Das falsche Gesicht oder Marlowe ist Shakespeare: Roman
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Der Dichter aus Stratford-upon-Avon blieb stets eine geheimnisumwitterte Gestalt. Und auch um die Biographie seines Zeitgenossen Christopher Marlowe ranken sich viele Mythen. Der Roman von Gerald Szyszkowitz zeichnet ein packendes Kapitel der Literaturgeschichte neu, führt zugleich farbig in das England des 16. Jahrhunderts – in eine spannende und zugleich grausame Epoche. Folter, selbst der Galgen bedrohen das Leben Christopher Marlowes, und so stellt sich für ihn die Frage, wie er mit seinen Schriften verfahren könnte – sie öffentlich zu machen und sich doch tunlichst keiner Gefährdung auszusetzen. Der Weg, den er und ein Mann namens Shakespere – Sie lesen richtig! – nun wählen, sollte noch Generationen von Anglisten und Filmemachern vor immer neue Rätsel stellen...
Aus einem Gebräu von Literatenehrgeiz, politischer Ranküne und homophilen Neigungen webt der Autor eine faszinierende Prosa, die sich von unzähligen historischen Romanen durch höchstes erzählerisches Niveau hebt, dabei überaus unterhaltsam und vor allem spannend.
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Das falsche Gesicht oder Marlowe ist Shakespeare - Gerald Szyszkowitz
bleibt.
Erster Akt: Christopher Marlowe
I
Im letzten Sommer war ich in Stratford-upon-Avon, spazierte mit all den Shakespeare-Figuren meiner Erinnerung durch die freundlichen Straßen, stand auch bald wie alle anderen Touristen in der hübschen Kirche vor der Büste des großen William Shakespeare. Vom ersten Moment an aber hatte ich das Gefühl: Dieser Mann hat den ‚Hamlet‘ nicht geschrieben!
Nicht, dass mich die Glatze oder die Knubbelnase gestört hätten, auch nicht die unübersehbare Primitivität dieses Grabdenkmals, ich hatte nur einfach das Gefühl, das könnte er nicht sein, und das wäre er auch nicht.
Zurück in Wien fiel mir in der MORAWA-Buchhandlung in der Wollzeile ein Buch von Ivan Nagel auf, mit dem Titel ‚Shakespeares Doppelspiel‘. Ich schlug es auf und las, dass der ‚Sodomit‘ James der Erste immer wieder den ‚Kaufmann von Venedig‘ an seinem Königshof hatte sehen wollen, weil ihn die Liebesgeschichte zwischen dem Kaufmann Antonio und dem jungen Bassanio an seine eigene Situation erinnert hatte.
Einen ‚Sodomiten‘, las ich, nannte man damals einen Menschen, der sich verliebt, ohne an eine Fortpflanzung zu denken. So wie das eben in Sodom offenbar üblich gewesen ist. Und genau diese Situation hätte dann den großen Shakespeare zu seinem ‚Doppelspiel‘ gezwungen, schreibt Ivan Nagel.
Zu welchem Doppelspiel?
In der FAZ fiel mir der Kommentar zu einem Buch von Bastian Conrad auf, das den überraschenden Titel trug: ‚Der wahre Shakespeare: Christopher Marlowe‘. In der Buchhandlung St. Gabriel habe ich es sehr schnell bekommen und wurde nun immer neugieriger. Immer neue Fragen taten sich auf.
Da ich aber im Internet nicht viel fand, fuhr ich nach Cambridge, denn dort, in dieser alten Universitätsstadt, in dem gotisch engen, geheimnisvollen Corpus Christi College, erbaut 1352, hat dieser Christopher Marlowe studiert, und dort, dachte ich, würde man wohl am ehesten mehr wissen über ihn.
Ich ging daher in Cambridge gleich in dieses Corpus Christi College und ließ mir in der Parker-Bibliothek, einem von bunten Buchrücken dominierten, hohen Raum mit großen Fenstern und einer farbigen Holzdecke von einem ungnädigen Bibliothekar alle vorhandenen Marlowe-Unterlagen geben, vor allem auch eine Kopie des einzigen Bildes von Marlowe. Es ist aus dem Jahr 1585, und es wurde hier im Corpus Christi College erst im Jahr 1952 zerkratzt und verschmiert auf dem Dachboden gefunden.
Im Jahr 1585 dürfte jemand hier sehr stolz auf ihn gewesen sein und hatte ihn malen lassen. Dann dürfte der Student Christopher Marlowe jedoch in Ungnade gefallen sein, und schon demolierten irgendwelche Idioten sein Bild und räumten es achtlos weg.
Als er gemalt wurde, war er 21 Jahre alt. Neben seine goldgelbe Wuschelfrisur hat er sich sein Lebensmotto schreiben lassen: „QUOD ME NUTRIT ME DESTRUIT, also die schöne Erkenntnis: „Was mich nährt, zerstört mich.
