gummitasten der Fernbedienung zu bewegen, weswegen er das Zappen alsbald einstellt, auf irgendeinem Sender hängen bleibt und den Bildschirm anstiert, apathisch stumm, bis ihm die Augen zufallen und nur noch die Brillengläser das farbige Flackern widerspiegeln. Wenn Ilsa dann ins Wohnzimmer kommt und den zur Seite gekippten, glänzenden Halbglatzkopf betrachtet, der wie ein fleischiger Stopfen den Hals verpfropft, denkt sie an Eingemachtes, vergleicht Franks Mund, Nase und Augenlider mit gehäuteten Tomaten, Blumenkohl und Zwiebeln, führt die blasse Farbe und den Verwesungsgeruch des Bartschattengewächses auf Durch-die-Nasenlöcher-ins-Einmachglatz-dringende-Luft zurück und würde der Verpestung, die sein Atem anrichtet, zu gerne ein Ende bereiten, ihm ein Sofakissen aufs Gesicht drücken, ihn wie den Fernseher ausschalten!

    Ilsa schiebt nicht, sie stößt, rammt der Maschine die Metallkörbe, in denen die Teller stehen wie Kühe in Kurzständen, tief in den Rachen und nestelt einen blau-weißen Spültab, der aufgrund seiner verführerischen Brausebonbon-Optik außer Reichweite von Kindern aufbewahrt werden muss, aus seiner Verpackung. Erst als sie die Klappe geschlossen, ein Programm gewählt und den Startknopf gedrückt hat, bemerkt sie Karlos Anwesenheit.

    Taucht auf, wenn man ihn am wenigsten erwartet, materialisiert sich mit erschreckender Plötzlichkeit vor oder hinter oder neben einem, erscheint auf der Bildfläche wie ein Terrarium-Tier, das seine Tarnung aufgibt, seinen Standort verrät, indem es sich bewegt. Wenn ich blind wäre, wüsste ich nie, ob er im Raum ist …

    »Ich hab Hunger«, sagt er und blickt sich suchend in der Küche um.

    »Da hast du Pech. Wir haben grade gegessen …«

    Er geht zum Kühlschrank, nimmt einen Landjäger heraus und setzt sich an die Theke, wo er mit den Zähnen an der zähen, rotbraunen Stange reißt, in der die Fettpartikel schimmern wie kleine weiße Fische. In grimmigem, latent vorwurfsvollem Schweigen kaut er auf der Wurst herum, der arme Kerl, der nie was Anständiges zu essen bekommt – fast hätte Ilsa gelacht. Einem spontanen Bedürfnis folgend, geht sie zur Theke, streicht ihm die feuchten Haare aus der Stirn.

    »Warst du am See?«

    Er nickt.

    »Hast ja den halben Wald in den Haaren«, lächelt sie und zupft eine tannengrüne Nadel aus dem dunklen Blond.

    Er dreht den Kopf weg.

    »Übrigens hat der Reuter angerufen … Wollte wissen, wie’s dir geht und wann du wieder ins Training kommst«, sagt sie, woraufhin sein raues Kinn unwillig von links nach rechts schwenkt, er den Hals wendet, als trüge er einen zu engen Kragen. Sie legt ihm eine Hand auf die Schulter, bewegt ihren Daumen hin und her wie ein Pendel, das ihn beruhigen, seinen Schmerz einschläfern soll.

    »Ich hab ihm gesagt, dass das noch dauern wird …«

    Er kommentiert mit einem Geräusch, lässt seinen zynisch verzogenen Mund affrikatisch zischen, schüttelt ihr Streicheln ab und verlässt die Küche.

    6.1

    Zwei Songs und eine Zigarette später klopft es an die Zimmertür. Das Holz dämpft die helle Mutterstimme.

    »Roomservice!«

    Er steigt von der oberen mit Bett, Stereoanlage und Fernseher ausgestatteten Zimmerebene in die untere, wo Schrank, Schreibtisch und das Sofa, auf dem er pennt, wenn er besoffen ist und sich den steilen Aufstieg zur Bettebene nicht mehr zutraut, stehen.

    Sie überreicht ihm einen Teller mit belegten Broten.

    »Damit du mir nicht verhungerst, Karlito!«

    »Danke … War schon kurz davor«, sagt er und schickt sie mit einem Lächeln auf eine Reise in die Vergangenheit. Achtzehn Jahre ist das jetzt her … Sie schlägt die Augen nieder, schüttelt den Kopf, will den Gedanken verscheuchen wie eine lästige Fliege. Bloß keine Sentimentalitäten! Wenn er ihm nicht so verdammt ähnlich sähe …

    7.

