Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Die Geschichte des Lichts
Die Geschichte des Lichts
Die Geschichte des Lichts
Ebook556 pages8 hours

Die Geschichte des Lichts

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Wie könnte eine Geschichte aussehen, die von einem Lichtstrahl erzählt wird? Erstens wäre das keine gewöhnliche Erzählung, sondern ein ungewöhnliches Schicksal; zweitens wäre sein Held ein Fotograf, ein Wärter des Lichts; und drittens wäre dies, wie sich versteht, ein Schicksal voller Schatten. Wer war Drtikol (1883–1961)? Ein Dandy aus einem Bergmannsstädtchen, ein weltbekannter Fotograf, der mit sei nem Gewerbe bankrott ging, ein Meister von Aktbildern, der bei den Frauen kein Glück hatte, ein Mystiker und Buddhist, der an den Kommunismus glaubte. Er war ein Mann vieler Widersprüche und ein Mann ihrer inneren Synthese. Jan Němec legt ein umfassendes, schöpferisches Romanfresko vor, das aus der zeitgenössischen tschechischen Literatur herausragt. Sein künstlerischer Bildungsroman beginnt im böhmischen Příbram, wo die Hauptfigur in eine einfache Familie geboren wird und das Bergmannsmilieu hautnah kennenlernt. Zwischen den tiefen Stollen der Silberminen im nahen Birkenberg und dem hoch oben gelegenen Wallfahrtsort des Klosters Heiliger Berg zeichnen sich Licht und Dunkelheit seiner späteren Profession ab. Der Roman folgt dem aufgeweckten, aber zunächst unscheinbaren Jungen, der eher zufällig zur Fotografie kommt und als Student München in der künstlerischen Aufbruchstimmung der Sezessionszeit erlebt, das bunte Treiben der Schwabinger Boheme und der Vergnügungssüchtigen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Zurück in Böhmen macht er sich nach längerer Durststrecke allmählich als Fotograf einen Namen, und bald gehen in seinem Prager Atelier nicht nur Politiker und Literaten ein und aus, sondern auch jene Frauen, die Drtikols Aktmodelle werden.
LanguageDeutsch
PublisherOsburg Verlag
Release dateJul 22, 2019
ISBN9783955101879
Die Geschichte des Lichts

Related to Die Geschichte des Lichts

Related ebooks

Literary Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Die Geschichte des Lichts

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Die Geschichte des Lichts - Jan Nemec

    Jan Němec

    DIE

    GESCHICHTE

    DES LICHTS

    Roman über den Fotografen

    František Drtikol

    Aus dem Tschechischen von

    Martin Mutschler

    Herausgegeben mit freundlicher Unterstützung

    des Kulturministeriums der Tschechischen Republik

    Beratende Mitarbeit bei der

    Übersetzung aus dem Tschechischen:

    Viktorie Knotková

    Titel der tschechischen Originalausgabe:

    Dějiny světla – román o fotografovi Františku Drtikolovi

    © Jan Němec, 2014

    © Host – vydavatelství, s. r. o., 2014

    Erste Auflage 2019

    © der deutschsprachigen Ausgabe

    Osburg Verlag Hamburg 2019

    www.osburgverlag.de

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

    des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

    durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

    ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

    oder unter Verwendung elektronischer Systeme

    verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg

    Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

    Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

    Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-95510-178-7

    eISBN 978-3-95510-187-9

    Meinen Lehrern

    Ich lieb ein einzig Ding / und weiß nicht, was es ist;

    und weil ich es nicht weiß / drum hab ich es erkiest.

    Angelus Silesius

    Schluss mit der verfluchten ersten Person.

    Samuel Beckett

    Inhalt

    Prolog

    Kapitel I

    Kapitel II

    Kapitel III

    Intermezzo

    Kapitel IV

    Kapitel V

    Kapitel VI

    Epilog

    Anmerkung des Autors

    Editorische Notiz

    Prolog

    Am Tag, bevor es geschieht, sitzt du am Tisch einer Bergmannshütte am Stadtrand von Příbram. Auf der gegenüberliegenden Seite der Stube steht eine weiße Kredenz mit angeschlagenem Geschirr und ein alter bemalter Kleiderschrank. An der Wand hängen ein Heiligenbildchen, ein Haussegen und ein kleines Holzkreuz aus zwei Stöckchen, mit dünnem rostigem Draht gebunden. Die Kleidungsstücke an der Leine, die den Ofen überspannt, erinnern an Wischlappen, der Boden hingegen gehört in erster Linie ausgebessert: von unter den Dielen herauf vernimmt man das Geräusch von Mäusen und anderen Geschöpfen der Ritzen, Ecken und Schlupfwinkel. Auf der Stuhllehne hängt eine schweißnasse Bergmannskluft und darüber ein fleckiger Lederschurz.

