Veronika in Gewissensnot: Die Klinik am See 48 – Arztroman
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Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete.
»Vroni! Vroni!« So schallte es schrill über den Hof des Gruberschen Wohnhauses. »Veronika, wo steckst du denn?« kam es noch schärfer, als das junge Mädchen nicht sofort antwortete. »Ja, ich komme ja schon«, rief eine zaghafte Stimme aus der Küche. Gleich darauf steckte Vroni ihren Kopf aus dem Fenster nach draußen. »Was gibt es denn, Mutter?« »Kommen sollst du, wenn ich dich rufe. Habe ich es dir nicht oft genug gesagt? Ich erwarte Gehorsam von dir, Gehorsam und Pünktlichkeit.« »Ja, Mutter. Ich komme.« Atemlos stand sie wenig später vor der Stiefmutter. »Na, endlich!« murrte diese. »Ich möchte, daß du diesen Brief zum Briefkasten bringst, Vroni.« »Mutter, das hätte Zeit bis morgen gehabt. Der Briefkasten ist heute schon zum letzten Mal geleert.«
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Veronika in Gewissensnot - Britta Winckler
Die Klinik am See
– 48–
Veronika in Gewissensnot
Hör auf die Stimme deines Herzens
Britta Winckler
»Vroni! Vroni!« So schallte es schrill über den Hof des Gruberschen Wohnhauses. »Veronika, wo steckst du denn?« kam es noch schärfer, als das junge Mädchen nicht sofort antwortete.
»Ja, ich komme ja schon«, rief eine zaghafte Stimme aus der Küche. Gleich darauf steckte Vroni ihren Kopf aus dem Fenster nach draußen. »Was gibt es denn, Mutter?«
»Kommen sollst du, wenn ich dich rufe. Habe ich es dir nicht oft genug gesagt? Ich erwarte Gehorsam von dir, Gehorsam und Pünktlichkeit.«
»Ja, Mutter. Ich komme.«
Atemlos stand sie wenig später vor der Stiefmutter.
»Na, endlich!« murrte diese. »Ich möchte, daß du diesen Brief zum Briefkasten bringst, Vroni.«
»Mutter, das hätte Zeit bis morgen gehabt. Der Briefkasten ist heute schon zum letzten Mal geleert.«
»Deine ewigen Widerworte, diese ständige Besserwisserei, sie bringen mich noch um«, sagte Johanna Gruber böse. »Wir kämen besser miteinander aus, wenn du mir gehorchen würdest, so, wie du es mir schuldig bist.«
Stillschweigend nahm Veronika Gruber den Brief, setzte sich auf ihr Fahrrad und fuhr die wenigen Kilometer nach Jachenau, dem nächstgelegenen Ort. Die Neunzehnjährige war ein hübsches blondes Mädchen mit einem zarten Gesicht und einer schlanken, ebenmäßigen Gestalt. Nur ihr schwermütiger Blick schien nicht recht zu ihrer Erscheinung zu passen.
Veronika hatte schweren Kummer. Sie war ohne Mutter aufgewachsen. Ihre geliebte Mutter, Frau Henrike Gruber, war vor fünfzehn Jahren gestorben. Die Vroni, wie man sie allenthalben nannte, war völlig verstört und fassungslos über diesen Verlust. Bald nach dem Tod seiner Frau mußte der junge Witwer eine Haushälterin ins Haus nehmen, was hätte er sonst auch tun sollen? Die Erziehung seiner Tochter und der Haushalt hätten Alois Gruber völlig überfordert, verlangte doch die kleine Brauerei seine ganze Arbeitskraft. Sie war seit Generationen im Besitz der Familie Gruber, und Alois Gruber setzte seinen Ehrgeiz darein, sie trotz der übermächtigen Konkurrenz der Großbrauereien zu erhalten und auszubauen. Dem damals fünfjährigen Mädchen fehlte die Mutterliebe, es wurde viel zu früh ernst und scheu.
