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Refugees Worldwide 2: Neue Reportagen
Refugees Worldwide 2: Neue Reportagen
Refugees Worldwide 2: Neue Reportagen
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Refugees Worldwide 2: Neue Reportagen

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About this ebook

Flucht ist ein globales Phänomen. Um Geschichten aus Ländern zu erzählen, die nicht täglich im Fokus stehen, haben bekannte Autorinnen und Autoren alle Kontinente bereist, Menschen getroffen und ihren Erzählungen zugehört.
Um den weltweit 68 Millionen Menschen auf der Flucht eine Stimme zu geben, schreiben Autorinnen und Autoren aus aller Welt die Schicksale von Geflüchteten auf. Sie fangen Momente und Ereignisse ein, die zugleich eine jahrzehntelange Vorgeschichte haben.
Ibrahim Nasrallah erzählt vom Aufwachsen in einem jordanischen Flüchtlingscamp, während Fariba Vafi das Leben afghanischer Geflüchteter im Iran abbildet. Der "New-York-Times "-Reporter Patrick Kingsley begleitet eine syrische Familie auf dem Weg nach Schweden. Drago Jančar aus Slowenien beschreibt, wie eine Mauer, die 1989 voller Euphorie gestürzt wurde, heute wiedererrichtet wird. Die Schauspielerin und Autorin Charmaine Craig trifft Frauen in Malaysia wie Htet Htet, deren durch Menschenhandel erfahrenes Leid ihr nichts von ihrem Stolz genommen hat. Gleich mehrere Texte zeigen die bedrohliche Situation der Rohingya. Andere Reisen führen nach Kanada, Spanien, Libanon, Südafrika, Australien, Ägypten, Kenia und Kolumbien, wohin derzeit viele Menschen aus Venezuela fliehen.
LanguageDeutsch
Release dateApr 4, 2019
ISBN9783803142573
Refugees Worldwide 2: Neue Reportagen

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    Book preview

    Refugees Worldwide 2 - Verlag Klaus Wagenbach

    2018

    Zuflucht in einer flüchtigen Heimat

    Basma Abdel Aziz

    Aus dem Arabischen von Mirko Vogel

    Ich traf Nadia in einem kleinen Zimmer in einem Vorort von Kairo. Sie empfing mich in einem weiten, bunten Gewand, mit einem breiten Lächeln und glänzenden tiefschwarzen Augen. Wie viele andere Tausend Sudanesinnen und Sudanesen ist sie aus ihrer Heimat nach Ägypten geflohen. Sie lebte mit ihrem Ehemann lange Jahre im Zentralsudan, bis der Putsch von Baschir Ende der achtziger Jahre einen dunklen Schatten auf ihr Leben warf. Fortan wurden die beiden wegen ihrer oppositionellen Aktivitäten vom Regime verfolgt und mussten schließlich getrennte Wege gehen.

    Nadia kam im Jahr 2004 nach Kairo und registrierte sich beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR. Ihre Lebenssituation stabilisierte sich mit der Zeit zumindest in einem gewissen Maße. Daraufhin beschloss sie, anderen zu helfen, die – wie sie – wegen unglücklicher Umstände in ein entferntes Land gehen mussten. Zur Vorbereitung auf ihre Tätigkeit als Sozialarbeiterin nahm sie an einigen Trainingskursen teil und sammelte danach im Bereich der Flüchtlingshilfe viel praktische Erfahrung. Zudem gelang ihr der Aufbau effektiver Unterstützungsnetzwerke, um die Lebensumstände vieler Frauen, Männer und Kinder zu verbessern, die auf ihrer Flucht unzählige Dinge verloren hatten.

    Eine wichtige Station für Nadias beruflichen Werdegang war das Nadeem-Zentrum für die Rehabilitierung von Gewaltopfern.¹ Dieses Zentrum wurde 1994 von Psychiaterinnen und Psychotherapeuten gegründet, die sich dem Kampf für Menschenrechte verschrieben hatten, und hat seitdem Tausende von traumatisierten Flüchtlingen behandelt. Diese lernen dort, mit den Auswirkungen ihrer Traumata umzugehen, um auf diese Weise wieder ein »normales« Leben in der Gesellschaft führen zu können. Das Problem ist aber, dass ihnen oft nicht nur in der Vergangenheit unvorstellbar Schreckliches widerfahren ist, sondern auch ihre gegenwärtige Lebenssituation kaum schlimmer sein könnte. Misshandlungen durch ägyptische Sicherheitskräfte etwa führen in vielen Fällen zu Traumatisierung beziehungsweise Retraumatisierung.