    Auf dem Teller liegen vier Scheiben, zwei mal zwei essbare Stücke Kindheit, umzirkelt von einem Goldrand, der das Porzellan protzig und nicht spülmaschinenfest macht, weswegen es die meiste Zeit im Schrank verbringen und auf besondere Anlässe warten muss.

    Die »Rote Karte« (Butter und Schinken und Senf versteckt unter einem Haufen glückskleeförmiger, stoppschildfarbener Paprikaringe) liegt rechts, die »Gelbe« (Butter, Käse, das Gelbe vom harten Ei sowie eine halbierte Cuban yellow Cocktailtomate, die auf dem Käse sitzt wie ein Baustellenhelm) links. Unterhalb der Karten wächst leuchtendgrüner Schnittlauchrasen aus butterfetter, vollkornbrauner Erde. Den »Ball« (randlos rund und rahmfarben mit bitterschokoladenschwarzen Flecken) hebt er sich immer bis zum Schluss auf.

    Als zehn Finger noch ausreichten, um die Anzahl der gelebten Jahre anzuzeigen, war das alles unheimlich wichtig. Die Frage, ob ein beiges Bananenbrot als »Gelbe Karte« durchgeht, entfachte hitzige Diskussionen und an den Abend, an dem der »Ball« nichts weiter als ein lumpiges Butterbrot war, was die Mutter schlicht und schlüssig damit rechtfertigte, dass es auch ungefleckte Fußbälle gäbe, woraufhin er nur betroffen schweigen konnte, erinnert er sich noch heute.

    Was hat sich verändert?

    Zwischen elf und zwölf ging der Wunderwelt, die er hingenommen hatte wie einen großen Strauß quietschbunter Ballons, die Luft aus. Er fand sich auf dem Boden der Tatsachen, genauer: in einem Körper wieder, dessen Krächzstimme öfter mal ins Falsett sprang, der wachstumsschmerzte, schwitzte und regelmäßig Bettlaken verspritzte. – Das unbeschwerte Driften durchs magisch-märchenhafte Kinderleben war vorüber. Fortan gab’s Zinnober statt Zauber, nicht zuletzt um die verdammten Weiber, deren wippende Brüste er wie behext anstarren musste.

    Er sitzt auf dem Fensterbrett, den leeren Teller neben sich. Die Kindheit ist gegessen, vertilgt bis auf den letzten Krümel. Zahlen auf seiner Uhr behaupten, es sei Nacht, doch der Himmel will nicht dunkel und Karlo nicht müde werden.

    Hat der Zeigegestus offizieller Zeitmesser je mit dem seiner inneren Uhr übereingestimmt? Sonne und Mond jagen übers Firmament, Stunden schleppen sich dahin, Zeiteinheiten rasen oder kriechen, dazwischen gibt es nichts. Zu den Kollateralschäden des Chronometer- Kampfes Universal vs. Intravasal Clock zählt die zunehmende Bedeutungslosigkeit von Gut und Böse, Recht und Unrecht, Heilig und Unheilig, der Untergang der Werte in Karlos reizüberfüllter I’m-Zone, wo gewitterartige Stimmungsschübe an der Tagesordnung sind und merkwürdig heftige Impulse den Takt vorgeben, ihm Richtungsund Handlungsanweisungen erteilen, denen er nachkommen muss. Er macht das Fenster zu, durchläuft seine Routine aus Wichsen, Duschen und Zähneputzen.

    Heute wird nichts mehr passieren.

    8.

    Sonntag früh. Draußen tschilpt es, drinnen schläft alles, nur Lina nicht. Als sie aufgewacht ist, war der Himmel kränklich grau. Jetzt bekommt er langsam Farbe, wird einseitig rosig, als hätte man ihm eine Ohrfeige verpasst. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, bis neun Uhr liegenzubleiben, doch da die Gefahr eines sofortigen Rausschmisses aus dem Bruderzimmer um neun genauso besteht wie um acht oder zehn, ergibt Warten wenig Sinn. Barfüßig wieselt sie den Gang entlang, schlüpft in die Zutritt-verbotene-Kammer, schleicht an dem Kleiderhaufen, der nach Adidas for Men und Zigaretten riecht, vorbei und klettert die steile Treppe hoch.

    8.1

    Dem Tapsen nackter Füßchen folgt Lattenrostgeknarze, Matratzenschwingung und Deckengeraschel. Der Kopf der Zwergin taucht neben mir auf, großäugig wie ein Seehundbaby. »Morgen, Bruder!«

    Wecker zeigt eine Sieben, einen Doppelpunkt, eine Vierzehn.