Das steigerte sich noch, als ihr Vater nach einiger Zeit seine Haushälterin Johanna heiratete. Johanna hatte wenig Verständnis für das sensible Kind. Von Anfang an war sie bemüht, dem Mädchen alle »Flausen« auszutreiben und es rechtzeitig an strenge Pflichterfüllung und harte Arbeit zu gewöhnen.
Als dann die beiden Zwillinge, die Buben Peter und Gabriel geboren wurden, war es endgültig mit Vronis Kindheit und Jugend vorbei. Sie war Kindermädchen und Haushaltshilfe, Gärtnerin und Wäscherin in einer Person; wirklich ein Mädchen für alles. Selbst der Schulbesuch wurde ihren häuslichen Pflichten untergeordnet.
Wie gern wäre Vroni in die höhere Schule gegangen! Alle Lehrer versicherten, daß sie es spielend schaffen würde. Aber die Stiefmutter hintertrieb jeglichen Versuch. Vroni würde einmal heiraten, da wären ihr Kenntnisse in der Hauswirtschaft nützlicher als alle Bücherweisheiten, so sagte sie, und danach handelte sie. Vom Vater hatte Vroni wenig Hilfe zu erwarten. Alois Gruber wollte daheim seine Ruhe haben. Immer wieder gab er nach, wenn seine Frau eine Bestrafung für das Mädchen forderte oder wenn er Vroni eine sinnlose Aufgabe geben sollte, die sich Frau Johanna nur ausgedacht hatte, um den Gehorsam der Tochter zu prüfen.
Vroni konnte ihr Leben nur ertragen, weil sie sich einen kleinen Privatbereich geschaffen hatte. Als Schulkind las sie viel. Kein Buch, keine Zeitschrift war vor ihr sicher. Sie wurde abends von ihrer Stiefmutter früh ins Bett geschickt, damit sie am kommenden Tag ausgeruht an die Arbeit gehen konnte. Vroni nahm sich jedesmal eine Kerze mit in ihr Zimmer und las unter der Bettdecke, so lange die Kerze brannte. Niemand im Haus kam auf den Gedanken, den Kerzenbedarf einmal zu überprüfen oder gar die Kerzen zu zählen. Was man aber feststellte, war Vronis chronische Müdigkeit. Sie war ständig blaß und unausgeschlafen.
Seit sie erwachsen geworden war und sich manch junger Bursche nach ihr umdrehte, ließ ihr Interesse für Bücher nach. Man hatte im Hause Gruber nicht viele Bücher, Vroni hatte sie alle schon mehrmals gelesen.
Noch immer wurde sie früh schlafen geschickt, was ihren Wünschen sehr entgegenkam. Wenn alle glaubten, sie sei in ihrer Schlafstube, dann begann Vronis eigentliches Leben. Auf Strümpfen schlich sie die Treppe hinunter, verließ das Haus und traf sich am Erlenhain hinter der Brauerei mit ihrem Freund Anton. Ihm schlug ihr Herz entgegen, für ihn ertrug sie die Schikanen der Stiefmutter und nahm ohne Klage auch die schwersten Arbeiten auf sich. Er war es, der ein wenig Licht und Freude in ihr Leben brachte.
Vroni radelte in scharfem Tempo nach Jachenau. Da der Weg leicht abschüssig war, hatte sie die Strecke schnell bewältigt. Vor dem Postamt traf sie Anton.
»Grüß dich, Toni!« sagte sie atemlos.
