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Theater in der Provinz: Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm
Theater in der Provinz: Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm
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Ebook410 pages4 hours

Theater in der Provinz: Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm

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Wenn vom Theater die Rede ist, geht es meist um den urbanen Raum. Aber auch vorm Deich, auf dem Land und zwischen den Metropolen spielt sich Dramatisches ab – von Menschen für Menschen, in Bürgerhäusern und auf Dachböden, in Kirchengemeinden und auf Marktplätzen. Das Theater in der Fläche ist Spielort von Landesbühnen und Tourneetheatern sowie Amateurtheatern und freien Ensembles.

Die Publikation wirft einen konzentrierten Blick auf den ländlichen Raum in unserer Theaterlandschaft, lässt die Theatermachenden zu Wort kommen und fragt nach den Aufgaben, aber auch den Herausforderungen und Potenzialen. Wie gestalten Theateranbieter und Theaterveranstalter das Programm? Wie erreichen Landesbühnen und Gastspieltheater ein Publikum? Welche Projekte ermöglichen kulturelle Vielfalt und künstlerische Teilhabe? Welche Theaterpolitik braucht das Land?
LanguageDeutsch
Release dateMay 20, 2019
ISBN9783957492463
Theater in der Provinz: Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm

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    Book preview

    Theater in der Provinz - Silvia Stolz

    ist.

    IMPULSE ZUR

    KULTUR IM

    LÄNDLICHEN

    RAUM

    Beate Kegler

    KÜNSTLERISCHE VIELFALT ALS PRAXIS

    Theaterkultur im ländlichen Raum

    Gut zwei Stunden unterhielten die bestens präparierten Laien ihre gut gelaunten Zuschauer auf der Freilichtbühne.¹

    Das Theaterangebot wird vor allem durch Gastspiele getragen, deren Spielorte überwiegend der Bürgersaal des FZB und der Theeshof sind. Im Ort gibt es darüber hinaus die Laienspielgruppe des Verkehrsvereins Schneverdingen e. V., welche beim Festspiel des Heideblütenfestes auf der Höpen-Bühne auftritt.²

    Eine Gruppe darstellender KünstlerInnen aus dem Wendland schloss sich 2011 zusammen, um die Region mit bunten, lebendigen und qualitativ hochwertigen Theaterinszenierungen zu bereichern. Gemeinsam gründeten sie daher die Freie Bühne Wendland.³

    Diese und ähnliche Zitate machen deutlich: Theaterkultur im ländlichen Raum ist Breitenkultur, Event-, Hoch- und Soziokultur. Die Akteur*innen kommen aus urbanen und ländlichen Räumen, vereinen hochkulturelle Professionalität und breitenkulturelles Expert*innentum. Woran sich die Qualität von Theater im ländlichen Raum bemisst, lässt sich auf den ersten Blick schwer definieren. Die Grenzen von Kunst und Kultur sind fließend. Ebenso unklar bleibt, was unter dem Begriff „ländlicher Raum" zu verstehen ist. Wo beginnt Provinz und wo endet sie? Gibt es allgemein verbindliche Raumordnungskriterien, die festlegen, wann von ländlichem und wann von urbanem Raum gesprochen wird? Ist es eine Frage der Perspektive oder gar der selbstgewählten Zuordnung nach Fördergebieten, die über die Zugehörigkeit zum ländlichen Raum entscheidet? Gibt es ihn überhaupt – den ländlichen Raum? Und letztlich: Warum kann es relevant sein, sich überhaupt mit künstlerischer Vielfalt und Theaterkultur im ländlichen Raum zu beschäftigen?

    Nix los in der Provinz?

    Nix los in der Provinz? war schon vor Jahrzehnten der programmatische wie auch provokative Titel einer Publikation der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (BKJ), die damals eine erste Positionsbestimmung der Kulturarbeit in ländlichen Räumen wagte⁴.

    … auf dem Land: Für den einen klingt es bäuerisch, hinterwäldlerisch, riecht nach Misthaufen, schlecht gemachtem Komödiantenstadl, Posaunenchor und Nachbarschaftsklatsch, für den anderen ist es eine Alternative zu den Schrecknissen des Großstadtdaseins, der Technikeuphorie, der zerstörenden Wohnsilos, klingt nach gesundem Leben, nach Alternativprojekten. Beide Perspektiven stehen der Realität des Landlebens sehr fern.

