Genießen Sie von Millionen von eBooks, Hörbüchern, Zeitschriften und mehr - mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testversion. Jederzeit kündbar.

Aeronautica: Logbuch der Lüfte
Aeronautica: Logbuch der Lüfte
Aeronautica: Logbuch der Lüfte
eBook262 Seiten3 Stunden

Aeronautica: Logbuch der Lüfte

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Es geht hoch hinaus!
Die Menschen erobern die Lüfte - ob mit Zeppelin, Heißluftballon oder dampfbetriebenen Maschinerien. Zwischen den Wolken und hinter dem Horizont warten neue Abenteuer, Intrigen, magische Wesen, sowie kleine und große Helden. 12 Autorinnen und Autoren nehmen uns mit auf ihren Reisen über die Kontinente und in fremde Welten. Dieses Logbuch hat Abstürze überstanden, Piratenangriffe, Kriege und ist ebenso ein Zeuge für Freundschaft und Liebe. Erleben Sie den Traum vom Fliegen auf eine ganz neue Art.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Juni 2019
ISBN9783945045343
Aeronautica: Logbuch der Lüfte
Vorschau lesen

Rezensionen für Aeronautica

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Aeronautica - Marie H. Mittmann

    Richter

    Aeronautica

    Logbuch der Lüfte

    Mit Geschichten von

    Lena Richter

    Marie H. Mittmann

    Manuel Otto Bendrin

    Magali Volkmann

    Laura Dümpelfeld

    Sarah Stoffers

    Markus Cremer

    Paul Tobias Dahlmann

    Tino Falke

    Corinna Schattauer

    Markus Heitkamp

    Yann Krehl

    Impressum

    Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim Art Skript Phantastik Verlag und den jeweiligen Autor*innen.

    Copyright © 2019 Art Skript Phantastik Verlag

    1. Auflage 2019

    Art Skript Phantastik Verlag | Salach

    Lektorat » Rohlmann & Engels

    » www.lektorat-rohlmann-engels.com

    Komplette Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

    Umschlagfotos von Grit Richter und Jenny Wood von

    David Knospe » www.davidknospe.de

    Druck » BookPress

    www.bookpress.eu

    ISBN » 978-3-94504533-6

    Der Verlag im Internet

    » www.artskriptphantastik.de

    » art-skript-phantastik.blogspot.com

    Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    Diese Anthologie wurde finanziert durch ein Crowdfunding von

    Startnext

    Wir bedanken uns hiermit bei allen, die uns auf Startnext unterstützt haben. Ebenso bei unseren phantastischen Autor*innen und allen Freunden und Familienangehörigen, die uns in der Funding-Phase mit Rat und Tat begleitet und unterstützt haben.

    Die Crew der Aeronautica wünscht allen Gästen einen angenehmen Flug.

    Die Herausgeberinnen Grit Richter und Jenny Wood

    Die Wunder der Madame Duret

    Marie H. Mittmann

    Die Sandkörner tanzten unter ihren Füßen. Ein tiefes Dröhnen vibrierte durch ihren Körper und eine Gänsehaut lief über ihre Arme, obwohl ihr zugleich der Schweiß auf der Stirn stand.

    Ava hob den Kopf und blickte zum Wüstenhimmel auf. Ein Licht-funke zuckte durch ihr Blickfeld, als sich das Sonnenlicht auf dem Sprung in ihrem Brillenglas brach, der sie täglich an ihren Absturz erinnerte.

    Wrrruuummmhhh … Wrrruummh … Wrruumh …, grollte es in der Ferne. Ava wagte kaum zu atmen, während sie lauschte. Mehr als drei Jahre waren vergangen, seit sie zum letzten Mal dieses Geräusch gehört hatte.

    Sorgfältig steckte sie den Schraubenschlüssel, den sie in der Hand hielt, zurück in den Werkzeugkasten. Notfall-Reparaturset, stand in verblichenen Lettern auf dem Deckel. Sie schob den Kasten unter den Metallkörper ihres Mechanischen Drachens, der in den letzten Jahren ebenso ihr Arbeitsplatz wie ihr Zuhause geworden war.