    Laut der UNHCR-Statistik für das Jahr 2018 leben etwa eine Viertelmillion Geflüchtete in Ägypten. Mehr als die Hälfte von ihnen wohnt in der Hauptstadt, die wegen der Zuwanderung aus anderen Landesteilen bereits aus allen Nähten platzt. Manche können sich ein Leben in Kairo nicht mehr leisten und werden in Vororte und Randbezirke abgedrängt. Die Flüchtlinge kommen aus vielen verschiedenen Ländern: aus Somalia und Eritrea, aus dem Irak und aus Syrien, aus Äthiopien und aus dem Sudan, und nicht zuletzt aus Palästina.² Auch wenn sich die Gründe für die Flucht von Gruppe zu Gruppe und von Individuum zu Individuum unterscheiden, so haben doch alle das gleiche Recht auf Asyl. Denn jeder Mensch hat das Recht, sich einen Ort zu suchen, wo er in Sicherheit und Würde leben kann.

    Flüchtlinge aus dem Sudan

    Momentan machen Sudanesinnen und Sudanesen 16 Prozent der Geflüchteten in Ägypten aus, was einen massiven Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren bedeutet, wo ihr Anteil fast 75 Prozent betrug. Der Grund dafür ist die Eskalation der Krise in Syrien, die Hunderttausende dort zur Flucht in die angrenzenden Länder zwang. Andernfalls wären sie zwischen den Fronten zermahlen worden: auf der einen Seite von Regierungstruppen, auf der anderen Seite von der bewaffneten Opposition und religiösen Terrororganisationen, die in Syrien einen fruchtbaren Boden vorgefunden hatten.

    Ethnische Konflikte sind ein wesentlicher Faktor, weswegen Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Nadia erinnert sich an verschiedene gewalttätige Perioden in der Geschichte des Sudan, die Fluchtbewegungen in großem Ausmaß auslösten, wodurch die Asylanträge in Ägypten anstiegen. Das erste dieser Ereignisse war der Bürgerkrieg zwischen dem Norden und dem Süden, der im Jahr 1983 begann. Im Jahr 2003 brach der Darfur-Konflikt aus, als Sicherheitskräfte der Regierung sich mit den Janjaweed-Milizen verbündeten und begannen, die lokale Bevölkerung – die Darfuris – systematisch zu ermorden, was einem Völkermord gleichkam. Als sich dann im Jahr 2008 auch noch die Krise in den Nuba-Bergen zuspitzte, wurde die Lage vollends unübersichtlich.

    Die Wirtschaftskrise im Sudan

    Auch wenn das islamische Regime im Sudan Oppositionelle, wie etwa Mitglieder der Sudanesischen Kommunistischen Partei, weiterhin verfolgt, ist dies nicht mehr der wichtigste Fluchtgrund. War in den vergangenen Dekaden die politische Unterdrückung der wichtigste Grund für eine Flucht aus dem Sudan, so änderte sich die Lage im Jahr 2015 mit dem Beginn einer massiven Wirtschaftskrise, die alle Teile des Landes erschütterte. Insbesondere als essentielle Güter wie Brot und Brennstoff knapp wurden, stiegen die Flüchtlingszahlen wieder an.

    »Das Fladenbrot ist mittlerweile so klein wie ein Hamburgerbrötchen und kostet ein ganzes Pfund«, zitiert Nadia ihre Familie, niemals zuvor habe es im Sudan eine derartige Wirtschaftskrise gegeben. Ägypten stehe dagegen trotz der sich auch hier verschlechternden Wirtschaftslage vergleichsweise gut da.

    Ein Grund für die Krise ist die im Jahr 2011 erfolgte Abspaltung des Südsudan, dem nun mehr als die Hälfte der Erdöleinnahmen des Staates zukommt, wodurch das sudanesische Pfund massiv abgewertet wurde: Kostete ein Pfund 2009 noch 0,40 Dollar, war es 2014 nur noch 0,13 Dollar wert. Mittlerweile liegt der Wechselkurs bei 0,05 Dollar. Durch diesen Kursverfall verschlechtern sich die Lebensbedingungen auf besorgniserregende Weise.