    »He! Aufwachen!«

    Auf meinem Rücken sitzen 45 Kilo Schwester.

    »Kaaarlo-o-o-o-o.«

    Sie presst die Handballen gegen meine Schulterblätter, versetzt mir rhythmische Stöße wie bei einer Herzmassage.

    »Was willst du, Zwerg?«

    »Ich bin kein Zwerg!«

    Die Pseudo-Hilfe, die sie meiner Kehrseite leistet, wird langsam unangenehm. Ich drehe mich um, sie rutscht rückwärts, setzt sich rittlings auf meine Beine.

    »Du musst mir einen Gefallen tun.«

    »Ich muss gar nichts.«

    Sie hat mein altes Diesel-T-Shirt (Only the brave + Irokese) an, das ihr knapp über den Hintern reicht. Der abgerissene Kragen umschlackert ihre Schlüsselbeine, die linke Schulter liegt frei. Sie legt den Kopf schief, verleiht ihrem nussbraun umrandeten Gesicht einen flehentlichen Ausdruck.

    »Bitte, Karlo.«

    8.2

    Er seufzt genervt und wedelt mit der rechten Hand. Sie soll sagen, was sie will.

    »Also … Letzte Woche hab ich mit Dennis schlussgemacht …«

    »Gut.«

    »Eben nicht!«

    Warum erzählt sie ihm das? Hat sie keine Freundinnen, die sie damit vollquatschen kann?

    »Er …«, sie stockt, zipfelt verlegen am Saum ihres T-Shirts, »hat rumerzählt, dass ich nicht küssen kann, ihm das Gesicht abgeschleckt hätte wie ’ne Kuh.«

    Er lacht. In ihren Augen blitzt es zornig.

    »Ich find das überhaupt nicht komisch!«, faucht sie, besinnt sich jedoch sogleich, macht ihre Züge weich und ihre Stimme schmeichlerisch: »Jedenfalls brauch ich deine Hilfe …«

    Er hat sich aufgesetzt, den Rücken gegen Kopfendgestänge gelehnt, die Arme vor der blanken Brust verschränkt. Lina rückt auf den Knien bis zu seinem Schoß vor.

    »Küss mich.«

    »Was?«

    »Küss mich!«

    Spinnt sie jetzt komplett? Er tippt sich gegen die Stirn.

    »Bitte, Karlo … Ich muss doch wissen, ob das stimmt!«

    »Aber …«

    »Tu einfach so, als ob du mich gar nicht kennst!«

    Plötzlich ist ihr Gesicht ganz nah.

    Die Stupsnase hat Lina von Frank geerbt, ansonsten schlägt sie ganz nach der Mutter, weist fuchsbraune Augen, hohe Wangenknochen und ein schmales Kinn auf. Woher sie den Herzmund hat, der im Pavillon ihrer Diamant-Physiognomie leuchtet wie eine kandierte Kirsche, weiß man nicht.

    Schon verschwimmen ihre Züge.

    8.3

    Lina legt ihren Fruchtmund auf meine Lippen und lässt mich kosten. Sie schmeckt wie sie riecht: frisch und süß wie Aprikosen. Ihre glatte, feste Zunge zeichnet Kreise und Schlaufen, kommt und geht langsam und leise, freundet sich vorsichtig-neugierig mit meinem Sprechmuskel an. Der Nervendraht, der hinterohrs beginnt, Hals, Flanke, Hüfte durchzieht und in der Leistengegend endet, beginnt zu glühen.

    Tu so, als ob du mich gar nicht kennst – mein Schwanz hat damit keine Probleme, unterscheidet nicht zwischen Schwestern und Schlampen, plädiert dafür, sie am Nacken zu packen und …

    Aufhören! Abbrechen, bevor ich was mach, das mir später leidtun würde.

    Er schiebt sie weg: runter von seinem Schoß, raus aus seiner Reichweite.

    »Und? Wie war’s?«, fragt Lina bange.

    Er zögert, weiß nicht, was er sagen soll.

    Sie kommt ihm zu Hilfe:

    »Auf einer Skala von 1 bis 10?«

    »Acht.«

    Lina strahlt und kriegt dabei so rote Wangen, dass man meinen könnte, das Glück habe sie gekniffen. Dann wird sie wieder ernst.

    »Warum nicht Neun oder Zehn?«

    »Weil du ein Zwerg bist. Und jetzt hau ab!«

    Sie steigt aus dem Bett, richtet sich zu voller Größe auf und reckt die Nase hoch.