    Hynek und du betrachtet den Schläfer, der diese Dinge dort abgelegt hat, und wollt ihm durch euer Starren zu verstehen geben, er möge endlich aufwachen. Er wälzt sich auf dem Strohbett herum, aus dem dunkle Halme ragen, und schnauft schwer.

    Hynek pfeift vorsichtig, sein Vater rührt sich nicht einmal.

    Das halbfertige Stufenwerk thront in Reichweite auf einem Bord, allein dürft ihr es allerdings nicht anrühren. Nach einer Weile hält Hynek es nicht mehr aus und greift zumindest nach zwei Tonfigürchen, nach zwei etwas angebröckelten Abtrünnigen, die abseits herumlungern. Eines schiebt er dir zu, du nimmst das Männchen vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und neigst dich zu ihm: Warst du schon mal in der silbernen Stadt?, flüsterst du mit seinem Mund. Beim silbernen Tor?

    Ein einziger Stollen führt da hin, und der wird vom heiligen Prokop bewacht, dem mit dem Teufel an der Kette. Ich kenn aber das Losungswort, flüstert Hynek mit dem anderen Nackedei in der Hand.

    Sag schon.

    Was tuschelt ihr Halunken da?, meldet es sich aus der Zimmerecke.

    Hynek ruft erfreut: Vater, schlaft Ihr nicht mehr?

    Herrgott, wie auch?, sagt der Mann und setzt sich im Bett auf. Ist der kleine Krämer auch wieder da? fügt er hinzu und kratzt sich mit sehnigen Händen an der behaarten Brust. Na schön, ich kann jede Hand gut gebrauchen, aber gegessen wird daheim …

    Hynek spurtet nach einer Kanne Wasser und sein Vater schlägt sich so hastig Wasser ins Gesicht, dass er noch die grobe Wand hinter sich bespritzt. Er reibt sich die Achseln und geht schwerfällig zum Tisch, nimmt die Kluft vom Stuhl und wirft sie auf die Bettstatt. Er setzt sich und schaut um sich, als sähe er das hier zum ersten Mal oder als müsse er sich zuallererst vergewissern, dass alles an seinem Platz ist. Und ja, alles weilt im Dämmerlicht und erwidert den Blick des verschlafenen Hausherrn: das Muttergottesbild, die Stickerei, der Napf, der Kalender, an einem Tischbein kauert die schlafende Katze, an einem weiteren, nicht ganz so ausgezehrt, ein Lehmklumpen. Der landet nun auf der überall eingeritzten Tischplatte, und Hyneks Papa befeuchtet ihn.

    Alle Menschen sind aus Lehm, und aus Erde gemacht ist auch Adam, rezitiert er, bekreuzigt sich, zündet die Petroleumlampe an und fügt hinzu: Wir brauchen noch so zehn, zwölf.

    Dann geht er in den Hof und erleichtert sich.

    In der Stube herrscht Dämmerlicht, auch wenn erst Nachmittag ist, die Fenster sind klein, wichtiger als Licht ist beständige Wärme. Der Lehm gibt nach unter den Händen, seine Feuchte lockt zuweilen den Abglanz der Flamme an, du versuchst sie schnell hineinzukneten. Figürchen zu formen, fällt dir um einiges leichter als Hynek, du nimmst ein Stück Lehm in die Hand und rollst es zu einem Zylinder, den du dann weiterverarbeitest. Hyneks Vater lenkt dich manchmal und allein daran merkt man, dass er dich für den Fähigeren hält, denn bei Hynek muss er hinterher immer etwas ausbessern, auch sagt er fast nichts zu ihm. Du arbeitest mit einem kleinen Messer mit abgewetztem Griff, mit der Klinge trennst du Hände vom Rumpf und ein Bein vom andern, manch ein Bergmann soll breitbeinig dastehen, damit er sich ordentlich in den Fels stürzen kann, das ist der Häuer, der Aufseher steht nur so mit verschränkten Armen herum, und noch ein anderer wartet, bis sie ihm den Kohlenhunt beladen, das ist der Läufer mit wohlgeformten Beinen.

    In der Schule?, fragt Hyneks Vater.