    Reicher Süden – armer Süden

    Auch wenn der Süden die ressourcenreichste Region des Sudan ist, profitiert die dortige Bevölkerung nur wenig von diesem Reichtum, da die weite Verbreitung von Malaria die wirtschaftliche Nutzung einschränkt. Zudem hat der Kampf verschiedener Fraktionen um die Macht im neu gegründeten Staat die Wirtschaft so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass Bürger des Südsudan nun aus Angst vor einer Hungersnot und einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage nach Norden ziehen. Einige, denen die Flucht aus dem Südsudan gelingt, reisen weiter nach Ägypten, was die ethnische Diversität der sudanesischen Flüchtlingscommunity dort erhöht: Zusätzlich zu Menschen aus dem Darfur und den Nuba-Bergen sowie zu Oppositionellen aus dem zentralen und nördlichen Sudan leben in Ägypten nun auch Bürger des kurz vor dem Zusammenbruch stehenden Südsudan.

    Ein relativ neues Phänomen ist die Fluchtbewegung von Sudanesen, die nicht in ihrer Heimat, sondern in Libyen ihren Ursprung hat. Seit Entführungen und Menschenhandel durch bewaffnete Banden in der libyschen Wüste zugenommen haben, flüchten viele eigentlich in Libyen lebende Sudanesen ostwärts nach Ägypten.

    Der Leidensweg

    Der Leidensweg der Geflüchteten, den sie gehen müssen, um einen Aufenthaltstitel zu erhalten, beginnt im Büro des UNHCR in der »Stadt des 6. Oktobers«, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer zu erreichen ist, da die Zufahrtsstraßen ständig verstopft sind. In diesem Büro bekommen sie ein Formular in die Hand gedrückt und werden gebeten, in drei Monaten wiederzukommen. Eine Abgabe des Formulars vor Ablauf dieser Dreimonatsfrist ist nicht möglich.

    Für die meisten Geflüchteten stellt die weite und somit teure Anreise zum UNHCR eine große Hürde dar. Aber mit dem Überwinden dieser Hürde ist man noch längst nicht am Ziel, wie viele in den letzten Jahren feststellen mussten. Nachdem sie sich aufwändig Geld für die Reise geliehen und die Mühen des Weges auf sich genommen haben, werden sie oft gar nicht ins Büro eingelassen, wenn die Maximalzahl der Besucher für diesen Tag bereits erreicht worden ist. Einige entschieden daraufhin, auf dem Boden vor dem Gebäude zu übernachten, weil sie sich die Reise kein zweites Mal leisten können. Andere machten aus dieser Tragödie ein Geschäft, indem sie morgens ihren Namen auf die Warteliste setzen ließen, um ihren Platz dann an später Eintreffende zu verkaufen. Dieser Handel florierte, bis der UNHCR davon erfuhr und eine telefonische Terminvergabe einrichtete. Trotz eines Termins, so erzählt Abdelkader, habe er mehrfach unverrichteter Dinge die Rückreise antreten und am nächsten Tag wiederkommen müssen, da er wegen des großen Andrangs nicht eingelassen worden sei.

    Die nächste Etappe des Leidenswegs beginnt, wenn dem Geflüchteten ein weißer Zettel ausgehändigt wird. Dieser Zettel, vom UNHCR mit seinen persönlichen Daten und seinem Foto bedruckt, dient als Ausweis. Nach sechs oder sieben Monaten wird dieser dann gegen eine gelbe Karte eingetauscht, die ihren glücklichen Besitzer als registrierten Flüchtling ausweist. Wenn der Asylantrag abgelehnt wird, bekommt die Karte eine andere Farbe: Blau bedeutet, dass er zu jedem beliebigen Zeitpunkt abgeschoben werden kann. Solange über den Asylantrag noch nicht entschieden ist, bleibt die Karte gelb. Der Geflüchtete hängt in der Luft und klammert sich an Hoffnungen, die im Laufe der Jahre immer blasser werden.