    »Ich bin eins dreiundsechzig – und wachse noch!«

    Und wenn sie, wie jetzt, ganz aufrecht geht, kann er ihre Pobacken und die blau-weißen Streifen ihres Höschens sehen.

    9.

    Linas Höschen wird herangezoomt: Matrosenfarbenes Baumwollgewebe saust auf den Betrachter zu und füllt das Bild aus, kommt up close, bis der Nahpunkt überschritten ist und die Streifen unscharf werden. Sodann verdichtet sich der blau-weiße Blur zu einer glatt glänzenden, azurblauen Fläche aus Plastik, welches im Zuge des nun erfolgenden Herauszoomprozesses plastisch wird und sich, in der Schlusseinstellung, als Flasche entpuppt.

    9.1

    Das Etikett des azurblauen Plastikflachmanns, der auf Mels Oberschenkeln eine milchige Schutz-und-Pflege-Spur hinterlässt, sagt »Nivea Sun«. Auf dem angrenzenden Handtuch saugt Ivy die Reste ihres neonblauen Waldfrucht-Slushies ein und erzeugt dabei unfeine Schlürfgeräusche. Weiter oben werden die letzten Wolkenflusen beseitigt, bürstet der Wind die veilchenfarbene Atmosphäre aus.

    Noch drei Tage bis zum Schuljahresanbruch. Die elfte Klasse soll die schwerste sein. Mel graut davor.

    »Schau mal, wer da kommt«, sagt Ivy und deutet mit dem Slushie-Becher, dessen Front ein hechelnder Hund ziert, der sowohl ein Beagle als auch ein Cocker-Spaniel sein könnte, dahin, wo die Liegewiese steil abfällt und die Familienzone beginnt. (Wer zu Füßen des Hügels liegt, ist garantiert älter als 25. Picknickkörbe, badeverkappte Rentner und kreischende Kleinkinder haben »auf ’m Buckel« nichts zu suchen …)

    Mels Augen folgen dem Becherschwenk und werden weit, erfassen drei Gestalten, die den Buckel erklommen haben und nun, im lässigen Schlenderschritt, das Plateau überqueren.

    Die Ankunft des Trios, das sich aus Julian (»Jules«) Metzer, Achim Brenner und Karlo West zusammensetzt, wird auch auf anderen Handtüchern bemerkt: Mädchen fassen sich in die Haare, Jungs heben die Hand zum Gruß, der peinliche Stresser, der sich unlängst seinen Namen in verschnörkelten Großbuchstaben auf den Bauch hat tätowieren lassen (»BOGOMIR«), brüllt »WESTSIDE! Was geht, Mann??«, woraufhin Karlo, dem das Gebrüll gilt, kurz in seine Richtung nickt – der Buckel hat seine Herrscher wieder, huldigt dem Triumvirat, das den Schritt tief und die Nasen hoch trägt. Sie gehen wie immer: Achim (mit olivgrünem Eastpak-Rucksack und Skateboard) rechts, Jules (mit dunkelblauem Eastpak-Rucksack und Badetuch-Stola um den Hals) links, Karlo (mit schwarzem Eastpak-Rucksack und Sonnenbrille) in der Mitte.

    »Bin ich verschmiert?«, fragt Mel.

    »Nein. Ich?«

    »Nein.«

    Wasserfeste Wimperntusche sei Dank!

    Die drei schlagen ihr Lager auf, docken mit ihren Badetüchern an Mels und Ivys Platz an, vergrößern die Frotteefläche. Die Enttäuschung darüber, dass Karlo sich nicht neben sie legt, zerrt an Mels Mundwinkeln, lässt ihr Willkommenslächeln erstarren. Er schaut sie nicht mal an, unterhält sich mit Achim über irgendeine im Alkoholrausch vollbrachte Heldentat. Als er sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckt, beugt Mel sich vor und gibt ihm Feuer. Beim Aufglühen treffen sich ihre Blicke. Was denkt er? Was verbirgt sich unter der schwarzbraunen Spiegelfläche? Schaurig ist’s, in die Moorseen zu sehen, die seine Augen sind. Etwas lauert auf dem Grund, hat sich in den Schlamm gegraben. Und manchmal, wenn es um seine Pupillen glost, die pigmentierten Blenden schwelen wie Torffeuer, ahnt sie, was es ist.

    9.2

    Die Jungs sind schon vorausgegangen, konnten es kaum erwarten, ins Wasser zu kommen. Der Regen der vergangenen Nacht hat das Becken auf 22°C abgekühlt. Viel zu kalt, findet Mel und würde lieber auf der Wiese bleiben, aber das geht nicht.