    Mechanische Drachen wurden diese Fluggeräte aufgrund ihrer Form genannt und wahrscheinlich auch, weil jemand im fernen China sie entwickelt hatte: Eine ovale Kapsel, die einem Piloten und drei weiteren Personen Platz bot, bildete den Kopf. Dahinter folgte eine Reihe immer kleiner werdender metallener Glieder. Die ersten vier waren statisch und links und rechts mit dampfbetriebenen Rotoren versehen; die letzten sechs bewegten sich im Flug hin und her wie der Schwanz eines Drachen und steuerten das Gefährt.

    Als Ava es zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, galten die Mechanischen Drachen als neumodisches Spielzeug. Sie vermutete, dass inzwischen halb Europa und Nordafrika mit ihnen durch die Lüfte flog – doch sicher wissen konnte sie das nicht. Seit sie mit ihrem eigenen Drachen in die heftigen Winde über der Sahara geraten war und die Kontrolle verloren hatte, kam es ihr vor, als würde sie in einer anderen Welt leben.

    Statt bei feierlichen Banketten Wein zu trinken, kämpfte sie nun mit Skorpionen und Wüstenfüchsen um jeden Tropfen Wasser – wobei sie es den Füchsen zu verdanken hatte, dass sie überhaupt noch kämpfen konnte, denn die Rufe der Tiere hatten sie zu einer Felsformation gelockt, aus der an einer Stelle ein winziges Rinnsaal sickerte.

    Wrummh, wrummh wrumm …

    Das Geräusch der Rotoren kam rasch näher. Die Sandkörner sprangen im selben Takt mehrere Zentimeter hoch vom Boden. Das Luftschiff musste riesig sein.

    Ava erhob sich und kletterte neben ihrem gestürzten Drachen auf eine Düne, um nach Norden zu blicken. Hinter der Felsformation mit ihrer Quelle schob sich ein gewaltiger Schatten über den strahlend blauen Himmel. Oben auf den Felsen hatte Ava aus vereinzelten Holzstücken, den Knochen eines vor Jahrzehnten verendeten Dromedars und dem Stoff ihrer eigenen Jacke ein behelfsmäßiges Windrad gebaut, das einen Bewässerungsmechanismus für ihren kümmerlichen Garten in Gang hielt. Nun fegte eine Windböe über die Landschaft und schüttelte das Windrad so heftig, dass es zu zerbrechen drohte. Avas verwilderter roter Haarschopf peitschte ihr ins Gesicht.

    Klick-klack-klack, wehte das Rattern des Windrads an ihre Ohren. In diesem Augenblick wurde Ava bewusst, dass sie dieses Klacken schon den ganzen Tag über hörte – und das geschah nur, wenn die tückischen Wüstenwinde aus Norden wehten.

    Dieselben Winde, die sie damals zum Absturz gebracht hatten.

    Die Motoren des riesigen Luftschiffs kämpften dagegen an, während es vor Avas Augen an Höhe verlor.

    Wrum wraum wrumwrumrumrumummmhhh …

    Der Rhythmus wurde schneller und schneller.

    Das Schiff musste meilenweit von seinem ursprünglichen Kurs abgetrieben worden sein, denn sonst kamen nie Luftschiffe in diese Gegend. Die Luft über der Wüste wurde zu heiß, um ihnen Auftrieb zu bieten. Jetzt, zur Mittagszeit, brannte die Sonne besonders unerbittlich. Der fliegende Koloss steuerte direkt auf die Felsnadeln zu und niemand korrigierte seinen Kurs. Vielleicht war die Steuerung bereits ausgefallen. Vielleicht –

    Ein flammender Punkt blitzte an der silbernen Hülle oberhalb der Passagiergondel auf. Für die Dauer eines Herzschlags schienen sogar Wind und Motoren innezuhalten. Das Feuer raste über die Außenhaut des Luftschiffs und verwandelte es in einen einzigen Glutball; selbst aus der Entfernung konnte Ava das Brüllen der Flammen hören. Das Feuer loderte so hell , dass sie kaum hinsehen konnte. Für einen Moment schien eine zweite Sonne am Himmel zu stehen. Dann prallte das brennende Schiff gegen die aufragenden Felsen.