    Fráňa musste in die Ecke.

    Ich frag nicht nach ihm, sondern nach dir.

    Ungerecht war das, macht Hynek weiter.

    Hynek war gut vorbereitet, sagst du und versuchst den Blick abzuwenden von dem deformierten Daumen mit dem zerfurchten Nagel, unter dem Hyneks Vater gerade den Dreck herauskratzt.

    Endlich wandert das Stufenwerk vom Bord direkt auf den Tisch. Du kniest auf einem Stuhl, um gut sehen zu können, du beugst dich vor, die Tischplatte drückt dir in die Rippen.

    Das Stufenwerk hat mehrere Stockwerke und misst gut über einen Meter. Wie ein ausgehöhlter Berg sieht es aus oder ein aufgebrochenes Wespennest, genau genommen braucht es ein wenig Vorstellungskraft zu begreifen, dass es sich in Wirklichkeit um das Modell eines Schachts handelt, gewissermaßen verkehrt herum. Auf den Jahrmärkten und den Heiligenberger Wallfahrten erscheinen bei Weitem besser ausgearbeitete Exemplare, mit hölzernen, filigran geschnitzten Figürchen und verschiedensten Vorrichtungen, die mit ausgefuchster Mechanik den Grubenbetrieb andeuten, die örtlichen Meister verdienen damit ordentlich was dazu. Aber auch im Stufenwerk von Hyneks Vater haben die Bergleute, die sich auf den einzelnen Ebenen herumfläzen, schöne Uniformen an und auf dem Hauptgeschoss sieht man glänzende Gleise, aus zwei Drähten zusammengefügt. Außen auf den Lehm sind Steine geklebt, Quarzbrocken, aufblitzender Glimmer und natürlich das Silbererz, Salz dieser Erde. Von oben führt der Hauptschacht hinab, in ihm deuten ein paar Holzstäbchen etwas ungelenk den Mechanismus der Fahrkunst und den Förderkorb an; die Fahrkunst sieht eher aus wie eine gewöhnliche Leiter. Aber was jeden zuallererst fesselt, das sind die Gesichter der Bergleute, mit gelber Farbe bepinselt, die diesen Männern der Tiefe einen leicht überirdischen Ausdruck gibt, wie ihn die Heiligen auf naiven Malereien haben. Kein Zufall ist das, die Hersteller der Stufenwerke haben alle von den Krippenbauern gelernt und manchmal siedelt ein Bergmanns- oder Pilgerfigürchen um, wenn in der Krippe oder im Schacht Aushilfe nötig ist.

    Am Tag, bevor es geschieht, fügt Hyneks Vater ein paar Homunkuli auf freien Plätzen hinzu, brummt etwas und nimmt noch letzte Ausbesserungen vor. Dann holt er einen Zweikilolaib Brot aus dem Ofen und setzt stattdessen die Schicht hinein, die ihr geknetet habt.

    Als ich geschlafen hab, habt ihr von der silbernen Stadt getuschelt, wirft er ein. Na, dann holt mir mal Bier …

    Auf dieser Seite von Příbram drängen sich armselige Bergmannshäuser, manchmal bloße Hütten, von einer zur nächsten führt ein schlammiger Weg mit einem Streifen Gras in der Mitte, es stinkt nach Tieren und Schweinefraß. Die Bergleute, die gleich wie Hyneks Vater bei der Frühschicht waren, kommen auf ihre Schwelle herausgekrochen, rauchen, basteln an etwas herum, die Frauen neben ihnen stillen ihre Kinder oder schneiden Kartoffeln in Töpfe, die Haare fest an der Stirn klebend, ringsum schnüffeln Hunde.

    Es ist Ende Mai, entlang des Wegs tretet ihr nach Pusteblumen, deren flaumige Köpfe nach allen Seiten davonfliegen.

    In der Wirtschaft lehnt ihr das Kinn gegen das hohe Schankpult, du nimmst den bitteren Geruch des Leckbiers und des übergeschwappten Schaums wahr. In deinem Mund lockert sich der letzte Milchzahn, schon seit dem Morgen kannst du nicht anders, als ständig mit der Zungenspitze darunterzufahren, wie ein Fisch versucht unter einen Stein am Flussgrund zu kommen. Auf der einen Seite ist es dir schon gelungen, ihn vom Zahnfleisch zu lösen, du spürst dein Blut und saugst es vermengt mit Spucke auf. Das Gasthaus ringsum lärmt, die Bergmänner spülen den Steinstaub von den Lippen in den Magen, damit nicht alles in die Lungen gerät, nächtens dann urinieren sie ihn schwermütig und schmerzvoll unter dem stattlichen Himmel heraus, aber du bemerkst nur den blutig süßen Innenraum deines Mundes.