    Die Formulierung von Dorothea Kolland könnte auch heute noch ähnlich klingen. Begriffe wie „die Provinz oder „das Ländliche scheinen nach wie vor emotional aufgeladen zu sein. Der Beiklang einer heimattümelnden Rückständigkeit und Weltfremde lässt sich nicht ignorieren. Gleichzeitig erfährt das Bild vom Ländlichen als Sehnsuchtsidyll naturnaher Ursprünglichkeit eine umfassende Renaissance. Bilder verlassener Geisterdörfer peripherer Regionen zeigen den Niedergang der Dörfer, werden aber gleichzeitig zu Ikonen einer Romantisierung des Verfalls.⁶ Neue Trends wie das Urban Imkering, Urban Gardening und andere Do-it-yourself-Bewegungen beschwören die Qualitäten nachhaltigen Wirtschaftens nach dem Vorbild der einstigen Selbstversorger*innengemeinschaften. Kulturelle Community-building-Trends wie das Rudelsingen oder gemeinsame Kochvergnügen folgen im Urbanen den jahrhundertealten Erfolgsrezepten dörflicher Gemeinwesensmodelle. Neben diesen Bewegungen erschüttert gleichzeitig die Realität des zunehmenden Rechtspopulismus in ländlichen Räumen. Die nationalistischen Parteien finden gerade in den alternden und schrumpfenden Dörfern im Osten Deutschlands ihre meist männliche Anhängerschaft. Auch die Wahl Trumps, der Brexit sowie die Erfolge der Rechtspopulist*innen in immer mehr europäischen Ländern sind vor allem den Stimmen der Wähler*innen ländlicher Wahlkreise zuzurechnen.⁷ Allerdings sind gerade in ländlichen Räumen zahlreiche Menschen in Vereinen und Dorfgemeinschaften in vielfältiger Weise für das Gemeinwohl von Zugezogenen und Alteingesessenen engagiert und tragen mit ihren Aktivitäten und einer umfassenden Teilhabeorientierung intensiv zur Gestaltung ländlicher Gesellschaft bei.

    Den ländlichen Raum gibt es nicht!

    Als messbare Kriterien von Ländlichkeit gelten Einwohner*innenzahlen und demografische Entwicklungsprognosen, Pendelentfernungen und infrastrukturelle Gegebenheiten, geografische Lage und Flächennutzung sowie diverse andere Faktoren. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) charakterisiert über neunzig Prozent der Fläche Deutschlands als ländliche Räume und stellt fest, dass in ihnen mehr als die Hälfte aller Einwohner*innen im Bundesgebiet beheimatet ist.

    Der ländliche Raum kann als Zuzugsgebiet im Speckgürtel Hamburgs zum kulturellen Hotspot werden, aber auch das Geisterdorf in der Uckermark sein, dessen Leerstände vom Verfall geprägt sind. Er kann im wirtschaftlich stabilen Emsland geprägt sein von überdurchschnittlicher Geburtenrate und geringer Wanderungsdynamik oder wie in den sächsischen Erzgebirgsdörfern betroffen sein von überdurchschnittlicher Bildungswanderung von jungen Erwachsenen und Frauen im erwerbsfähigen Alter. Die Dynamiken und Entwicklungsprognosen sind so vielfältig wie die geografische Lage und die Geschichte und Geschichten der Zugezogenen, Einheimischen und ehemaligen Bewohner*innen der Dörfer und kleinen Städte. Im Zuge der globalen Transformationsprozesse lassen sich umfassende Veränderungsprozesse insbesondere dort feststellen, wo Strecken von mehr als einer Stunde zu Arbeits- und Bildungsorten zurückzulegen sind.