    Die Buckelneigung beschleunigt Mels Gang, schubst sie vorwärts, die Flugzeit zwischen Fußabdruck und Fußaufsatz verlängert sich, Schritte werden zu Sprüngen, Kniegelenke erfahren Erschütterungen, die Dämpfwirkung des Rasens, der wie ein schäbiger, zerschlissener Läufer über dem Gelände liegt, ist gleich Null. Sie spürt das plattgelegene, sonnenverbrannte Grasland an Ballen und Fersen, denkt an Strohsohlen und »Die zertanzten Schuhe«. Dann Steinpflaster: Ein Verbund körniger, sandfarbener Blöcke, die wie dicke Knochen aussehen, dicht an dicht zwischen den Plansch-, Spring-, und Schwimmpools liegen, in denen es krakeelt und spritzt, schwappt und gluckst.

    Mel watet durch ein knöcheltiefes, weißgekacheltes Kleinbecken, das von zwei überdimensionalen silbernen Hähnen flankiert wird, die auf Knopfdruck Kaltes speien – eine Funktion, die vor allem von Familienzonlern genutzt wird, vielleicht weil es einer gewissen Reife bedarf, die Regeln zu befolgen und sich vor dem Bade auf den Kopf spucken zu lassen.

    Eine feuchtdunkle Fährte hinterlassend, nähert Mel sich dem acht Bahnen breiten Schwimmerbassin, späht nach den andern aus, entdeckt Ivy, sieht Achim, Jules. Wo ist –

    Er schnellt aus dem Wasser, schießt durch die silbernen Bügel der Ausstiegsleiter, eine glitzernde Woge im Schlepp, springt sie an wie ein Krokodil seine Beute, packt zu und reißt sie von den Füßen, wirft sich ihren Körper über die Schulter wie einen Sack. Gilt Kreischen als Gegenwehr? Schrillend und schwerelos hängt sie an ihm, Wimpernschlags daraufkrachen beide ins Spiegelbild der umstehenden Bäume, zersplittern virtuelle Wipfel mit lautem Klatschen.

    So müssen sich Eier fühlen, wenn man sie abschreckt, denkt Mel, deren aufgeheizten Leib die Fluten umschlingen wie Bauchwickel Fieberkranke. »Krokodile ertränken ihre Beute …« Keine Ahnung, woher sie das weiß.

    Er hält sie unter den Achseln, zieht sie in die Mitte des Beckens. Dann taucht er ab, umkreist ihre strampelnden Beine, bleibt minutenlang unten. Mel hasst es, wenn er das macht, hat immer Angst, dass er ertrinkt. Als sein Schopf die Wellen teilt, er sich die Haare mit einem Kopfruck aus dem Gesicht schlenkert, ist sie erleichtert.

    »Ich«, hebt sie an.

    »Du gehst jetzt erstmal tauchen!«

    Sie spürt seine Hand auf ihrem Scheitel, wird ins Gechlorte getunkt wie Fritten in Fett.

    9.3

    Das Becken ist 2,20 m tief. Um nicht unterzugehen, muss sie ständig treten. Normalerweise bleibt sie in Beckenrandnähe, schwimmt ungern mehr als zwei, drei Züge. Mit krampfhaft hochgerecktem Schädel, Maul offen keuchatmend wie eine kranke Schildkröte, sieht man nicht besonders attraktiv aus …

    9.4

    Mel (verzweifelt inbrünstig einsaugend): »Hhhhhhhh!«

    Karlo: »Und Tschüss!«

    »Hhhhhh!«

    »Und nochmal!«

    »Hhhhh!«

    »Und nochmal!«

    »Hh! Nein! Hh-Hh …«

    »Doch!«

    Kaum, dass sie oben ist, ist sie auch schon wieder unten. Zum Beckenrand, irgendwie zum Beckenrand!, denkt sie, dieweil Atemnot und Panik ihren Herzschlag hetzen, versucht zu schwimmen, kommt jedoch kaum vom Fleck, wird erwischt und abermals abgeschleppt, rabiat rückwärts gezerrt von einem DLRG-ler⁴, der es sich offenbar in den Kopf gesetzt hat, sie zu ersäufen.

    »Lass mich«, Blubbern, Bläue und Bemühungen, sich beidbeinig vom Bassinboden abzustoßen, um schneller wieder an die Luft zu kommen, die Lungen japsend mit dem Nötigsten zu versorgen. An Schreien ist nicht mehr zu denken: In ihrer Verzweiflung beißt sie zu, schlägt die Zähne in Karlos Arm, bis sich sein Griff lockert.