    Stein kreischte auf Metall. Etwas explodierte mit solcher Wucht, dass es Ava beinahe von den Füßen riss. Sie wappnete sich für eine zweite Explosion, und dennoch verlor sie den Halt, als das Luftschiff auf dem Boden aufprallte und dort sein Ende fand. Rücklings wurde sie von dem Dünenkamm geschleudert, schlug mit der Schulter gegen die Seite des Mechanischen Drachens und landete auf dem Boden. Prustend spuckte sie Staub. Sie hatte Sand in die Augen bekommen und Tränen liefen ihr über die Wangen.

    Ich weine nicht.

    Ihr war schwindelig, doch sie kämpfte sich wieder auf die Beine. Der Sand rutschte unter ihren Füßen, als sie die Düne zum zweiten Mal hinaufstürmte, und machte ihr den Aufstieg schwer. Sie nahm die Hände dazu, um schneller voranzukommen, und kämpfte sich auf allen Vieren den Hang hinauf.

    Ich gehe nur nachsehen, weil es vielleicht Überlebende gibt, die Hilfe brauchen.

    Sie war sich nicht einmal bewusst gewesen, welch große Hoffnungen der Anblick des Luftschiffs in ihr geweckt hatte. Es hätte ihr Ausweg sein können, ihre Rettung aus der Einöde – und nun war es ein Trümmerberg. Vielleicht konnte sie wenigstens das eine oder andere verbliebene Metallteil für ihren Drachen verwenden. Was sie wirklich brauchte, war Treibstoff, doch die Explosion musste alles Brennbare zerstört haben. Trotzdem würde sie das Beste daraus machen.

    Bestimmt war es nur der Sand in ihren Augen, der ihre Tränen nicht versiegen ließ, während sie zur Absturzstelle eilte.

    Die Schatten der Felsspitzen streckten sich nach Osten, als wollten sie Ava irgendwohin den Weg weisen. Die größte Hitze des Tages war vorbei, aber für das Luftschiff kam die Kühle zu spät. Um die Felsen herum lagen schwelende Wrackteile verstreut. Das Schiff war auseinandergerissen worden, Ascheflocken schwebten umher, und eine Hälfte des stählernen Gerippes lag seitlich auf dem Wüstenboden wie die Überreste eines gestrandeten Wals.

    Es stank nach verkohltem Kunststoff, doch Ava war beinahe froh darüber, denn so roch sie zumindest nicht, was sonst noch den Flammen zum Opfer gefallen war..

    Mit einem Tuch über Mund und Nase bahnte sie sich einen Weg durch die Trümmer.

    Sie lauschte, aber sie hörte nichts, das auf ein lebendes Wesen schließen ließ.

    »Hallo?«, rief sie in die Stille hinein. Nichts regte sich. Sogar das Klick-klack ihres Windrads war verstummt. Sie trat um ein großes Wrackteil herum und erstarrte, als sie den Grund dafür sah: Dort, wo es gestanden hatte, ragten nur noch Holzsplitter aus dem Boden.

    Avas Magen zog sich zusammen. Es würde lange dauern, bis sie genug Material zusammen hatte, um das Windrad wiederaufzubauen, aber das war noch das geringere Problem. Viel schlimmer war, dass ihr Gemüsegarten aussah, als hätte eine Riesenhand mit Krallen hineingegriffen, die Pflanzen hochgehoben und dann achtlos wieder fallen lassen. Das war ihr gesamter Nahrungsmittelvorrat gewesen. Alles zerstört.