»Hei, Vroni!« antwortete er. »Nanu, sieht man dich einmal am hellen Tag in Jachenau? Gibt es keine Arbeit mehr für dich bei Grubers?«
»Ja, spotte du nur«, antwortete sie ärgerlich. »Natürlich habe ich noch daheim zu tun. Ich war beim Bügeln, als mich die Mutter mit dem Brief zur Post schickte.«
»Eigentlich ist das ein unerwartetes Geschenk«, lachte Anton Wachtler. »Komm, ich begleite dich. Am Weiher vor der Felsgruppe könnten wir eine kleine Rast machen. Wie findest du das?«
»Ich würde es wunderbar finden, wenn man daheim nicht die Minuten zählen würde, die ich für den Botengang brauchte. Nein, Toni, jetzt habe ich keine Zeit für dich.«
»Nie hast du Zeit für mich.«
»Ach geh, Toni. Es ist nur so, daß wir vernünftig sein müssen. Wenn ich zu spät heimkomme, kommt man uns auf die Schliche. Dann ist es aus mit den schönen Abenden zu zweit. Du freust dich doch auch auf heute abend, ja?«
»Und wie. Ich zähle die Stunden, ach was, die Minuten. Es sind mindestens noch furchtbar lange einhundertundachtzig Minuten.«
»Bis dann, Toni!« rief Vroni ihm noch zu, schwang sich aufs Rad und radelte nach Haus. Da die Straße jetzt bergan stieg, brauchte sie viel mehr Zeit für den Rückweg. Was sie befürchtet hatte, trat ein. Johanna Gruber stand vor der Haustür und wartete bereits.
»Wie lange dauert denn dieser kurze Weg?« fragte sie in scharfem Ton.
»Ich habe mich nirgendwo aufgehalten«, sagte Vroni. »Ich kann nicht schneller fahren, Mutter. Wenn du es selbst einmal probieren würdest, dann müßtest du es einsehen. Aber im Auto fährt man die Strecke schneller.«
»Frech wirst du auch noch!« schimpfte Frau Johanna. »Ich werde mal wieder mit deinem Vater ein ernstes Wörtchen reden müssen. Die Wäsche, die du bügeln solltest, ist auch nur zum Teil fertig. Deine Brüder brauchen frische Hemden für die Schule morgen, dein Vater fürs Büro. Was hast du dir dabei gedacht, die Arbeit einfach liegenzulassen?«
»Ich hätte sie nicht liegengelassen«, verteidigte sich Vroni. »Du hast mich gerufen und zur Post geschickt.«
»Du bist eine widerspenstige, undankbare Person!« zeterte Frau Johanna. »Ich mußte annehmen, daß dieses bißchen Wäsche längst gebügelt war. Los, an die Arbeit. Der Wäschekorb muß aufgearbeitet sein, und wenn du die halbe Nacht durchbügelst.«
Nur das nicht, dachte Vroni verzagt. Um neun erwartete sie Toni am Erlenhain.
Toni…
*
Auch an diesem Abend zog sich Vroni um acht Uhr in ihre Schlafstube zurück. Sie sei müde, war ihre einzige Erklärung dafür. Frau Johanna protestierte:
»Ich weiß wirklich nicht, wovon du müde sein könntest. Das bißchen Arbeit kann doch nicht der Grund sein.«
Vroni antwortete nicht. Hilfesuchend schaute sie zum Vater hin. Und was sie nicht erwartet hatte, trat ein. Der Vater nahm Partei für seine Älteste.
»Ich finde wirklich, daß das Dirndl erschöpft aussieht, Johanna«, sagte er bedächtig. »Wenn es nicht an der Arbeit liegt, dann muß es eine andere Ursache dafür geben. Vielleicht ist sie blutarm, oder sie ißt nicht genug. Du solltest einmal zu Dr. Henninger gehen, Vroni.«
Dr. Henninger war der praktische Arzt von Jachenau. Er war schon ein alter Herr und hatte Vroni seit ihrer Kindheit betreut. Er behandelte sie fast ausschließlich mit Lebertran und Vitaminpräparaten. Wahrscheinlich hatte er längst herausgefunden, daß es Vroni an Freizeit und Erholung fehlte. Da er sie nicht von ihrer Stiefmutter befreien konnte, war seine Medizin wenig hilfreich. Vroni sah keinen Sinn darin, den Arzt aufzusuchen.
»Ich glaube nicht, daß es nötig ist, Vater«, entgegnete sie. »Ich hab’ ein bißchen Kopfschmerzen, das ist wahr. Das mag vom Föhn kommen. Und müde bin ich halt. Keine Sorge, wenn ich morgen früh ausgeschlafen bin, dann bin ich wieder fit.«
»Hoffentlich«,