    Seine gelbe Karte trägt der Flüchtling dann zum ägyptischen Außenministerium, wo er sich registriert und eine Nummer erhält. Nach etwa sechs Wochen begibt er sich zu einem gigantischen Gebäude, in dessen Flügeln die ägyptische Bürokratie ihren Sitz hat. Dort wartet er vor einem Fenster, um zu erfragen, ob sein Name bereits vom Außenministerium übermittelt worden sei. Dafür muss er vor dem Komplex übernachten, um sich einen Platz zu sichern. Wer zu später Stunde in dieser Gegend spazieren geht, kann in dem Park vor dem Gebäude Dutzende von Geflüchteten liegen sehen, die ungeduldig auf den Sonnenaufgang warten.

    Wenn der Flüchtling Glück hat, steht sein Name auf der Liste, und er muss an einem anderen Tag wiederkommen, um dieses Mal vor dem Schalter 10 zu warten. Dort kann er dann mit dem Verfahren zum Erhalt eines Aufenthaltstitels beginnen.

    Nadia kennt diese Wartesituation aus den Schilderungen ihrer Patientinnen. Viele empfinden die grobe Behandlung, die sie dort erfahren müssen, als Demütigung. Manche werden sogar aus der Warteschlange verjagt. Zudem brechen manchmal Handgemenge zwischen den Wartenden aus, weil niemand das Risiko eingehen möchte, nicht mehr an die Reihe zu kommen und ein weiteres Mal vor Ort übernachten zu müssen.

    Der Leidensweg endet aber nicht mit dem Erhalt eines Aufenthaltstitels, denn dieser muss danach mindestens alle sechs Monate verlängert werden. Jedes Mal ist Abdelkader aufs Äußerste angespannt und befürchtet, es könnte jeden Moment sein Handy klingeln und ein Beamter am anderen Ende der Leitung würde ihm mitteilen, dass sein Aufenthalt dieses Mal nicht verlängert worden sei und er nun abgeschoben werden würde.

    Das Massaker von Mustafa Mahmoud

    Das Büro des UNHCR war nicht immer an einem so abgelegenen Ort. Viele Jahre lang befand es sich im Herzen Kairos, bis es nach einem tragischen Ereignis, das unter dem Namen »Massaker von Mustafa Mahmoud« bekannt ist, verlegt wurde. Dieses Massaker fand im Jahr 2005 in einem öffentlichen Park gegenüber des damaligen UNHCR-Büros im Viertel Mohandessin statt. Eine große Anzahl von Geflüchteten veranstaltete dort einen Sitzstreik, um gegen den Bearbeitungsstopp für Asylanträge, der zu diesem Zeitpunkt bereits 18 Monate andauerte, zu protestieren. Nachdem die Versuche, ihn durch Verhandlungen aufzulösen, gescheitert waren, drohte das UNHCR mit dem Einsatz von Sicherheitskräften.

    In der Silvesternacht, etwa drei Monate nach Beginn des Sitzstreiks, marschierte die Bereitschaftspolizei auf, umstellte die Demonstranten und beschoss sie mit Wasserwerfern. Augenzeugen zufolge ließen die mehr als 6 000 Polizisten niemanden entkommen und prügelten so brutal auf die Anwesenden ein, dass Dutzende getötet und Unzählige verletzt wurden. Es kam zu Massenverhaftungen, Busse transportierten die Festgenommenen ins Gefängnis, Kinder wurden von ihren Familien getrennt und auch Frauen wurden nicht verschont. Als das Ausmaß der Tragödie bekannt wurde, schoben sich das UNHCR und die Sicherheitskräfte gegenseitig die Verantwortung zu.

    Auch Abdelkader wurde an diesem Tag festgenommen. Er habe in Tränen aufgelöste Polizisten gesehen, die sich nicht überwinden konnten, die Demonstranten wie befohlen zusammenzuschlagen, sagt er. Hohe Offiziere hingegen hätten ein Exempel statuieren wollen und seien mit übermäßiger Gewalt vorgegangen. Er fügt hinzu: »Niemand hätte erwartet, dass so etwas hier passiert. Darum hatten wir doch den Sudan verlassen!«

    Fast schlimmer als der Angriff der Sicherheitskräfte war die Reaktion der ägyptischen Bürger. Viele blieben stehen, um die Niederschlagung der Demonstration zu beobachten und sangen dabei die Nationalhymne. Sie klatschten, während die Polizisten auf Frauen und Kinder einprügelten, und schrien den Demonstranten Beschimpfungen entgegen wie: »Ihr seid Dreck, den man wegputzen muss.« Jedes Mal, wenn ich an diese Szene denke, frage ich mich, welche Rolle Rassismus dabei gespielt hat.