    Die Folgen von Bildungs- und Arbeitsabwanderung, Alterung, zunehmender Armut und leeren Gemeindekassen machen deutlich, dass die grundgesetzlich verankerte Aufforderung zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" (§ 72 GG, Abs. 2) nicht mehr so leicht zu erfüllen ist. Ein immer schnellerer gesellschaftlicher Wandel und vor allem die Abwanderung von impulsgebenden Gestalter*innen und Expert*innen dörflicher Gemeinschaften stellen diese vor immense Herausforderungen. Urbane Agglomerationen dagegen waren seit jeher auf die individuelle Vielfalt ihrer wechselnden Bewohner*innen ausgerichtet. Kleine Sozialsysteme in ländlichen Räumen weisen dagegen Interaktionsbeziehungen und Gestaltungselemente auf, die auf Kontinuität und Identifikation mit dem Wir der Dorfgemeinschaft aufbauen. Wo die Impulsgeber*innen und Netzwerker*innen altern oder das Dorf verlassen, besteht jedoch nur zu leicht die Gefahr, dass Gestaltungskraft und -willen einer zunehmenden Resignation weichen. Die Demografieforschung empfiehlt gerade in diesen Regionen mit Nachdruck die Förderung und Wiederbelebung des traditionellen Miteinanders auf Gegenseitigkeit, die Stärkung dorfübergreifender regionaler und zeitgemäßer Identifikation sowie die Förderung von Kreativpotenzialen und Gestaltungswillen.

    Kurzum: Die Zukunft der ländlichen Räume ist inzwischen zum Querschnittthema mit transnationaler Relevanz geworden. Zwischen emotionaler Aufladung und wissenschaftlicher Analyse scheint „das Land" die Gesellschaft im Ganzen zu bewegen. Die ländlichen Räume weisen dabei sehr heterogene Bedingungen und Entwicklungen auf, die in enger Wechselwirkung mit der Bedeutung und Situation von Kunst und Kultur jenseits der urbanen Agglomerationen stehen.

    Von Leuchttürmen und Tiefenbohrungen

    Ein abwechslungsreiches Kulturprogramm und vielfältige Möglichkeiten der Freizeitgestaltung machen Hinte lebenswert und sympathisch. Kirchen, Vereine und private Initiativen tragen einen großen Anteil daran. […] Ob Sport oder Musik, ob Schützen- oder Boßelverein – das kulturelle Leben in der Gemeinde wäre ohne ihre Beiträge um vieles ärmer.

    Die Vielfalt kultureller Praxis im Dorf wird gesichert durch zivilgesellschaftliches Engagement. Wie viel künstlerische Vielfalt und Theaterkultur sich dahinter verbirgt, mag ein Blick auf die virtuellen Selbstdarstellungen der ländlichen Gemeinden nicht so leicht offenbaren. Zumeist beschränken sich diese auf die Erwähnung historischer Stätten und das mehr oder weniger rege Vereinswesen. Zuweilen geben Auflistungen von Vereinen weiteren Aufschluss über die Vielfalt, häufig informiert ein Veranstaltungsprogramm über das, was die Gemeinden als Kultur- und Freizeitprogramm für erwähnenswert halten. So lädt im Oktober 2018 die oben zitierte Gemeinde Hinte ein zu Oktoberfest und Rassekaninchenschau, zum Vortrag über Schüßlersalze und zum Plattdeutsch-Abend und kündigt das monatliche Kulturstündchen in der historischen Mühle an. Was sich hinter letzterem verbirgt, bleibt rätselhaft. Der dazugehörige Link führt zu einer virtuellen Baustelle¹⁰.

    Ist die künstlerische Vielfalt auf dem Land so verborgen, dass sie auf den offiziellen Bekanntmachungen nur mit stark erweitertem Kunst- und Kulturbegriff erkennbar wird? Wissen die Website-Gestalter*innen nicht, was sich in ihrer Gemeinde künstlerisch-kulturell ereignet? Aus der Ferne betrachtet, scheint es ein herausforderndes Unternehmen, mehr als die Leuchttürme auf dem Land zu sehen. Es drängt sich angesichts der fehlenden Informationen die Vermutung auf, dass die ländlichen Räume in der künstlerisch-kulturellen Diaspora auf eine funktionierende Umlandversorgung urbaner Akteur*innen angewiesen sind. Kaum vorstellbar, dass die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen auf dem Land ohne eine kulturelle Dauermedikation urbaner Provenienz herstellbar sein könnte. Aber womöglich lässt sich im Schatten oder am Fuße der kulturellen Leuchttürme eine Vielfalt identifizieren, die sich denjenigen erschließt, die bereit sind, feldforschende Tiefenbohrungen in der Provinz auf sich zu nehmen?