    Mehr hundelnd als schwimmend erreicht sie den Rand und schiebt ihre Füße in die Beckenwandrille, drückt sich an pastellblau Glasiertes und streckt die Arme nach den sonnenwarmen Knochensteinen aus, die ihr so wertvoll scheinen, wie Schiffbrüchigen ein Stück Planke. Achims Gefeixe, Jules Gegröle, Ivys Geschnatter – kann ihr alles gestohlen bleiben! Sie will einfach hier hängen, über der Handfasse wie Schneider Böck überm Stuhl, und atmen.

    Gegen Ende ihrer Verschnaufpause fühlt sie Karlos Brust an ihrem Rücken, sein Kinn auf ihrer Schulter.

    »Was machst du heut Abend?«

    Die Frage kitzelt am Ohr, ist ein Streicheln mit Silben, das ihr ein »Nichts« entlockt.

    4 Dämonischen-Liebchen-Räuber-&-Grobian

    10.

    Strich (I), Winkel (L), Schlangenlinie (S) und dann im Dach des großen As: Ein Passbild. Mams echt lächelndes, (p)einschlussloses Diamantgesicht in Schwarzweiß. Nicht eine Kerbe in der Stirnfacette … Kontrastierende Hell-Dunkel-Flächen … Augenfunkeln und Zähneblitzen in graustufiger Haarzarge, unbunt gefasste Freude.

    Auf das fotogefüllte A folgt ein Pluszeichen, stämmig-stabil wie ’n Schweizerkreuz, dann – muss er wegschauen oder weiterblättern, zumal der Name, den die Mutter hinzuaddiert hat, nicht irgendeiner ist und das Passbild im Bauch des Endbuchstabens (O) nicht irgendjemanden zeigt, sondern ihn, den dunkelblonden Typen, den Pilotenbrille-und-Polohemdträger, der frühstückt, raucht, Fotos schießt und mit einer senfgelben Karre rumfährt. Der Automat hat ihn angeblitzt, das Lichtspiel seiner Züge auf Film gebannt und somit einen Beweis erstellt für die Minuten, die er in der Kabine verbracht hat.

    Das Bild hat keinen Vorhang, den er zuziehen, keinen Ausgang, durch den er verschwinden kann: Der Europatrotter klebt fest, sitzt seit 1982 in O-Haft …

    10.1

    Ilsa und Karlo. Mutter und Vater.

    Herauszufinden, dass er das Gesicht und den Namen eines Fremden hat, eine Art Klon, ein KARLO.02, ist, fühlt sich abwechselnd beschissen und beruhigend an.

    Beschissen, weil er offensichtlich nicht das unvergleichliche Geschöpf ist, für das er sich gehalten hat, eher die »Neuauflage des Originals« darstellt.

    Beschissen, weil er sich fragen muss, ob alles, was seins ist (ihn ausmacht), eigentlich ihm gehört (das Vermachte ist).

    Beschissen, weil er belogen wurde, jahrelang belogen.

    Beruhigend wirkt hingegen die Gewissheit, dass er nicht von Frank abstammt, kein einziges West-Gen in sich trägt.

    10.2

    Weiß Frank, was ich weiß, oder ahnt er es nur?

    10.3

    Ilsa + Karlo. Mam und der Camper, Raucher, Roadtripper, nach dem ich, wenn Frank ihn gekannt hätte, bestimmt nicht benannt worden wäre.

    + Karlo …

    Die einzig plausible Erklärung dafür, dass ich seinen Namen trage, wäre die, dass er tot ist – welche Frau würde einem Typen, von dem sie sich getrennt hat oder, schlimmer noch, schwanger sitzengelassen wurde, ein Namensdenkmal setzen?

    − Karlo =

    oder … verschollen?

    10.4

    »Voraussetzungen der Todeserklärung.

    Lebens- und Todesvermutungen

    § 1

    (1) Verschollen ist, wessen Aufenthalt während längerer Zeit unbekannt ist, ohne daß Nachrichten darüber vorliegen, ob er in dieser Zeit noch gelebt hat oder gestorben ist, sofern nach den Umständen hierdurch ernstliche Zweifel an seinem Fortleben begründet werden.

    (2) Verschollen ist nicht, wessen Tod nach den Umständen nicht zweifelhaft ist.

    (…)

    § 4

    (1) Wer als Angehöriger einer bewaffneten Macht an einem Krieg oder einem kriegsähnlichen Unternehmen teilgenommen hat, während dieser Zeit im Gefahrgebiet vermisst worden und seitdem verschollen ist, kann für tot erklärt werden, wenn seit dem Ende des Jahres, in dem der Friede geschlossen oder der Krieg oder das kriegsähnliche Unternehmen ohne Friedensschluss tatsächlich beendigt ist, ein Jahr verstrichen ist.