    Man hätte erwarten können, dass die Sudanesen nach diesem Massaker Ägypten nicht länger als sicheren Zufluchtsort wahrnehmen und nicht mehr hierher flüchten. Aber laut Nadias Einschätzung ist das nicht der Fall: Manche wüssten nichts von dieser Tragödie, andere ließen sich durch sie nicht von ihren Auswanderungsplänen abbringen. Auch die ägyptische Revolution im Jahr 2011 habe nur in den ersten Tagen einen Einfluss auf die Migration aus dem Sudan gehabt. »Wir haben Präsident Mubarak rausgeschmissen, jetzt seid ihr dran!«, sei zu Beginn von mancher Seite gedroht worden. Es sei auch zu Belästigungen auf offener Straße gekommen, die sich aber meist auf das Entwenden von Handtaschen beschränkten. Nach wenigen Tagen habe sich die Lage für Geflüchtete aber wieder normalisiert, resümiert sie.

    Falsche Versprechungen

    Durch ihre Arbeit mit Geflüchteten aus verschiedenen Städten und Regionen des Sudan weiß Nadia, welche Heilsversprechen Schlepper und Menschenhändler verbreiten. Menschen, die nur mit großer Mühe ihren Lebensunterhalt bestreiten können, malen sie das Leben in Ägypten in schillernden Farben aus. Dort warte großer Wohlstand auf sie, das UNHCR müsse allen Flüchtlingen ein monatliches Wohngeld von mehr als 1 000 Pfund zahlen. Zusammen mit dem Kindergeld und Sonderzahlungen für Extraausgaben ergebe sich somit ein monatlicher Betrag von mehreren 1 000 Pfund, was für die meisten Sudanesen ein unvorstellbarer Reichtum ist. Viele glauben diesen Gerüchten und planen ihre Reise in den Norden mit der Vorstellung, dass dort Geld im Überfluss und ein glückliches Leben auf sie wartet. In Ägypten stellen sie dann fest, dass sie einer Illusion aufgesessen sind, welche nichts mit ihrer schmerzhaften Lebensrealität zu tun hat.

    Die finanzielle Unterstützung, welche die Caritas im Auftrag des UNHCR jahrelang ausgezahlt hatte, wurde tatsächlich ohne Erklärung eingestellt, erinnert sich Abdelkader. Da seine Fixkosten nach und nach gestiegen seien, habe er schließlich wegziehen müssen. Er war einfach nicht mehr in der Lage, für die Miete, die Elektrizität und die sonstigen Kosten aufzukommen.

    Die Probleme der sudanesischen Geflüchteten

    Unter den vielen Problemen, mit denen sudanesische Geflüchtete in Ägypten zu kämpfen haben, ist die Arbeitslosigkeit aber zweifelsohne das größte. Wer keine Ersparnisse mitgebracht hat, von denen er leben kann, sucht händeringend Arbeit, egal wie niedrig bezahlt sie auch sein mag. Sudanesen müssen zwar keine Verwaltungsgebühr für die Ausstellung einer Arbeitserlaubnis bezahlen, haben aber auch keinen Rechtsanspruch auf sie, da Ägypten einige Paragrafen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht anwendet, unter anderen jenen, der ein Recht auf Arbeit gewährt.³ Somit ist es sehr schwer, seinen Lebensunterhalt in einem offiziellen Arbeitsverhältnis zu verdienen, was Hunderte oder gar Tausende von Flüchtlingen zu prekärer, undokumentierter Arbeit zwingt. Diese Art von Arbeit birgt viele Risiken, etwa die Beschlagnahmung der produzierten Waren oder die Festnahme durch Sicherheitskräfte. Aber die Repression durch die Sicherheitsorgane ist mitunter gar nicht das Schlimmste. Manchmal ist es die ägyptische Gesellschaft, die dem Flüchtling selbst die niedrigsten Tätigkeiten verwehrt.