    Gerade in den letzten Jahren entstanden aus genau solchen feldforschenden Expeditionen in die Breite der Kultur- und Theaterlandschaft erste Publikationen und Studien zum Thema. Das Weißbuch Breitenkultur¹¹ zeigt die Entwicklung, kulturpolitische Bedeutung und Vielfalt der engagementbasierten und gesellschaftsgestaltenden Phänomene. Studien zur Lage der Amateurtheater in Niedersachsen¹² sowie zur Situation und kulturpolitischen Bedeutung von Freilichtbühnen in Niedersachsen¹³ und Nordrhein-Westfalen¹⁴ nehmen Akteur*innen der Theaterlandschaft ländlicher Räume gezielt in den Blick. Für den europäischen Raum lassen sich darüber hinaus weitere Positionen, Praxisbeispiele und kulturpolitische Handlungsempfehlungen im Sammelband Vital Village identifizieren¹⁵. Untersuchungen zur Rolle von Landesbühnen (Dissertation Katharina Schröck, Universität Hildesheim) und Bespieltheatern (Dissertation Silvia Stolz, Universität Hildesheim) werden weitere Erkenntnisse in den wissenschaftlichen Diskurs einspeisen.

    Diese und andere Tiefenbohrungen machen es deutlich: Einerseits gibt es die entfernten Dörfer, in denen selbst die Freiwillige Feuerwehr, der Fußballverein und die Kirchengemeinde keine Mitglieder mehr aktivieren können und das gemeinschaftsgestaltende Leben nur noch auf die Begegnungen am Gartenzaun oder der einzigen Bushaltestelle im Ort begrenzt sind¹⁶. Allerdings findet sich eine Fülle diverser Kulturausprägungen lokaler, regionaler oder urbaner Akteur*innen, die sich je nach Ausrichtung an ein urbanes, lokales oder nicht näher definiertes Publikum wenden, auf angebotsorientierte Teilhabe ausgerichtet sind oder aber in ihrer gesamten Struktur und ihren Aktivitäten auf zivilgesellschaftliche Partizipation einer Kultur für alle von allen ausgerichtet sind.

    Theaterkultur in ländlichen Räumen ist so vielfältig wie die ländlichen Räume selbst. Auch wenn die infrastrukturellen Gegebenheiten aus Sicht der Staatstheater zuweilen ein herausforderndes Abenteuer darstellen, scheint dies der Theaterbegeisterung der ländlichen Bevölkerung keinen Abbruch zu tun. Ganz grob mag unterschieden werden in Theateraufführungen, die als konsumierbare Angebote durch professionelle Akteur*innen aufs Land gebracht werden – und denjenigen teilhabeorientierten Theaterformen, die durch breitenkulturelle oder soziokulturelle Akteur*innen aus den ländlichen Räumen selbst entstehen. Dazwischen lässt sich die freie Szene verorten, die ihrerseits sowohl aus urbanen Kontexten das Land bespielt oder auch den Laborraum Land für sich entdeckt hat, zuweilen abzielt auf ein urbanes Publikum oder die Menschen vor Ort zu erreichen versucht, zuweilen auch hier mit partizipativen Formaten experimentierend. Sonderformen wie beispielsweise die Theatergemeinden, die mit ihren Theaterfahrten Landbewohner*innen sowohl die Anreise als auch die Kulturvermittlung zu urbanen Angeboten offerieren, ergänzen das Spektrum der Akteur*innenlandschaft.

    Jahrmarkttheater, Jastorf: Einsame Spitze, im Stillen. Foto: Bert Brüggemann

    Freilichtbühnen als Breitenkultur

    Die etwa 30 Proben auf ihrer „Lieblingsbühne seien von Anfang an von großem Eifer getragen gewesen und dementsprechend erfolgreich verlaufen. […] Eine halbe Stunde vor Premierenbeginn herrschte hinter den Kulissen geselliges Treiben. Da wurde vom duftenden Auflauf gekostet, vom Sekt genippt oder ein Jägermeister gekippt. […] Für viele Horn-Badmeinberger ist die Bühne des Freilichttheaters Anlaufpunkt regelmäßiger Besuche. „Wir kommen jedes Jahr her. Es ist herrlich unkompliziert und die Atmosphäre einfach toll, findet Melanie Plaß. Sie schätzt die lockere Stimmung im Gegensatz zum klassischen Theater¹⁷.