    (…)

    § 5

    (1) Wer bei einer Fahrt auf See, insbesondere infolge Untergangs des Schiffes, verschollen ist, kann für tot erklärt werden, wenn seit dem Untergang des Schiffes oder dem sonstigen die Verschollenheit begründenden Ereignis sechs Monate verstrichen sind.

    (2) Ist der Untergang des Schiffes, der die Verschollenheit begründet haben soll, nicht feststellbar, so beginnt die Frist von sechs Monaten (Absatz 1) erst ein Jahr nach dem letzten Zeitpunkt, zu dem das Schiff nach den vorhandenen Nachrichten noch nicht untergegangen war, das Gericht kann diesen Zeitraum von einem Jahr bis auf drei Monate verkürzen, wenn nach anerkannter seemännischer Erfahrung wegen der Beschaffenheit und Ausrüstung des Schiffes, im Hinblick auf die Gewässer, durch welche die Fahrt führen sollte, oder aus sonstigen Gründen anzunehmen ist, dass das Schiff schon früher untergegangen ist.

    § 6

    Wer bei einem Flug, insbesondere infolge Zerstörung des Luftfahrzeugs, verschollen ist, kann für tot erklärt werden, wenn seit der Zerstörung des Luftfahrzeugs oder dem sonstigen die Verschollenheit begründenden Ereignis oder, wenn diese Ereignisse nicht feststellbar sind, seit dem letzten Zeitpunkt, zu dem der Verschollene nach den vorhandenen Nachrichten noch gelebt hat, drei Monate verstrichen sind.

    § 7

    Wer unter anderen als den in den §§ 4 bis 6 bezeichneten Umständen in eine Lebensgefahr gekommen und seitdem verschollen ist, kann für tot erklärt werden, wenn seit dem Zeitpunkt, in dem die Lebensgefahr beendigt ist oder ihr Ende nach den Umständen erwartet werden konnte, ein Jahr verstrichen ist …«

    (Quelle: Dr. jur. Hans-Joachim Metzers»noch aus der Studienzeit stammendes« BGB.)

    10.5

    Vermisst ≠ Verloren

    Verschollen ≠ Tot

    »In den Wäldern die Zuflucht«, »Robinson Crusoe«, »Herr der Fliegen«: Bücher, die Mam mir geschenkt hat. Angeblich, weil’s Klassiker sind …

    5 aka Jules’ Vadder

    11.

    Auf der Rückseite der Ilsa + Karlo-Seite kleben die Anzeigen, die KARLO.01 und Mam aufgegeben haben: Mietgesuche, abgedruckt am 20. Juli, 1. und 3. August 1982. Dass sie die Daten ausgeschnitten hat, passt zu ihr. Seit ich denken kann, hängt in unserer Küche Jahr für Jahr einer dieser riesigen Kalender, auf denen die Tage Ketten bilden wie Abakusperlen, die Monate nicht wie Matrizen (von oben nach unten), sondern wie Texte (von links nach rechts) gelesen werden. Geburts- und Namens-, Franks Geschäftsreise- und Urlaubstage, Arzt-und Frisörtermine, Elternabende, Essenseinladungen, Müllabfuhr, Sperrmüll, Gemeinderatswahl, Radieschen-Aussaat – jeden Scheißdreck trägt sie ein! Dabei hat sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis und die Kalenderstütze eigentlich gar nicht nötig …

    Wenn eigentlich nicht (nötig) tatsächlich doch (nötig) bedeutet, welche Funktion erfüllt dann der Kalender? Dient er womöglich als Durchhaltehilfe? Was, wenn sie innerlich austilgt, Gedankenstriche setzt wie Häftlinge Ritzzeichen, Arbeitstage einfach, Sonntage doppelt geviertelt werden, sie ihren Ausbruch plant, abhauen will?

    Dann bliebe mir nur noch Lina.

    11.1

    Zum hundertsten Mal die Anzeigentexte:

    »Zum Greifen nah sind ihre netten Mieter, die sich eine 2-Zimmer-Wohnung in K. wünschen. Ilsa Braun«, dann Adresse, alte Postleitzahl, Telefonnummer.

    Meine Augen gleiten einen Schnipsel weiter.

    »Muss das sein? DM 400,– für eine 2-Zimmer-Wohnung in K.? Geht es nicht billiger? Karlo Kränzler«, darunter eine andere Adresse, eine andere Telefonnummer.