    Auf dem Rückweg trinkt ihr ein wenig ab, auch Hyneks Papa schenkt euch etwas ein. Dann erzählt er von den Bergleuten, die vor langer Zeit schon dem Tode geweiht waren, als nämlich aus einem Felsen einige hundert Meter unter der Erde Wasser hervorstürzte und die Gänge in wilde Stromschnellen verwandelte. Nur dass sie in Wahrheit gerettet wurden, da sie fromm waren und inbrünstig beteten, und ihre hochwürdigen Nachfahren, die leben bis heute in der silbernen Stadt tief unter der Erde. Wenn sich die Zeit erfüllt, werden sie herauffahren und gepanzert mit silbernen Schilden Herrscher der Welt sein.

    Alles funkelt dort so sehr, dass eine einzige Petroleumlampe genügt, um den ganzen Platz zu bestrahlen, sagt Hyneks Papa. Und alle Pferde dort haben silberne Hufe, im weißen Feuer geschmiedet, und die klirren im Trab. Und auf so einem Pferdchen, das ist nicht wie unsere fertigen Grubengäule, blind vor lauter Dunkelheit, auf so einem Pferd sitzt also ein silberner Prinz, klipp-klapp, klipp-klapp, wenn der da durchreitet, da schaut sich jeder nach ihm um. Und dieser Prinz muss sich einen rostigen Harnisch anziehen und in dem die goldene Krone erkämpfen …

    Du kennst die Geschichte auswendig, aber gern hörst du sie immer von Neuem. Bei euch daheim nimmt man solche Bergwerkslegenden nicht ernst, nicht mal anzügliche Witze über Kobolde erzählt man sich da.

    Aber wie kommt er an die goldene Krone?, fragt Hynek wie gewöhnlich.

    Er muss durch einen Geheimstollen bis zur goldenen Stadt vordringen, die noch tiefer unten liegt, und sie von ihren Bewohnern erlangen.

    Im Geiste zählst du auf: Příbram, Birkenberg, Benešov, Prag, Wien, Silberstadt und Goldstadt, Paris, Petersburg …

    Am Tag, bevor es geschieht, holt ihr die Figuren aus dem Ofen. Du bist enttäuscht. Sie sind geborsten, verrußt und einige haben hässliche Köpfe, sie sehen aus wie die Schicht nach einem Grubenunglück, wie die Verzweifelten, die man aus der Tiefe gezogen hat. Ihr kühlt sie im Wasser ab, aber es bringt nichts, ihr wählt die drei besten aus, den Rest will Hyneks Vater dem Feuer überantworten. Dir tut es etwas leid um sie, einen Mohren mit aufgeplatztem Bein kannst du retten, aber die übrigen sechs enden in den Flammen, sie sind noch feucht, es zischt nur so.

    Deinen angeschwärzten Adam schlägst du sorgsam in alte Zeitung und machst dich auf den Heimweg. Durch die Straßen geht schon der Laternenanzünder, du schlenderst hinter ihm, von einer Straßenseite zur anderen, und vor dir leuchten die Lampen auf wie Bojen aus Licht.

    In der fünften Stunde öffnet der Schulleiter die Klassentür. Er nickt, räuspert sich, der Kantor springt herbei, hört ihn mit ernster Miene an und entlässt euch dann nach Hause, ihr müsst nicht mal die Klassenarbeit zu Ende schreiben.

    Auf dem Marktplatz spielen die Schülerinnen der städtischen Mädchenklasse Himmel und Hölle, die Krämer bauen ihre Buden ab und ziehen mit ihren Fuhrwerken davon. Du bist froh, früher als gewohnt nach Hause zu kommen, wenn du dir nur noch was kaufen könntest, allein für die drei Kreuzer in der Tasche bekommst du nicht viel, zumal du versuchst zu sparen. Du widerstehst allen Verlockungen und trottest durch die Prager Straße heim. Anstatt direkt hinaufzugehen, schaust du im Gemischtwarenladen deines Vaters vorbei. Dieser hat große gläserne Auslagen, um die sich Vater gerne kümmert, vor der Tür häufen sich die Weidenkörbe, weitere Waren hängen an Haken.