    Lockere Stimmung im Publikum und geselliges Treiben hinter den Kulissen – so und ähnlich lauten zahlreiche Umschreibungen dessen, was im Amateur- und insbesondere im Freilichttheater im ländlichen Raum die Attraktivität für Publikum und Mitwirkende gleichermaßen darstellt. Auch jenseits von Auflauf, Sekt und Jägermeister gelingt gerade den Freilichtbühnen das, wovon Kunst- und Kulturakteur*innen seit den Zeiten des Shakespeare’schen Globe Theatres in urbanen Räumen längst nicht mehr zu träumen wagen. Wenn das Publikum zum wiederholten Mal kostümiert und singend das Waldgelände der Freilichtbühne betritt und selbst bei strömendem Regen in die Bühnensongs einstimmt, Jung und Alt vor Begeisterung über die Spielideen und die unübersehbare Spielfreude der Akteur*innen begeistert aufspringen, minutenlangen Applaus spenden und noch lange nach der Aufführung mit den Schauspieler*innen oder anderen ehrenamtlichen Akteur*innen auf der Bühne oder am obligatorischen Bratwurststand stehen, wird die Kunstproduktion gleichzeitig zur kulturellen Lebensweltgestaltung. Anders formuliert: Trotz einer miserablen Wetterlage im Sommer 2017, bei der immerhin fast fünfzig Aufführungen an den Naturbühnen abgesagt oder abgebrochen werden mussten, wurden die rund 1700 Aufführungen an den neunzig Bühnen des Verbands Deutscher Freilichtbühnen (VDF) von durchschnittlich 538 Zuschauenden besucht. Viele davon kommen seit Jahren an „ihre" Bühne, verstehen sich als Teil der Community und besuchen gern auch mehrere Inszenierungen, teilweise sogar mehrere Aufführungen einer Inszenierung im Jahr.

    Allein in Niedersachsen engagieren sich vor und hinter den Kulissen rund 2400 Menschen an den dortigen 18 Bühnen – generationsübergreifend, unbezahlt und freiwillig. Fünfzig Prozent der Mitwirkenden sind dabei seit mehr als neun Jahren an der gleichen Bühne aktiv, die meisten davon (78 Prozent) sind regelmäßig und während der Saison wöchentlich an der Bühne, davon gehören 31 Prozent zu denjenigen, die mehr als zehn Stunden pro Woche in der Saison aktiv sind. Immerhin zehn Prozent sind das ganze Jahr über mehrmals pro Woche im Einsatz. Auch wenn es nicht zu leugnen ist, dass auch hier die jungen Erwachsenen die Bühnen verlassen, weil Studienplätze nicht am Wohnort zu finden sind, kann von Nachwuchsmangel keine Rede sein. Mit eigenen Kinder- und Jugendensembles oder generationsübergreifender Theaterarbeit und einem hohen Grad an Verantwortung für die Jugendgruppen gelingt es den Bühnen, Partizipation auf allen Ebenen zu leben und mit ihren rein engagementbasierten Organisationsformen lebendige Orte permanenter Gesellschaftsgestaltung im ländlichen Raum zu sein.

    Die Stücke, die gespielt werden, sind selten spektakuläre Statements innovativer Kunst. Die Qualität bemisst sich weniger an einer Theaterkunst, die „Fragen stellt, uns selbst dazu bringt, Position zu beziehen"¹⁸. Gespielt wird, was gefällt, bekannt und beliebt ist. Erwartungshaltungen werden eher erfüllt denn gebrochen. Das Publikum soll im besten Fall mitsingen, Tränen lachen, Teil des gemeinsamen Erlebnisses werden und beschwingt nach Hause zurückkehren. Es geht – wie generell in der Breitenkultur – um das „Wir für uns", um die Selbstverständigung als Community.¹⁹

    Auch wenn die Freilichtbühnen die „großen Tanker" unter den Amateurtheatern sind, können ähnliche Phänomene auch an kleineren Bühnen beobachtet werden. Allein die unglaubliche Anzahl existierender Amateurtheater beeindruckt. Das Spiel auf der Bühne scheint letztlich eines der zentralen Elemente von Breitenkultur zu sein, gibt es doch kaum eine ländliche Gemeinde, in der sich keine entsprechende Gruppierung oder Verein findet. Allein in den 943 Gemeinden Niedersachsens konnten rund 1000 sehr unterschiedliche Amateurtheater identifiziert werden.²⁰ Insgesamt sind 200 Bühnen Mitglied im Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT). Rund 120 000 ehrenamtlich Engagierte wirken an diesen Bühnen aktiv mit. Eine ungeheure Zahl, die umso erstaunlicher zu sein scheint, wenn man bedenkt wie wenig kulturpolitische Aufmerksamkeit und fachliche Wertschätzung diesen Akteur*innen zuteilwird.