Was für eine Prophezeiung!
Was muss das für ein Mensch gewesen sein!
II
Er sieht mich neugierig an. Mit seinen dunklen, großen, interessierten Augen. Spitzgesichtig, schmal und melancholisch. Eine Mischung aus Mann und Frau, aus Genussmensch und Büßer, aus eiferndem Studenten und manikürter Luxuspuppe sitzt da vor mir. In einem violetten Wams mit goldenen Borten und Bändern. Er hat eine wüste Windstoßfrisur, aber an den Ohren ahne ich Perlen. Und auch sein weicher Schnurrbart und das Bärtchen unter der Unterlippe sehen recht kokett aus. Nur den Korb mit den jungen Hunden, den er damals, wie ich vorhin gelesen habe, gerne mit sich herumtrug, sieht man nicht auf dem Bild. Aber alles andere, was man damals von ihm erzählt hat, traue ich diesem sensiblen Gesicht durchaus zu. Dass nämlich dieser zwischengeschlechtliche junge Mann zum Beispiel Nacht für Nacht bis zur Erschöpfung tanzen konnte, dass er sich danach aber allein in seinem Bett gegeißelt hat.
Ich muss an die Luft …
Aber auch hier, in diesen alten Winkeln hinter der Bibliothek, ist es stickig. Hier wohnten Freund und Feind eng zusammen, die Katholischen und die Protestantischen, die einander spinnefeind gewesen sind, außer man war gerade verliebt ineinander, was es auch gegeben hat. Normalerweise, habe ich gerade gelesen, tauschte man, wenn man einander begegnete, zwar lächelnd Höflichkeiten aus, wünschte sich aber von Herzen den Tod.
Hier im Hof, von wo aus man den normannischen Turm der Collegekirche sieht, hat die Universität immerhin eine Tafel angebracht zur Erinnerung an die berühmten Dramatiker Christopher Marlowe und John Fletcher, die beide einmal hier Studenten gewesen sind.
III
Christopher Marlowe war zwar mit einem Stipendium vom Bischof von Canterbury nach Cambridge gekommen, glaubte aber bald einem kritischen Lehrer mehr als allen anderen Würdenträgern der Krone und der Kirche in diesem Corpus Christi College. Offenbar schon im zweiten Jahr sah er es als seine ganz persönliche Aufgabe an, alles anzuklagen, was „faul ist im Staate Dänemark".
Trotz seiner grundsätzlich kritischen Haltung war er bei den Kollegen gern gesehen, denn sein langes, weiches, sandgelbes Haar flog immer schwungvoll und aufmunternd um seine Schultern, wenn er nach einer Vorlesung über Gott und die Welt diskutierte. Jeder wusste bald: Dieser Marlowe war nicht irgendwer, und viele waren schnell mit ihm gut bekannt. Sein intimster Freund aber wurde der schüchterne Thomas Walsingham, dessen älterer Vetter, wie im College bekannt war, gerade zum neuen Geheimdienstchef der Königin Elisabeth ernannt worden war.
Dazu kam, dass der Gönner dieses mächtigen Geheimdienstchefs der allmächtige William Cecil, Graf von Exeter, persönlich war, die rechte Hand der Königin, und ebenso Kanzler der Universität Cambridge.
Noch einmal schau ich mir das zauberhafte Porträt mit dem Wuschelkopf an. Dieser Junge hatte offenbar hier gleich die richtigen Freunde. Und damit auch gleich eine Ahnung von der Bedeutung des Wortes: „Eine Hand wäscht die andere!" Diese Grundlage jedes Zusammenhalts in einem Staatswesen lernte man an der Universität Cambridge damals sichtlich schon in den ersten Semestern.
IV
Aber warum wurde er plötzlich zum Dramatiker? Und warum gleich der berühmteste? Wieso war es diesem Dandy möglich, ein paar Jahre später ein Stück wie ‚Hamlet‘ zu schreiben?
Wer hat ihn gefördert?
Ich lasse mir ein Buch über seine Königin geben und betrachte ihr Bild. Ihr Vater, Heinrich der Achte, ist ein überaus brutaler Herrscher gewesen, aber seine Tochter war sensibler, denke ich.
Plötzlich steht diese Elisabeth neben mir. Mit ihrer hohen Stirn, den scharfsichtigen, investigativen, dunklen Augen, dem auffallend schmalen Mund – und mit diesem von wilden, roten Locken einer normannischen Hexe umrahmten, kalkweißen Gesicht.
Sie sieht streng und furchterregend aus. Ohne jede Anstrengung hat sie Griechisch mit dem Studenten Marlowe gesprochen. Und Latein. Sie konnte auch Französisch und Italienisch, weil sie die Literatur dieser Länder liebte. So wie sie die Musik liebte. Und jede Form von Theater.