    Plötzlich hatte sie das Gefühl, sich abstützen zu müssen, doch die Trümmerteile um sie herum strahlten noch immer eine solche Hitze ab, dass Ava sie nicht anfassen konnte. Sie sank an Ort und Stelle auf die Knie.

    Das warʼs dann wohl.

    Es kam ihr vor, als wäre sie in der Zeit zurückversetzt worden. Mit einem Mal fühlte sie sich wieder wie das achtzehnjährige Mädchen, das als Tochter des britischen Gesandten in Kairo nie eine größere Sorge gekannt hatte, bis es von einem Augenblick auf den anderen vor dem Nichts stand. Aber damals hatte sie wenigstens eine Tasche voller Proviant, eine Picknickdecke und eine zusätzliche Jacke dabeigehabt. Jetzt hatte sie nichts mehr.

    Immerhin habe ich drei Jahre länger als erwartet hier draußen überlebt.

    Dazu wenigstens waren all die Bücher, vom Abenteurerroman bis zur botanischen Abhandlung, gut gewesen, die sie in der Bibliothek ihres Vaters studiert hatte. Seitdem hatte sie noch eine ganze Menge an praktischem Wissen dazu gelernt, aber sie konnte sich trotzdem nicht vorstellen, wie sie noch einmal von vorn anfangen sollte.

    Dieses Luftschiff war die Chance auf Rettung gewesen, auf die sie die ganze Zeit gewartet hatte, denn obwohl sie ihr Bestes gegeben hatte, um den Mechanischen Drachen zu reparieren und umzubauen, musste sie nach drei Jahren einsehen, dass es aussichtslos war. Der Drache lief mit einem dampfbetriebenen Motor, und der brauchte zwei Dinge, die es in der Wüste nicht gab: Wasser und Brennstoff. Nach ihrem Absturz hatte sich im Tank nur noch ein trauriger Rest befunden, obwohl sie hätte schwören können, dass sie auf dem Flug nie und nimmer so viel Treibstoff verbraucht hatte. Auch wenn sie sonst alle Probleme lösen konnte, diese unüberwindliche Hürde blieb. Und jetzt war ihre einzige Chance nicht nur verloren, sondern hatte sich ins Gegenteil verkehrt.

    Ava wollte gerade aufstehen und gehen, um sich in ihrem kaputten Drachen einzurollen, als sie aus ihrer knienden Position heraus am Boden zwischen zwei Stahlträgern etwas entlanghuschen sah. Was war das gewesen?

    Ganz egal, sie ergriff dankbar die Gelegenheit, sich von ihrer Verzweiflung abzulenken. Hier draußen konnte jede Kleinigkeit überlebenswichtig sein. Der Wüste war ihr emotionaler Zustand gleichgültig, und wenn sie sich in Selbstmitleid verlor, würde das ihr Ende bedeuten.

    Aber so einfach gebe ich nicht auf.

    Die Zeit hier draußen hatte sie verändert. Das verwöhnte Mädchen von vor dem Absturz existierte nicht mehr. Solange Ava um ihr Überleben kämpfen konnte, würde sie genau das tun.

    Irgendwo in ihrer Nähe schrie ein Wüstenfuchs. Sie musste länger auf dem Boden gekauert haben, als sie gedacht hatte, denn es dämmerte bereits. Binnen weniger Minuten, wie es für die Wüstennacht typisch war, brach die Dunkelheit herein. Nur über den Dünen im Westen glühte noch ein heller Streifen, der sich allmählich von Orangerot zu Violett verfärbte.

    Ava folgte einem leisen Rascheln durch die Trümmer, doch es führte sie nur zu einem losen Fetzen verkohlter Schiffshaut, der im Wind flatterte. Dann erklang erneut der Ruf des Fuchses. Dieses Mal erkannte sie, aus welcher Richtung er kam, und einen Augenblick später entdeckte sie das Tier zwischen ein paar geschmolzenen, formlosen Metallteilen. Seine großen Ohren zuckten, als es sie sah, bevor es lautlos davonglitt.