    Es gibt zwar mehr als fünfzig Mal so viele Amateurtheater wie Stadttheater, viele davon sind nicht Mitglied des BDAT, aber von den rund drei Milliarden Euro jährlich, die aus öffentlichen Mitteln in die Theaterlandschaft fließen, erhalten die Amateurtheater noch nicht einmal ein Promille.²¹

    Problematisch wird die fehlende kulturpolitische Förderung dort, wo durch gesellschaftliche Transformationsprozesse wie den demografischen Wandel und den Wandel im Ehrenamt der Nachwuchs fehlt oder die Bereitschaft zu überdurchschnittlichem Engagement, wie sie z. B. in Vorstandstätigkeiten gefordert ist, angesichts hoher Belastung durch Pendlerentfernungen oder gestiegene Ansprüche am Arbeitsplatz nicht mehr geleistet werden kann. Problematisch mag es ebenso sein, dass sich die auch in den ländlichen Räumen heterogener werdende Gesellschaft nicht in dieser Vielfalt in den Akteur*innencommunitys wiederfindet und der Blick über den Dorfrand längst nicht überall gegeben ist.

    Gastspiele der Hochkultur

    Bei den Gastspielen zeigt sich neben der künstlerischen Qualität auch die Flexibilität des Theaters Schloss Maßbach – Unterfränkische Landesbühne. Nicht nur die unterschiedlichsten Orte werden bespielt, von Fulda bis Pfronten, von Aschaffenburg bis Fürth, sondern auch die unterschiedlichsten Spielstätten, von Stadttheatern bis hin zu Mehrzweckhallen und Sälen in Kultur- und Gemeindehäusern.²²

    Die 23 Landesbühnen in Deutschland haben als öffentlich-rechtliche Theaterbetriebe die kulturpolitische Verpflichtung, nicht nur das eigene Haus, sondern vor allem das jeweilige Umland zu bespielen. Mit diesen dezentralen Konzepten soll ein möglichst flächendeckendes Theaterangebot geschaffen werden, das der mangelnden kulturellen Infrastruktur in ländlichen Räumen entgegenwirkt. Allerdings sind auch die Aufführungen der Landesbühnen auf ein Mindestmaß an räumlicher Ausstattung und Zentralität ausgerichtet. Die Bespieltheater, Mehrzweckhallen und Säle finden sich in der Regel in zentralen Klein- und Mittelstädten im Umland der Stammhäuser. Nicht immer scheinen die urbanen künstlerischen Produktionen das Interesse des ländlichen Publikums zu erreichen und längst nicht überall sind die Bespieltheater und anderen Spielstätten für die Bewohner*innen ländlicher Räume aus peripheren Lagen problemlos zu erreichen. Dass überdurchschnittlich wenige Menschen aus den abgelegenen Dörfern das klassische Angebot der Landesbühnen in den Gastspieltheatern und anderen Veranstaltungsräumen nicht besuchen, ist jedoch nicht allein durch eine unzureichende Mobilitätssituation und weite Wege zu begründen. Die Nicht-Besucher*innenstudie von Thomas Renz²³ zeigt deutlich, dass in erster Linie der Bildungsgrad und die Milieuzugehörigkeit über Besuch oder Nicht-Besuch entscheiden.

    Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung besucht Theater eigentlich nie und zeigt auch kein Interesse an anderen Kunstformen. In dieser Gruppe sind überdurchschnittlich viele formal niedrige Bildungsabschlüsse messbar²⁴.

    So verwundert es nicht, dass gerade in entlegenen ländlichen Räumen mit hoher Bildungsabwanderung und niedrigem Durchschnittseinkommen damit gerechnet werden muss, dass ein auf das klassische bildungsbürgerliche urbane Publikum ausgerichtetes Theaterangebot das eigentliche Zielpublikum nicht erreicht.

