Aufgetischt & abserviert: Aus dem Leben eines Obers
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DER PERFEKTE OBER
Der perfekte Ober ist gesegnet mit zwei geschickten rechten Armen – wobei in Stoßzeiten gegen einen ebensolchen dritten nichts einzuwenden wäre. Ebenfalls durchaus von Vorteil ist der Besitz zweier strapazierfähiger, hühneraugen- und krampfadernfreier, flinker Füße. Zum einen um der Order der sich stets in Eile befindlichen Gästeschaft nachzukommen, zum anderen um nötigenfalls die Flucht vor derselben ergreifen zu können. Um den so wichtigen „guten ersten Eindruck“ zu erzielen, ist eine ehrerbittige, respektvolle Haltung gegenüber dem Gast unumgänglich. Ein tadelloses, gepflegtes Äußeres vom Scheitel bis zur Sohle, einhergehende mit einer makellos properen Adjustierung runden denselben ab. Eventuelle Piercings sollten der eigenen Kammer vorbehalten, Tatoos – wenn es schon sein muss! – an nicht einsehbaren Stellen angebracht, und allfällige Fantasiehaarschnitte unter einer adretten, allgemein gefälligen Perücke versteckt werden.
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Aufgetischt & abserviert - Alfred Ziermayr
H.
Aus dem Leben eines Obers
Ich saß auf einer der grün lackierten Bänke auf dem Franz-Joseph-Platz in Gmunden. Es war der 23. Mai 1988, ein Sonntag. Neben mir standen ein großer brauner Koffer und eine Reisetasche, beide prall gefüllt. Die Uhr stand auf Viertel nach neun, eben war ich angekommen. Einer meiner Brüder, Franz, hatte mich mit seinem moosgrünen Opel Manta, durch dessen Mitte ein schwarzer Zierstreifen lief, gebracht. Der Himmel war von einem derartigen Blau, dass es einem unmöglich schien, nicht an die Existenz Gottes zu glauben. Das Wasser des Traunsees kräuselte sich im leichten Westwind, schlug glucksend an die Kaimauer, und die ersten farbenprächtigen Dirndln, mit oft appetitanregenden Inhalten, leider im Gefolge von respektgebietenden Krachledernen, eilten bereits die Esplanade auf und ab, als gälte es, einen wichtigen Termin einzuhalten. Von irgendwoher trug der Wind die Musik einer Blasmusikkapelle in mein Ohr ‒ Radetzky-Marsch!
Der Empfang lässt keine Wünsche offen und lässt hoffen, dachte ich. Zwei Tage zuvor hatte ich den knapp zehnwöchigen Umschulungskurs »Anlernkräfte für Hotel- und Gastgewerbe« im Restaurant »Berghof« in Traunkirchen unter der Leitung von Fritz Karl, dem Besitzer des »Berghofs«, mit sehr gutem Erfolg abgeschlossen. Und jetzt saß ich also hier, zweifelnd, nervös, und sollte in eineinhalb Stunden meinen Dienst im »Seehotel Schwan« antreten. Fritz Karl selbst hatte mich dem Chef des Hauses empfohlen, und ich hatte zwei oder drei Wochen vorher bereits einen Schnuppertag absolviert.
Meinem Einstieg ins Gastgewerbe ging eine eher ernüchternde berufliche Laufbahn voraus, die ihren Anfang in einer Lehre als Elektriker genommen hatte, für die mir allerdings jegliches Interesse und jeder Enthusiasmus fehlte ‒ leider! Mir ging es, bevor ich diesen zweifellos ehrenwerten Beruf ergriff, wie vielen Jugendlichen in diesem Alter. Ich hatte einfach keine Ahnung, was ich, quasi in erwerbstechnischer Hinsicht, machen wollte. Weder spürte ich, wenn man vom leidenschaftlichen Lesen von Büchern absah, besondere Neigungen in mir noch eine Hingezogenheit zu irgendeiner den Lebensunterhalt bewerkstelligenden relevanten Tätigkeit. Auch die eine oder andere Berufsberatung, die damals an den Schulen üblich waren, brachte diesbezüglich keine Klarheit. So wurde ich also Elektriker, weil mir a) nichts Besseres einfiel, b) gerade eine Stelle frei war und c) noch dazu eine derartige Firma in meinem Geburtsort ansässig war. Noch ein Pluspunkt, so der Tenor meiner Familienvorstände, war, dass ein Handwerker dieser Profession die Firmenunabhängigkeit unsere Familie, in der bereits zwei Tischler, ein Maurer, ein Drechsler, eine Gärtnerin vertreten waren, weiter stärken würde ‒ eine fatale Spekulation, was meine Qualität als Elektriker anging.