    Vater liest gerade den Horymír, man könnte jedenfalls meinen, er lese, in Wahrheit aber rechnet er schon seit ein paar Stunden, wie es sein kann, dass das Geschäft immer weniger einnimmt, obwohl sich die Verkäufe erhöhen, und auf den Seiten der Příbramer Wochenschrift für Unterhaltung und Belehrung macht er sich nur mit winziger Schrift Bemerkungen und notiert Zwischensummen. Aus blitzenden Augen streift dich sein Blick, er greift unters Pult und sagt: Aus welcher Hand möchtest du?

    Du zeigst auf eine, unauffällig tauscht er die Hände, um dich nicht unnötig zu quälen, und vor dir erscheint ein neuer Kohinoor.

    Der Bleistift ist lang und weiß und hat auf der einen Seite einen Radiergummi. Einen Stift mit Gummi hast du noch nie gesehen, obwohl du dich in letzter Zeit mit Stiften ziemlich auskennst. Auf dem weißen Lack steht in eleganten schwarzen Lettern jenes rätselhafte Wort Koh-I-Noor. Du läufst in das Zimmer hinterm Laden, wirfst die Schultasche ab und holst aus einem kleinen Leinenmäppchen einen metallenen Anspitzer hervor. Nach einem Moment schält sich eine lange hölzerne Girlande aus ihm hervor, wie immer wünschst du dir, du könntest den Bleistift auf einmal spitzen, wie Mama eine Kartoffel schält, aber das klappt kaum je, auch jetzt reißt der Streifen mit der weißen Kante mitten hindurch und schwebt zu Boden.

    Du rückst den Tisch zu dem kleinen staubigen Fenster, um bei besserem Licht zeichnen zu können. Mit Vergnügen drehst du den Stift zwischen den Fingern und betrachtest seine Spitze, als Einziges dreht sie sich nicht, du schlackerst mit der Zunge um den losen Zahn und denkst einen Augenblick daran, wie es sein kann, dass die Spitze sich nicht bewegt, du zögerst, ob du dich damit nicht dem Vater anvertrauen sollst, der auf solche Fragen die Antwort kennt und sich zudem freut, dass du fragst. Aber noch bevor du dich entscheiden kannst, stößt du auf ein anderes, viel schwerwiegenderes Problem: Ist in der Mine dieses Bleistifts schon alles enthalten, was man mit ihr zeichnen wird? Genügt es denn, es zur rechten Zeit aufs Papier zu schütten?

    So in deine eigenen Gedanken versunken, geht dir der Sinn des Satzes, den du vom Laden her hörst, erst mit Verzögerung auf: Im Marienschacht brennt’s.

    Es brennt? Wie meinen Sie das?

    Wir brauchen sofort Watte, Verbandszeug, Jodoform, Essig, und falls Sie haben, auch irgendwelche Schwämme.

    Warten Sie, sagt Vater, warten Sie mal. Und bitte schön, seit wann brennt denn der Fels?

    Die Zimmerung, gnädiger Herr. Das ist schließlich alles aus Holz. Der Ausbau des Schachts, die Leitern, Fahrkunst, das eingelagerte Material. Wozu wohl haben die dort Zimmermänner angestellt? Ehrlich gesagt brennt es dort wie Zunder am … – Sie wissen schon, wo.

    Wie Zunder am Arsch, ergänzt du im Geiste, aus bloßer kindlicher Freude am derben Wort; derbe Wörter gefallen dir, sie sind verboten, manchmal sagst du sie heimlich eins nach dem andern auf und wartest ab, ob etwas geschieht. Aber dafür ist jetzt keine Zeit. Du machst ein paar Schritte zur Tür hin, um festzustellen, wer es überhaupt war, der so ins Geschäft gestürzt kam. Durch den Türspalt erblickst du einen Mann in der Uniform der Freiwilligen Feuerwehr, der sich gerade den Schweiß von der Stirn wischt. Vater rast schon im Laden herum, häuft Waren auf das Pult und fragt dabei weiter: Wie ernst ist es?

    Die ganze Nachmittagsschicht ist dort, sagt der Feuerwehrmann außer Atem und öffnet einen Knopf am Hemd. Über achthundert Häuer.

    Achthundert?!

    Mit einer Hand wickelt sich der Feuerwehrmann ungeduldig die Brusthaare um den Finger, die aus dem aufgerissenen Ausschnitt blitzen, und mit der anderen stützt er sich aufs Pult: Manche von denen sind einen Kilometer weit drunten und haben ordentlich ein Feuer überm Hirn …

    Verbände sind aus, sagt Vater entschuldigend. Können die nicht irgendwie da raus?