    Karlo Kränzler. Wenn sie geheiratet hätten, würde ich so heißen. Merkwürdig, ein Leben unter falschem Namen zu führen. Deckname »West« …

    Der Vorteil an der Sache ist, dass niemand weiß, wer ich wirklich bin.

    11.2

    Wirklich niemand?

    Mam hält mich für ahnungslos, Lina für ihren Bruder, Achim für … Wofür hält Achim ihn? Für einen Freund, hoffentlich …

    Der Vorteil, nicht als der erkannt zu werden, der er ist, hat den Nachteil, dass er daran nichts ändern kann – ein Umstand, der zu einem Gefühl der Kategorie »Beschissen« führt. Es nennt sich »Machtlosigkeit«.

    11.3

    Leben in der Kryptonymität:

    West verdeckt das Ungewisse.

    12.

    Ilsa sitzt im Arbeitszimmer, einem 30 m² großen Raum über der Doppelgarage, der sich, aufgrund seiner separaten, keine direkte Verbindung zum Wohnhaus aufweisenden Lage, anfühlt, als gehöre er ihr allein. (Dass Garage und Arbeitszimmer in Wahrheit Franks Besitz sind, zumal er das Grundstück und alles, was sich darauf befindet, bezahlt hat, ändert nichts an dem Gefühl.)

    Dämmerlicht fällt durch die Dachfenster, verdichtet die Schatten. Keine klaren Kanten, keine geschlossenen Formen mehr: Möbelgrenzen verwischen, Harthölzernes scheint weich. Das Zimmer gleicht einem grobkörnigen, Reiher-Dohle-Dommel-farbenen Sandbild, dessen Figuration sich verändert, je weiter es ins Dunkel abkippt.

    Der Papierbogen, der vor ihr auf dem Zeichentisch liegt, strahlt seine letzten Helligkeitsreserven ab, bräuchte dringend eine Ladung Lampenlicht, um sichtbar zu bleiben. Sie starrt die Bleistiftlinien an: Dynamische, elegante Schwünge aus silbergrauem Graphit, die schön sind, solange man sie von Nahem, genauer: im Detail, betrachtet. Aus der Distanz, wenn das Gehirn den Linien Bedeutungen zuordnet, die Schwünge zu Augen, Nase oder Mund erklärt, werden sie lächerlich. Total lächerlich.

    Der Hase war dem Auftraggeber »nicht niedlich genug«. Außerdem soll er nicht braun sein, sondern rosa, rosa und »insgesamt mädchenhafter, verspielter, träumerischer, ein bisschen wie Bugs Bunny«. »Mit übergroßen Schneidezähnen und Sprachfehler?«, fragte Ilsa in den Hörer. Das »Wie bitte?« des Projektleiters klang irritiert.

    Sie radiert die Augen aus, rubbelt mit dem Gummi über die Y-förmige Schnauze, entfernt Barthaare. Ein mädchenhafter Hase braucht Lider, Klimperwimpern und goldene Kreolen, ein Spaghettiträger-Top und Daisy-Duck-Pumps.

    Wie quetscht man Hinterläufe in Stöckelschuhe?

    Sie legt den Stift weg.

    Das aufgetakelte Vieh erinnert eher an einen Transvestiten als an ein Mädchen. Weg damit!

    Sie knüllt die falsche Häsin zu einer Kugel und wirft sie in den Papierkorb. Was nun? Hinter ihrem Rücken surrt es sirenenhaft, lässt der Kühlschrank, in dessen Gefrierfach der Wodka wartet, leise, gleichmäßig vibrierende Locktöne verlauten.

    Alkohol und Arbeit vertragen sich nicht: Beschwipst zeichnet sie zwar kühner, aber niemals besser, zumal angetrunkener Mut und Feuchtfröhlichkeit auf dem Papier zu jenen Plumpheiten erstarren, die Ilsa Alko-Pop-Art nennt und bislang noch immer vernichtet hat …

    Was soll’s? Macht sie eben Schluss für heute. Ein Feierabend-Drink wird wohl noch erlaubt sein!

    Das Klimpern der Eiswürfel klingt wie ein Glockenspiel, aus dem die Klangstäbe purzeln. Sie schraubt die Flasche auf und tauft den Würfelberg, taucht ihn bis zum Kamm in Schnaps. Dann schnuppern: Sauber destilliert, riecht nach nichts … Das Glas in der Linken geht sie zum Fenster, schaut zum Wohnhaus rüber, nimmt den ersten Schluck.

    In Karlos Zimmer brennt Licht. Ob das Mädchen noch bei ihm ist? Dreimal war die schon da, ohne dass Karlo sich die Mühe gemacht hat, sie

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1