Nun, zu meiner Ehre sei gesagt, dass ich den Beruf zumindest fertig erlernte, allerdings schwänzte ich die Lehrabschlussprüfung. Dennoch verkabelte mich die Firma nach geleistetem Präsenzdienst wieder in ihre Dienste. Bis zu ihrem traurigen Konkurs, den der einst gesunde und florierende Betrieb nach dem überraschenden Tod des Chefs und einer darauf folgenden ambitionierten Neuübernahme, nach der alles besser, größer, schöner und natürlich moderner werden sollte, anmelden musste.
Arbeitslos! Das und noch immer keinen Tau, was ich eigentlich wirklich machen wollte. Halt! Stimmt nicht ganz. Ich hatte eine zumindest nebulöse Vorstellung davon. Ich wollte träumen, wollte mit den Wolken ziehen, wollte per Autostopp nach Griechenland fahren, dort am schneeweißen Strand unter azurblauem Himmel auf meiner Gitarre klimpernd, meine Tage zubringen, abends Sirtaki tanzen, Ouzo trinken und Gyros mit Tsatsiki verspeisen. Die Menschen dort würden mich lieben, sie warteten schon auf mich, sie würden mich mit offenen Armen empfangen! Die süßen, grazilen, milchkaffeebraunen Mädchen würden sich darum balgen, mich mit nach Hause und in ihre Zimmer nehmen zu dürfen, jawohl, das Leben, ein immerwährendes Fest!
Doch der Sommer ging dahin und mit ihm die Träume. Die profane Schwerkraft hatte mich am Boden gehalten, und das unerbittliche Schicksal schanzte mir einen Job in einer Kartonagenfabrik zu. Nach meiner dort vergleichsweise kommoden Ouvertüre an einer sogenannten Kaschiermaschine, durch die bedruckte Bögen durchliefen und mit Wellpappbögen verleimt wurden und an der meine Aufgabe darin bestand, die richtigen Einstellungen vorzunehmen, wurde mir nach etwa zwei Monaten ein neues Betätigungsfeld zugewiesen.
Eine der drei oder vier soldatisch in Reih und Glied stehenden Stanzen, die mit den bedruckten Kartonagen von der Kaschiermaschine beliefert wurden. Die Bögen wurden hinten vom Maschinenführer in die Führung eingelegt, durch die Stanze durchgejagt und perforiert und vorne, quasi beim Ausgang, von den unbrauchbaren Teilen, dem Abfall, befreit, selbstverständlich mit bloßen Händen ‒ das war mein Part. Es war laut, stickig, eintönig, im Sommer wie in einem Backofen, und die Maschine fuhr in einem Höllentempo. Wenn man es als »Abreißer« nicht schaffte, mit dem Tempo der Maschine mitzuhalten, gab es einen Stau, und der Maschinenführer musste die Stanze anhalten, was wiederum einen gehörigen »Putzer« des cholerischen Vorarbeiters nach sich zog ‒ Zeit ist schließlich Geld!
Nach einem guten Jahr war mir klar, dass ich auch für diese Art von Arbeit nicht geschaffen war, aber für welche Arbeit war ich geschaffen? Bilder von Griechenland drängten sich wieder auf, Olivenhaine, Dörfer mit schneeweißen Häusern und deren blitzblau gestrichenen Fensterrahmen, knorrige Rebstöcke, aus deren Trauben man den berühmten Retsina keltert, würfelnde alte Männer vor malerischen Tavernen, erleuchtete Schafhirten in karger Gegend, einsame Buchten, tiefblaues Meer, nächtens hörte ich die Sirenen singen …
Irmi, eine meiner Schwägerinnen, fragte mich, ob ich mir nicht vorstellen könne, auf Saison zu gehen, zumindest für den Übergang, bis ich etwas Besseres gefunden hätte. Was soll ich da machen?, fragte ich sie. »Schau doch mal in die Zeitung, die sind voll von verschiedenen Stellenangeboten.«
Tatsächlich! Neben Kellnern, Köchen, Stubenmädchen, Küchenhilfen, Abwäschern: »Hausbursch am Attersee gesucht, Gasthof zur alten Mühle«.