    Da ist ein gehöriges Durcheinander, das feuert durch einige Stockwerke durch. Im Marienschacht sind noch dazu die Seile und die Zugstangen der Fahrkunst durchgebrannt.

    Vater stellt ein Paket großer Schwämme aufs Pult und flüstert: Um Gottes willen.

    Den Essig noch. Ohne in Essig getunkten Schwamm im Maul kann man da nicht runter.

    Hinter der angelehnten Tür verfolgst du heimlich das Gespräch, und Erregung überflutet dich. Du siehst den Förderturm, aus dem sich Rauch herauswälzt. Der lässt sich leicht zeichnen, der entspricht irgendwie der Handbewegung, die übers Papier tobt, und du hast unbändige Lust, den Block mit riesigen Rauchwolken zu bedecken, alles wild zu beschmieren und endlich den weichen Graphit mit den Fingern noch zu verwischen. Es brennt! Es brennt! Es brennt!

    Ich helf Ihnen tragen, sagt dein Vater, nachdem er alles in einen großen Korb gepackt hat.

    Machen Sie sich keine Mühe, lassen Sie lieber Ihr Geschäft offen, heut gehen wir nicht gleich in die Federn. In der Tür dreht sich der Feuerwehrmann noch mal um: Und wenn Sie noch ein paar Flaschen Rum für die Retter entbehren könnten, schicken Sie sie zu uns.

    Aber da stehst du schon neben Vater. Brennt es da ernsthaft wie Zunder am

    Der Feuerwehrmann nickt zustimmend, erst draußen auf der Straße wird er den Rest des Fluchs mit Genuss los.

    Kann ich denen das hinbringen, Vater?

    Du?

    Na die Rumflaschen.

    Wir schicken lieber Máňa, meinst du nicht auch?

    Aber es zeigt sich, dass niemand daheim ist, und so spurtest du schon fünf Minuten später die Prager Straße wieder zurück. Du stolperst über das Pflaster des Hauptplatzes, wo die Mädchen immer noch Himmel und Hölle spielen, und neigst dich ganz zu einer Seite wie ein überfrachteter Lastkahn, denn die sechs Flaschen Rum, eingeschlagen in den Horymír, damit sie nicht aus Versehen zerbrechen, sind zu schwer für dich. In der Eile ist es deinem Vater nicht eingefallen, dir zwei Taschen mitzugeben, um das Gewicht auszugleichen.

    Du gehst über den Karlsplatz, durch die Prokopstraße, auf der anschließenden Landstraße zwischen den Feldern steuerst du direkt auf das benachbarte Birkenberg zu. Die Nachricht vom Brand scheint sich so schnell ausgebreitet zu haben wie das Feuer selbst. Menschenschwärme haben sich aufgemacht. Die Häuer der Morgenschicht kommen, um nach ihren Kameraden zu schauen, begleitet von zerzausten, vom Ruß der schwarzen Küchen verschmierten Frauen, und die Kinder, die sie mit sich ziehen, halten kaum Schritt. Als du auf halber Strecke anhältst, um den schmerzenden Arm zu entlasten und die Tasche mit der anderen Hand zu nehmen, überflutet dich der Menschenstrom wie Wasser die Steine am Grunde eines Flusses. Mehr als auf den Weg schauen alle zum Horizont, denn dort wölbt sich ein Zeichen am Himmel: neben dem gemächlichen Rauch, der Tag für Tag aus dem Kamin der Hütte steigt, wälzt sich jetzt ein weiterer Kegel aus dem durchbrochenen Dach des Förderturms, um vieles dicker und dichter. Wie Auswurf spuckt er schwarzen Qualm, der sich als graue Patina über den blauen Himmel breitet.

    Ganz genau so hättest du das gezeichnet, aber daran denkst du schon nicht mehr. Du schließt dich zwei Mitschülern an, ihre Hände sind leer, also bekommt jeder eine Flasche zu tragen. Einer der beiden ist Bergmannssohn, in einem fort brabbelt er, dass in den Gruben nur das Wasser schaden kann, das kommt aus dem Felsen herausgesprudelt, überflutet den Stollen, sein Vater hat mal einen Onkel gehabt und den hat das Wasser weggespült wie Hühnerdreck. Und das Wasser, das löscht das Feuer, sagt er einige Male, es reicht ein paar Hunte zu füllen, nicht, dann aber schnappt in seinem Kopf plötzlich eine Weiche über und er fragt: Und könnt ihr überhaupt schwimmen? Man muss schon die Nase schön über Wasser halten, sonst läuft es euch da rein …

    Als ihr euch dem Grubenrevier nähert, reicht das Wegbett für die Menschenmasse nicht mehr aus, wie in einer Schwarmlinie drängen sich die Leute übers Feld und stapfen über das sprießende Korn.