    »Hallo?«, fragte Ava zum zweiten Mal. Ihre Stimme klang heiser, was nur zum Teil daran lag, dass sie sie so lange nicht benutzt hatte.

    Schritt für Schritt näherte sie sich den verformten Wrackteilen. Wahrscheinlich würde sie dahinter eine Leiche finden. Sie umrundete die Trümmer und stieß sofort auf den leblosen Körper, den sie erwartet hatte. Er war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Nur an der Schulter blitzte noch etwas Goldenes, das einmal ein Abzeichen gewesen sein mochte. Mit zusammengepressten Lippen wandte Ava sich ab – und bemerkte ein paar Schritte entfernt noch etwas anderes.

    Eine menschliche Gestalt, die nicht vom Feuer entstellt war. Sie lag auf der Seite, ein regloser Schattenriss vor dem Horizont, an dem die Dämmerung noch tiefblau nachglomm. Ein leises Summen ging von dem Umriss aus; die Luft darum herum schien vor Spannung zu knistern.

    Was war das für ein Ding?

    Ava pirschte ebenso vorsichtig darum herum wie der Wüstenfuchs zuvor. Sie erkannte verbrannten Stoff, der einmal Kleidung gewesen sein mochte, und schimmerndes Metall. Das erste Mondlicht fing sich auf künstlichen Gliedmaßen, die glänzten, als wären sie frisch poliert. Die Hitze der Explosion hatte keinerlei Spuren hinterlassen.

    Noch ein Schritt näher.

    Ja, sie hatte sich nicht geirrt. Die Gestalt vor ihr sah aus wie ein Mann … aber er bestand komplett aus Metall. Feine Muster überzogen die Oberfläche der Arme und Beine wie Adern unter der künstlichen Haut. Drähte und Kabel, Hunderte davon. Es war der kunstvollste Automat, den Ava je gesehen hatte. Vermutlich hatte sich die Technologie weiterentwickelt, seit sie hier draußen fest saß, doch das hier ging über normalen Fortschritt hinaus.

    Sie konnte es nicht recht erklären, aber sie hatte das Gefühl, einem Wunder gegenüberzustehen. Keiner technischen Errungenschaft, sondern einem echten, unerklärlichen, unbegreiflichen Wunder.

    Unsinn, schalt sie sich selbst.

    Zumindest schien von dem reglosen Automaten keine Gefahr auszugehen. Er wirkte nicht wie eine Kampfmaschine, auch wenn Ava nicht hätte sagen können, was sie zu dieser Annahme bewegte. Vielleicht funktionierte er sogar noch, so unversehrt, wie er aussah. Wenn nicht würde er ein paar gute Bauteile hergeben.

    Da drehte die Gestalt kaum merklich den Kopf. Der Automat gab einen Laut von sich, der wie ein Röcheln klang, und schlug seine silberglänzenden Lider auf. Dahinter lagen die Augen eines Menschen und blickten Ava an.

    Mit einem Aufschrei sprang sie zurück. Sie riss einen Metallstab aus dem Trümmerhaufen hinter sich, obwohl sie sich daran noch immer fast die Hände verbrannte, und hielt ihn als Waffe vor sich. Nur für den Fall, dass das Automaten-Wesen doch feindselig war.

    Das Summen, das von ihm ausging, wurde lauter.

    »Hilf mir …«

    Ava war sich nicht sicher, ob sie die Worte wirklich gehört hatte. Sie starrte noch immer diese Menschenaugen an, die in dem Automatengesicht vollkommen deplatziert wirkten. Sie waren so grün, dass sie die Farbe sogar im Sternenlicht erkennen konnte, und ihr Blick war schmerzerfüllt.

    »Bitte. Hilf mir.« Die Stimme klang wie die eines jungen Mannes, aber gedämpft und verzerrt, als würde er in eine Schachtel sprechen. Mit jedem Wort beschlug eine kleine Scheibe, die sich auf Höhe des Mundes befand.