„Man tut mir unrecht, Lord Cecil. Was heißt denn: Es hängen zu viele Protestanten am Galgen? Ich muss mich doch wehren! Ich muss mit allen Mitteln der privaten Lüge und der öffentlichen Verstellung um meine Macht kämpfen! Die man mir jeden Tag nehmen will, obwohl ich sie gerade erst bekommen habe! Ich spiele ein gefährliches Spiel! Wenn ich meine Macht auch nur eine Minute verliere, verliere ich meinen Kopf! Das ist so in unserer Familie! Ja, das gebe ich zu, es sind ein paar Ihrer Protestanten am Galgen gelandet, und das bedauere ich, aber das war notwendig. Zum Wohl des Staates."
Lord Cecil nickt. In seinem rotbraunen Staatskleid mit der weißen Halskrause, mit seinem schwarzen Bart und dem Höflingsbarett sieht er durch und durch seriös aus. Noch ist er Staatssekretär, aber bald wird er Großschatzmeister sein. Denn er ist der treueste Helfer Ihrer Majestät. Calvinistisch selbstlos, penibel in seinen Amtsgeschäften, aber überaus hilfreich, wenn Diskretion verlangt ist.
„Vielleicht sollten wir wieder einmal ein Fest veranstalten, sagt sie. „Aus Cambridge höre ich, dass ein gewisser Marlowe die ‚Amores‘ von Ovid übersetzt hat. Und dass einer unserer skurrilen Bischöfe diese Übersetzung verbrennen ließ. Das heißt doch, dass sie interessant ist, nicht wahr?
V
War diese Königin seine Muse? Marlowe kam jedenfalls zu dieser Zeit an ihren Hof im Zusammenhang mit einem nicht ganz geklärten Geheimdienstauftrag. Er hatte in diesen Monaten, entnehme ich den Unterlagen in der Bibliothek, das Herz voll Poesie, den Kopf voll Prosa, und im Sack seines Talars immer noch das Stipendium des Bischofs von Canterbury. Er hatte also keine finanziellen Probleme, wohl aber die Grundüberzeugung, dass Meinungen, wenn sie interessant bleiben sollten, gewechselt werden müssten. Besonders auf dem Feld der Religionen. Vor einer Generation waren hier alle katholisch gewesen, dann hatte man sich gemeinsam mit dem verrückten König Heinrich dem Achten von Rom distanziert, aber nun wartete in den schottischen Bergen als Nachfolger der jungfräulichen Königin schon der nächste romtreue Katholik, ihr Neffe, der Sohn der von ihr geköpften Cousine Maria Stuart.
Das war alles sehr verwirrend. Wenn man sich verwirren ließ. Von dem ganzen Drumherum. Von all den verschiedenen Bischöfen, vom schottischen und vom irischen Whisky. Aber im ständig wechselnden Echo dieser unsinnigen Religionskriege gab
es in den Schlafsälen der jungen Herren auch die ‚Sehnsucht nach dem Schönen‘.
Und wie alle Parvenüs kopierte nun auch der junge Marlowe akribisch und aufs Peinlichste genau alle Äußerlichkeiten dieser Gesellschaftsschicht, obwohl er dieser nie würde angehören können.
Er grinste daher recht verlegen, wenn er nun die modisch karierten Jacken der Landjunker und die dazugehörigen gelbgrünen Schals spazieren führte, wie auch die Spitzenwäsche und die Spitzenhandschuhe seiner hochadeligen Kollegen. Aber er liebte Verkleidungen und Kostümierungen jeder Art, und wenn ein Theaterstück aufgeführt wurde, trug er auch gerne einmal seidene Frauenkleider. Schließlich schaffte er es sogar, dass hier in Cambridge, das diese jungen Gecken gewissermaßen für eine ‚Gehschule der Genies‘ hielten, schon nach wenigen Monaten nichts so selbstverständlich war wie die honiggelben Stulpenstiefel, mit denen er als Erster bei der Heiligen Messe am Weihnachtstag Aufsehen erregt hatte.
VI
Eine wirkliche Sensation war allerdings der Bericht im darauffolgenden August über das Massaker in der ‚Bartholomäusnacht‘ in Paris 1572. Aus den Tausenden verblutenden Hugenotten wurden in den geflüsterten Berichten schnell Hunderttausende. Marlowe war elektrisiert. Sein schüchterner Herzensfreund Thomas Walsingham war ja in dieser katholischen Schandnacht – auf Grund seiner besonderen Nähe zum Geheimdienst – persönlich in der Englischen Botschaft in Paris gewesen, und seine aufregenden Erzählungen wurden in den folgenden Kneipennächten zur Basis für die vernichtenden Tiraden in Marlowes brutalstem Frühwerk ‚Das Massaker von Paris‘.
Ich lese das Stück und komm dem Dichter einen Schritt näher. Mich interessiert: Wie war die Reaktion nach der Premiere?
Er schrieb dieses Stück noch in Cambridge, aber auf eine richtige Bühne konnte er es erst in London