    Die Welle trägt euch bis in den staubigen Vorhof des Annenschachts. Alle laufen hin und her, erschrocken und aufgebracht vom Unwissen darüber, was dort unten eigentlich los ist; die schwarzen Wolken und der Brandgeruch in der Luft verheißen nichts Gutes. Vertreter des Grubenrats, Feuerwehrleute, Ärzte und Samariter erteilen verworrene Instruktionen. Die verschiedenen Schächte spucken Bergmänner aus, die an ganz anderem Ort in den Berg eingefahren waren, so als spiele der Verdauungsapparat der größten Silbermine der Monarchie verrückt. Die Gedärme der Erde zerrten im Krampf aneinander und aus der Tiefe ist immer wieder das Läuten um Hilfe zu hören. Es wird allmählich deutlich, dass sich die Gruben in einen riesigen Ofen verwandelt haben und der Hauptschacht in einen gewaltigen Kamin.

    Unter Tage führen mehr als vierhundert Kilometer an miteinander verbundenen Gängen, Stollen und Sohlen, eine ganze unterirdische Stadt ist das, ein höllisches Labyrinth, daraus wird nur der Teufel schlau, ein riesiger Turm von Babel, gebaut in die Erde hinein.

    Gendarmen reiten über den Hof, doch der dichte Rauch und die aufgestörte Masse machen die Pferde scheu. Irgendein Besoffener geht unter den Leuten umher und spielt auf der Ziehharmonika, als wäre all das nur ein gutes Kabarett, bis einer sie ihm von der Brust reißt.

    Nur im Annenschacht hat sich der Rauch bislang nicht ausgebreitet. Fahrkunst und Förderkörbe laufen ohne Unterlass und spucken jetzt halb vergiftete Bergmänner wie sorgfältig abgelutschte Kirschkerne aus. Direkt vor den Augen der versammelten Menge winden sie sich in Krämpfen, erbrechen sich leer, ringen nach Luft sie haben Ruß im Mund, geschwollene Schleimhäute und scheußlich gurgelt es ihnen in der Lunge. Auch wenn sie dem Feuer entkommen sind, haben sie einen vergifteten Körper an die Oberfläche geschleppt, ihr Kopf rast und Schwindel sucht sie heim, wie ihr Blut voller Kohlenstoff vergeblich versucht, Sauerstoff zu binden.

    Manche stöhnen laut, andere starren in stummem Schock, wieder andere sind längst in die Bewusstlosigkeit gefallen. Die Frauen ringsum falten die Hände, beten, die Wörter in ihren Mündern zischen und wispern, als wänden sie sich selbst über heißes Gestein. Die Grubenärzte haben aus den nahen Häusern Betten herbringen lassen, in die sie jetzt direkt unter freiem Himmel die Verbrannten und Benebelten verstauen, auf den Kopf und auf die Brust legen sie ihnen eilig feuchte Umschläge und in ihre Kehle kippen sie Kognak zur Stärkung. Die in den glühenden Eingeweiden der Erde das Bewusstsein verloren haben, werden künstlich beatmet und bekommen Äther zu riechen. Rote Schleimhäute und kurzer Atem zeigen in allen Fällen eindeutig: akute Kohlenstoffvergiftung.

    Ganz genau, klatscht der Bergmannssohn, als sich die Nachricht vom Löschen des Feuers verbreitet. Lasst den Kater raus, er stört die Maus, sagt er, als er sich zu dir beugt und noch einen Schluck Rum verlangt. Drei Hunte Wasser und das Feuer ist passé, ich sag’s doch die ganze Zeit.

    Nur dass Rauch und Qualm eher zunehmen. Die Verbrennung bleibt unvollständig, anstatt dass das Holz schnell auf den Felsen herunterbrennt, paart sich das Feuer inzwischen in den finsteren Grotten wild mit dem Wasser und gebiert eine Wolke aus giftigen Dämpfen; später rechnet einer nach: aus einem Liter Wasser tausend Liter Dampf. Der Qualm erschwert die Rettungsarbeiten, es finden Versuche mit brennenden Fackeln statt, aber die Flamme überlebt nur bis zum achten Stockwerk, dann ersticken giftige Gase und mangelnder Sauerstoff das Licht.