Der Attersee ist zwar nicht ganz so groß wie das Mittelmeer, aber immerhin der größte See Oberösterreichs, und das Wirtshaus hatte auch keine blauen Fensterrahmen, aber einen idyllischen eigenen Badestrand, den das Personal benutzen durfte. Ich wurde also Hausbursch, wusch die großen Töpfe und Pfannen, wechselte Glühbirnen, erledigte Malerarbeiten, fegte den Eingangsbereich, fütterte die Schweine, die im Spätsommer geschlachtet wurden, wischte Böden, und fühlte mich eigentlich sehr wohl. Dennoch kündigte ich diese Stelle mit Ende September, obwohl die Wirtsleute mich noch gerne behalten hätten. Aus heutiger Sicht unverständlich, aber damals hatte ich eine Eingebung ‒ nein, eine Heimsuchung ‒, und mir war endlich aufgegangen, was ich machen wollte, während der Saison hatte es sich herauskristallisiert, und ich hatte nicht die geringsten Zweifel, dass es nicht klappte. Ich wollte Musiker werden, jawohl, ein Liedermacher.
Ich meldete mich also arbeitslos, klimperte, vom Feuer der Beseelung in Brand gesteckt, auf meiner Gitarre und wartete auf das Wunder, wartete auf die Verkündigung meiner zukünftigen Entdecker, einen Star aus mir zu machen. Zwischenzeitlich, weil Wunder mitunter eine lange Lieferzeit haben, betreute ich als Hilfsgärtner die herrlichen Anlagen im Elisabethinnen-Krankenhaus in Linz. Meine Schwester Monika hatte mir diesen Job verschafft, und ich hätte mir ohne Weiteres vorstellen können, dort die nächsten vierzig Jahre bis zu meiner Pensionierung zu verbringen, leider Gottes war es aber wieder nur so eine Art Saison-Job. Nach gut zwei Monaten war Sendepause, und ich hatte wiederum viel Zeit, über meine wahre Berufung nachzudenken. Allerdings durfte ich noch einmal mein Talent als Gärtner unter Beweis stellen, und zwar in der Stiftsgärtnerei in Wilhering, und wieder verdankte ich diese Anstellung meiner Schwester. Fünf Monate stand ich bei den Stiftsherren unter Lohn und Brot, dann trennten sich unsere Wege mit beiderseitigem Einverständnis, es war mir einfach nicht gelungen, mich dort richtig einzuleben. Nach Wilhering folgte noch ein vom Arbeitsmarktservice geförderter Lehrgang zur Ausbildung von Landschaftspflegern im niederösterreichischen Zwettl. Man stand damals am Anfang der grandiosen Idee, die Arbeitslosenzahlen besser aussehen zu lassen, indem man Beschäftigungslose ständig in irgendwelche sogenannten »Arbeitsmarktkonforme« Ausbildungen steckte, weil, so wurde uns versichert, der Arbeitsmarkt geradezu nach derart ausgebildeten Leuten wie uns lechze. Na ja, wie auch immer. Dennoch, allen Unkenrufen zum Trotz, keine schlechte Idee, die ja nicht nur mit sich brachte, die Arbeitslosenzahlen zu schönen, sondern auch den Effekt hatte, die Beschäftigungslosen einer mehr oder minder sinnvollen und dazu bezahlten Tätigkeit zuzuführen.
An den Landschaftspflegekurs habe ich nur noch diffuse Erinnerungen. Wir rodeten irgendwelche Sträucher, räumten Scheunen auf, zumindest ein Teil von uns, der andere Teil sah, selbst gedrehte Zigaretten rauchend, meist vertieft in beträchtlichen Gesprächen, wie die Welt zu retten sei, zu.
Wir waren wohl so um die zwanzig Leute, die strotzende Mehrheit davon schwer alternativ angehaucht, mit Haarmähnen wie wild wachsendes Sauerkraut, gekleidet in selbst gestrickten, in allen Farben des Regenbogens schillernden Pullovern und gebatikten Schals. Ich begriff schnell, dass das nicht meine Welt war, und tat mich die fünf oder sechs Wochen, die dieser Kurs dauerte, mit den drei, vier Leuten zusammen, die eher meiner Prägung entsprachen, schloss sogar Freundschaft mit einem gebürtigen zwei Meter langen Holländer, mit dem ich noch längere Zeit nach dieser Episode telefonischen Kontakt hielt, und genoss im Übrigen das Zwettler Stiftsbräu.
Gut, was jetzt?, überlegte ich, nachdem auch dieser Anlauf nicht den erhofften erfolgreichen Durchbruch in die Arbeitswelt gebracht hatte. Wohlmeinende Vorschläge gab es einige: Fotograf, Büchsenmacher, Gitarrenbauer, Krankenpfleger, eine Dame wollte mich als Schmuckverkäufer ködern, und ein Bekannter lud mich ins Kaffeehaus ein, weil er ganz genau wusste, wofür