    Er atmet, erkannte Ava. Da drin steckte ein Mensch. Sie hatte sich tausend-

    mal ausgemalt, wie sehr sie sich freuen würde, wenn sie endlich wieder einem Menschen begegnete, aber jetzt erfüllte sie eiskaltes Grauen.

    Dennoch zwang sie sich, ihre behelfsmäßige Waffe sinken zu lassen und neben dem Fremden in die Hocke zu gehen. Durch die Glasscheibe vor seinem Mund konnte sie erkennen, dass er ihr ein schwaches Lächeln schenkte.

    Mit sichtlicher Mühe hob er seine künstliche Hand und schob die Scheibe zur Seite. Als er nun sprach, klang seine Stimme ganz normal.

    »Bring mich weg von hier. Bitte.«

    Ava schluckte einmal, dann nickte sie. Etwas in seinem Tonfall und seinem Blick sagte ihr, dass jetzt nicht die Zeit für Fragen war.

    »Kannst du aufstehen?«, fragte sie, obwohl er das wohl schon getan hätte, wenn er könnte.

    Wie erwartet schüttelte er den Kopf. Selbst diese kleine Bewegung schien ihm Mühe zu bereiten.

    »Normalerweise sitze ich im Rollstuhl«, erklärte er entschuldigend.

    Ava schob einen Arm unter seine Schultern und richtete seinen Oberkörper auf, so gut es ging. Sie wusste nicht, wo sie überhaupt mit Fragen hätte anfangen sollen. Er war ein Mensch, aber er steckte in einem Automatenkörper, und dieser Körper war so schwach, dass er einen Rollstuhl brauchte, obwohl das Metall sogar den Luftschiffabsturz überstanden hatte? Wie war das möglich?

    »Ich bin Ava«, sagte sie schließlich. Sie zog ihn an den Armen nach oben und stellte erleichtert fest, dass er nicht so schwer war wie ein richtiger Automat. »Hast du … Ich meine, wie ist dein Name?«

    Doch sein Atem ging so schwer, dass er nicht mehr sprechen konnte. Mit derselben mühsamen Bewegung wie zuvor hob er eine Metallhand und schob die Glasscheibe zurück vor seinen Mund. Er behielt die Hand oben, holte ein paar Mal tief Luft und schob die Scheibe zum Sprechen wieder auf. Als bräuchte er den Automaten zum Atmen.

    Ava stützte ihn und führte ihn durch das Trümmerfeld zurück zu ihrem Unterschlupf. Jeder Schritt dauerte eine kleine Ewigkeit. Unterdessen begann der junge Mann im Automaten, zu erzählen.

    »Mein Name ist Thierry. Du fragst dich bestimmt, was genau ich bin … Das fragen sich alle.« Er warf ihr einen Seitenblick zu und wieder las sie Traurigkeit und Schmerz in seinen Augen. »Als ich geboren wurde, war ich zu schwach, um aus eigener Kraft zu überleben. Wenn meine Mutter nicht diejenige gewesen wäre, die sie war … Madame Duret, vielleicht hast du von ihr gehört. Wahrscheinlich hast du das oder hast du dein ganzes Leben hier draußen verbracht? Die einzige Wissenschaftlerin der Welt, die sich nie um Ausrüstung oder finanzielle Mittel sorgen musste, weil jedes Land, das etwas auf sich hält, sich damit schmücken wollte, dass Madame Duret auf seinem Boden eins ihrer Wunder geschaffen hat.«

    Ava nickte nur. Jedes Kind kannte die Werke der Madame Duret. Sie musste daran denken, wie sie selbst bei Thierrys Anblick an ein Wunder gedacht hatte, das sich mit Wissenschaft und Technik kaum erklären ließ. Aber auch wenn es oft nicht so schien, hatte die große Madame stets darauf beharrt, dass ihre Kreationen keinen Hauch von Magie an sich hätten. Sie hatte zahllose Abhandlungen geschrieben und sogar Bauanleitungen für einige ihrer Schöpfungen veröffentlicht, doch es war kaum einem anderen gelungen, ihre

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1