    Glaubt man der örtlichen Presse, kamen etwa 60 Besucher zur Vorstellung – nach der Pause sollen noch elf im Parkett gesessen haben. Intendant Strieb scheint aber derart erschrocken gewesen zu sein, dass er in einer bundesweit wohl einmaligen Art reagierte: Er versprach den enttäuschten Zuschauern die Erstattung des Eintrittspreises. In der Peripherie so Theater machen wie in der Stadt: Das war Anspruch der Landesbühne Niedersachsen Nord. Doch der neue Intendant will schlicht mehr Zuschauer.²⁵

    Jahrmarkttheater, Wettenbostel: Jahrmarkt der Einsamkeit (Strohbühne). Foto: Bert Brüggemann

    Das Ziel, mit Theaterangeboten mehr Zuschauer*innen zu erreichen, wirft Fragen nach möglichen Veränderungen von Theaterformaten, Vermittlungsstrategien und auch inhaltlichen Schwerpunktsetzungen auf. Vielleicht wäre gar ein Blick in die freie und die Amateurtheaterszene zu wagen, die Soziokultur oder auch die Freilichtbühnen nach Gelingensbedingungen zu beforschen, ja, vielleicht gar in lernenden Kooperationen – wie bereits hier und da erfolgreich erprobt – neue Wege einzuschlagen. Im Projekt TRAFO beispielsweise wagte das Landestheater in Tübingen die Kooperation mit freien Künstler*innen und Kollektiven. In experimentellen Formaten begegneten sie wiederum breitenkulturellen Akteur*innen und suchten gemeinsam mit diesen in partizipativen Ansätzen nach künstlerischen Ausdrucksformen und soziokulturellen Ansätzen dorfbezogene Narrative.

    Aus der Winterlinger Begegnungsstätte wurde wieder ein Schulhaus und zwar ein ganz besonderes: Neue und alteingesessene Gemeindemitglieder wurden zu Akteur_innen ihrer eigenen Geschichten. Das Publikum wandelte wie eine Schulklasse durch die Räume und begegnete Erzählungen von Flucht, Ankommen und der Suche nach einem neuen Gefühl von Heimat.²⁶

    In wieweit diese Formate und Kooperation auch nach der Förderperiode weitergeführt und verstetigt werden können, bleibt fraglich.

    Theater der Soziokultur

    Die haben hier nicht auf uns gewartet. Da musste viel Zeit mitbringen, Nachbarn kennenlernen, dableiben, mitarbeiten, Schützenfest und so²⁷.

    Wo Theatermacher*innen der freien Szene das Land entdecken und als Raumpionier*innen dort aktiv werden, sind sie nicht zwangsläufig diejenigen „Kulturbringer*innen", auf die das Dorf seit langem gewartet hat. Akteur*innen, die den Schritt gewagt haben, haben sich entweder dafür entschieden, den ländlichen Raum unabhängig von den jeweiligen Dorfgemeinschaften als konkurrenzärmeren Freiraum mit preisgünstigeren Lebenshaltungskosten für ihre Kunst zu nutzen oder aber sich intensiv auf das Experiment Kunst/Kultur im Dorf einzulassen. Die Gelingensbedingungen erfolgreicher kultureller (Theater-)Arbeit in ländlichen Räumen lassen sich an diversen Praxisbeispielen nachvollziehen. Insbesondere die Soziokultur in ländlichen Räumen blickt hier zurück auf rund vierzig Jahre Erfahrung in der partizipativen Kulturarbeit in ländlichen Räumen.

    Da sind z. B. Vera und Peter Henze auf dem Hof Arbste im norddeutschen Niemandsland, irgendwo bei Bremen. Der historische Backsteinhof ist inzwischen nicht nur Wohnort, sondern auch Dorfkulturzentrum. Mit Kund*innen und Mitarbeiter*innen der örtlichen Tafel, Konfirmand*innen der nahegelegenen Kirchengemeinde, Dorfbewohner*innen sowie den Dorfhonoratior*innen spielen sie seit Jahren Theater. Immer wieder ermutigen und befähigen sie das ungewöhnliche Ensemble, das, was die Menschen vor Ort bewegt, auf die Bühne und auf die Straße zu bringen, um so in die Öffentlichkeit hineinzuwirken.²⁸