    Nachdem etwa der 40-jährige Abdelkader in seiner Heimat, dem sudanesischen Bundesstaat Blauer Nil, von Sicherheitskräften interniert und gefoltert worden war, floh er im Jahr 2002 nach Ägypten. Nach seiner Registrierung beim UNHCR hangelte er sich mit verschiedenen Hilfsjobs durch: Er bedruckte Stoffe und putzte in Privathaushalten, arbeitete als Schneider, Bäcker oder Koch und verdiente als fliegender Händler und als Dienstbote seinen Lebensunterhalt. Dabei wurde er oft als Eindringling, der den Ägyptern die Arbeit wegnimmt, beschimpft: »Ihr seid in Scharen aus eurem Land gekommen, um uns unseren Lebensunterhalt streitig zu machen!« Manchmal blieb es nicht bei derartigen Anschuldigungen und Beschimpfungen, es kam sogar zu körperlichen Übergriffen. So wurde Abdelkader einmal so heftig auf den Kopf geschlagen, dass er notfallmedizinisch versorgt werden musste. Der Täter wurde nicht gefasst.

    Abdelkader sagt aber auch, dass er viel Unterstützung von Ägyptern erfahren hat. Sie hätten ihn als einen der ihren behandelt und ihm geholfen, Schwierigkeiten zu überwinden, an denen er alleine gescheitert wäre. Dafür stehe er in ihrer Schuld. Dennoch, räumt er ein, gäbe es andere, die er als ständige Bedrohung empfinde.

    Insbesondere seit den sogenannten Wirtschaftsreformen der ägyptischen Regierung, die viele in Armut gestürzt haben, ist unter den ökonomisch Schlechtergestellten der Eindruck omnipräsent, der angespannte Arbeitsmarkt sei überlaufen.

    Ausgerissene Wurzeln

    Wenn ein Flüchtling seine Heimat verlässt, büßt er mit einem Mal die Lebenserfahrung ein, die er dort über Jahrzehnte hinweg gesammelt hat. Die meisten Sudanesen klagen über ein Gefühl der Entfremdung, da es ihnen kaum gelingt, enge Kontakte in ihrem Wohnumfeld zu knüpfen, weder im Viertel noch in der direkten Nachbarschaft. In ihrer Heimat waren innige Beziehungen zu Bekannten und Nachbarn die Regel, ebenso wie ein starker Zusammenhalt in der Großfamilie. In Ägypten hingegen ist der Lebensstil sehr individualisiert, und selbst die Mitglieder einer Kleinfamilie, die unter demselben Dach leben, haben oft keinen engen Kontakt miteinander. Es ist sogar normal, nicht alle Namen von Verwandten zu kennen.

    Abdelkader hat seine Frau im Sudan kennengelernt und dort geheiratet, bevor sie gemeinsam nach Kairo gingen. Sie habe Angst, sagt er: Angst davor, mit den Nachbarn zu reden. Angst, auf die Straße zu gehen und sich unter die Leute zu mischen. Angst, wenn er arbeitet und sie alleine in dem Zimmer sitzt, das sie gemietet haben. Und er hat Angst, weil sie Angst hat – Angst, dass ein blöder Spruch im Vorübergehen, irgendwo in ihrer Nachbarschaft, sie verletzen könnte.

    Die sudanesischen Geflüchteten, die eine kollektive, auf gegenseitige Hilfe basierende Lebensweise gewohnt sind, scheinen durch die hiesige Vereinzelung in eine tiefe Krise gestürzt zu werden. »Die Nachbarn interessieren sich hier nicht füreinander«, sagen manche Flüchtlinge, »es ist ihnen egal, ob Essen im Nachbarhaus ist oder ob die Kinder hungrig oder gar krank sind.« Dieses wachsende Gefühl von Einsamkeit und Isolation, der Eindruck, dass es keinerlei Unterstützung aus ihrem Umfeld gibt, ist über das individuelle Leid hinaus von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, weil es die Fähigkeit der Geflüchteten einschränkt, sich in die ägyptische Gesellschaft zu integrieren. Denn sie haben das Gefühl, dass es für niemanden einen Unterschied macht, ob sie da sind oder nicht.