    Im Nordwesten widmet sich die Ländliche Akademie Krummhörn e. V. (LAK) seit fast vierzig Jahren soziokultureller Arbeit in den 19 Dörfern der ländlichen Gemeinde Krummhörn. Auch wenn sich der demografische Wandel in der strukturschwachen Region inzwischen auf Mitgliederschaft und Programm auswirkt, waren noch bis vor wenigen Jahren rund zehn Prozent der Einwohner*innen der Gebietskörperschaft Mitglieder in der LAK. Ein kontinuierliches Angebot in den Bereichen Handwerk, Musik, bildende Kunst, Zirkus, Theater, Tanz und Plattdeutsch wurde von bis zu 800 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen regelmäßig besucht. Darüber hinaus führte der Verein diese Gruppen und andere Akteur*innen aus Breitenkultur, Kirchengemeinden und sonstigen Akteur*innenkonstellationen zu großen Musiktheaterproduktionen zusammen. Ungewöhnliche Orchestrierungen von der Handglocke bis zum Bass-Sound des historischen Lanz-Bulldogs lieferten den Sound für die Theaterwerke, die sich häufig um regionalhistorische Themen mit aktuellem Bezug handelten. Theaterstücke und Orchesterwerke wurden jeweils für die aktuellen Besetzungen geschrieben. Stücke wie das Auswanderermusical Achter de Sünn an – der Weg nach Iowa führte die rund 120 Beteiligten nicht nur zur Beschäftigung mit Flucht- und Auswandererschicksalen und der Frage nach dem Umgang mit alten und neuen „Heimaten", sondern auch mit einer Gastspielreise bis nach Iowa. Bis heute besteht eine aus dieser Theateraktion entstandene lebendige Gemeindepartnerschaft zwischen der amerikanischen Gastgeber*innengemeinde und der Krummhörn.²⁹

    Neben diesen beiden Akteur*innen ließen sich zahlreiche andere Beispiele benennen, in denen partizipative Theaterformate zur Entwicklung ländlicher Räume beitragen und künstlerische Vielfalt mit den Menschen vor Ort entstehen lassen.

    Die heute etwa 300 soziokulturellen Akteur*innen in Deutschland, die sich auf gesellschaftsgestaltende Formate in ländlichen Räumen fokussiert haben, sind ebenso vielfältig wie die ländlichen Räume und ihre Sozialgemeinschaften. Die Schnittstellen zur Breitenkultur sind unübersehbar, auch wenn längst nicht überall ein befruchtendes Miteinander gelingt. Positive Beispiele finden sich vor allem dort, wo die Soziokultur als Impulsgeberin und Netzwerkerin auftritt und sich einlässt auf ein gegenseitiges Kennenlernen von Beziehungsgeflechten und Narrativen des ländlichen Aktionsraums. Soziokulturelle Arbeit gelingt dort, wo sich ihre Akteur*innen Zeit nehmen und mit Humor und Ausdauer gemeinsam mit der Breitenkultur und den sonstigen gemeinwesengestaltenden Akteur*innen und Akteur*innenkonstellationen ausgehend von lokalen Lebensweltbezügen Neues erproben. Die Stärke und gleichzeitig auch einer der wesentlichen Unterschiede zur Breitenkultur besteht im Blick von außen auf die Dorfgemeinschaft(en) und deren gesellschaftliche Transformationsprozesse. Soziokultur bringt in ihren partizipativen Projekten und teilhabeorientierten Angeboten Menschen dorf-, generationsund gern auch spartenübergreifend zu gemeinsamer Aktivität zusammen. In soziokulturellen Projekten – nicht nur in ländlichen Räumen – begegnen sich so Akteur*innen, die mit unterschiedlichen Ideen und Lebensweltbezügen spielerisch Neues erproben, Gestaltungskraft entwickeln und Selbstwirksamkeit erfahren. Gute Voraussetzungen für die Entwicklung derjenigen ländlichen Räume, denen es genau daran fehlt.

    Die hier versammelten Beschreibungen einer ländlichen Akteur*innenlandschaft sind letztlich nur Ausschnitte aus dem, was Theater im ländlichen Raum ist und sein kann. Nicht betrachtet wurden hier beispielsweise die theatralen Elemente von Brauchtums- und jahreszeitlichen Festen, die Schultheater, aber auch die kirchlich organisierten Theatergruppen, die zwischen Anspiel im Gottesdienst, Krippenspiel und Musical vielerorts eine weitere Facette künstlerischer Vielfalt und Theaterkultur

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