    Die Verwundbarkeit der Geflüchteten

    Sobald ein Flüchtling ein wenig Erfolg hat, sich ein soziales Netzwerk aufgebaut und einen Arbeitsplatz gefunden hat, sieht er/sie sich einem neuen Problem gegenüber, das im Fall von Frauen, die meistens in Privathaushalten als Dienstmädchen oder Putzhilfen arbeiten, besonders ausgeprägt ist. Viele berichten, ihr Arbeitgeber würde sie schlecht behandeln oder gar misshandeln. Er zahle ihren Lohn nicht, begrapsche sie, biete ihnen Geld für sexuelle Handlungen und drohe, dass er, sollten sie sich mit dem Gedanken tragen, ihn zu verklagen, falsche Anschuldigungen, wie etwa des Diebstahls, erheben werde, um sie davon abzubringen.

    Hier zeigt sich die Verwundbarkeit der Geflüchteten: Angesichts des dysfunktionalen Justizsystems und der unverhohlenen Feindseligkeit, mit der ihnen die ägyptische Gesellschaft gegenübertritt, sowie in Ermangelung eines sicheren Aufenthaltsstatus haben die meisten Flüchtlinge keine Möglichkeit, ihre Rechte einzufordern. Nadia verweist in diesem Zusammenhang auf eine in Ägypten weit verbreitete Kultur der Diskriminierung, die Schwarze als Menschen zweiter Klasse ansieht und sie schutzloser gegenüber Demütigungen und Unterdrückungen macht, als dies bei ägyptischen Hausangestellten der Fall sei.

    Sklavenkopf

    Geflüchtete aus dem subsaharischen Afrika werden wegen ihrer Hautfarbe angefeindet, wobei kein Unterschied gemacht wird, aus welchem Land sie kommen. Menschen aus dem Sudan, Äthiopien, Somalia und Eritrea leiden unter der gleichen Unterdrückung. Darum hat Abdelkader beim UNHCR den Antrag gestellt, sein Asylverfahren in irgendeinem beliebigen subsaharischen Staat neu zu eröffnen. Er hat die Hoffnung, in einem Land, dessen Bewohner zumeist eine ähnliche Hautfarbe wie er haben, in Frieden leben zu können, weil dort vielleicht die ständigen Beleidigungen aufhören, die sein Leben in Ägypten noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist.

    Die Diskriminierungen aufgrund der Hautfarbe seien eine schwere psychische Belastung für die Flüchtlinge, deren sozioökonomische Lage bereits schwierig genug sei, erklärt Nadia. Im Sudan habe die Gastfreundschaft einen hohen Stellenwert, und Fremde würden herzlich aufgenommen. Zudem hätten sich die Sudanesen eine historisch gewachsene Liebe zu Ägypten und den Ägyptern bewahrt. Darum sei die rassistische Behandlung in einem Land, das sie als ihre zweite Heimat ansehen, so besonders unerwartet und traumatisierend.

    Auch wenn über »Ägypten und Sudan« traditionell lange Zeit als Einheit gesprochen wurde, in der ein Fluss zwei benachbarte Völker verbindet und über die ein einziger König herrscht, so hat das rassistische Ressentiment mittlerweile hohe Mauern zwischen diesen beiden Völkern errichtet. Wenn ein dunkelhäutiger Mensch an einer Gruppe von Ägyptern vorbeiläuft, passiert es nicht selten, dass sie ihn wegen seiner Hautfarbe verspotten oder »Shikabala« rufen.⁴ Oder sie zwinkern einander zu und fragen: »Warum ist es denn so dunkel?« In manchen besonders entwürdigenden Momenten bezeichnen sie die Person auch als »Sklavenkopf«.

    Schwarzer Sklave

    In der jüngeren Geschichte gab es einen relativ bekannten sudanesischen Dichter, der sich mit dem Thema Rassismus poetisch auseinandergesetzt hat. Der 1933 in Omdurman geborene Salah Ahmed Ibrahim schrieb:

    Hast Du jemals die Schmach der Farbe gekostet?

    Die Leute, wie sie auf Dich zeigen und rufen:

    Schwarzer Sklave

    Hast Du jemals den Knaben beim Spiel

    mit zärtlicher Sehnsucht zugesehen

    und das Herz wurde

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