    Und wo der Rauch das Licht der Flamme erstickt, erstickt er auch den Menschen.

    Aus der Tiefe ertönt ständig die Signalglocke, einträchtig rechnen die Leute an der Oberfläche aus, um welches Geschoss es sich handelt. Du zählst mit ihnen, manchmal gar bis dreißig. Nur geschieht es oft, dass sich einer verzählt, entweder ein halb vergifteter Verzweifelter, der dort unten mit letzter Kraft um Rettung läutet und dem die Nummern in einem Mückenschwarm vor Augen tanzen, oder der erschöpfte Fahrkunstdienst, bei dem in dem Chaos alle Verantwortung liegt.

    Du nippst auch noch etwas am Rum, dann gibst du die Flasche aber dem ersten Samariter, auf den du stößt: Mein Herr Vater, der František Drtikol, Inhaber des Gemischtwarenladens auf dem Wenzelsplatz in Příbram, schickt den Rettern diesen Rum, bricht es aus dir heraus.

    Grazie, ragazzo, Alkohol wirkt Wunder, sagt der Samariter beiläufig und legt die Flasche an. Und wohl um es unter Beweis zu stellen, macht er sich wie mit Lebenswasser übergossen über den nächsten herausgeholten Häuer her.

    Ganz in sich zusammengefallen, war der mit einem Förderwagen heraufgefahren, da seine Beine wie zwei Schilfrohre weggeknickt waren. Im Kopf hat er einen regelrechten Wirrwarr, vor seinen Augen schwankt der Hof von einer Seite zur anderen, als der Schwindel ihn heimsucht. Du siehst, dass sein Gesicht verbrannt ist, ein Auge rot und eines verklebt, Lippen und Ohren sind blau angelaufen. Die Hände drückt er im Krampf gegen den Körper und macht es dem Samariter schwer, überhaupt die Finger zwischen Hand und Rumpf zu bekommen, um das Handgelenk zu ertasten.

    Schwacher, unregelmäßiger Puls, verkündet er, wir müssen schnell was in ihn reinbekommen.

    Du deutest das als Fingerzeig und springst heran. Der Häuer drückt nicht nur die Hände gegen die Brust, sondern presst auch krampfhaft den Kiefer zusammen. Der ganze Ärmel der Bergmannskluft ist aufgerissen, durch das Loch schimmert eine Wunde auf, aus der karminrotes Blut rinnt. Unerklärlicherweise hat ihm jemand den Lederschurz um den Hals gebunden und als Latz unter die Uniform gesteckt. Der Samariter löst vorsichtig die Schürze aus dem Ausschnitt, die blutverklebten Brusthaare bleiben daran hängen, es muss wehtun, aber der Mann nimmt nichts wahr.

    Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihm den Kiefer aufzusperren, urteilt der Samariter. Ich drück ihm den Spachtel zwischen die Zähne und du kippst ihm eine Portion Rum in den Rachen. Verstanden? Und versuch, schön weit rein zu zielen. Er stemmt ihm den Kiefer auf und aus dem offenen Mund, in dem die meisten Zähne fehlen, weht ein fauliger Geruch; auch die Zunge des armen Kerls ist schwarz, als sei sie ihm im Mund abgefault. Erst kleckerst du ihm Rum über Kinn und Hals, dann aber triffst du direkt in die dunkle Höhle inmitten des beinahe menschlichen Gesichts.

    Den Mann durchschüttelt ein mächtiger Krampf und er erbricht sich zu deinen Füßen.

    Man trägt ihn zu den herausgeschleppten Betten und aus der Ferne beobachtest du, wie er weiter behandelt wird. Wieder messen sie ihm den Puls, wischen ihm mit einem Schwämmchen übers Gesicht, der Arzt beugt sich über die Wunde und versucht die Blutung zu stillen. Für einen Moment bäumt sich der Mann jäh auf, sinkt zurück und richtet sich erneut auf, der Arzt drückt ihn auf die Pritsche zurück und tätschelt ihn dann, wie man ein Pferd zur Ruhe bringt.

    Daneben liegt ein Mann, der schon behandelt wurde, den ganzen Kopf verbunden, sieht er aus wie eine Mumie. Du kannst nicht aufhören, ihn anzustarren. Aber du bist unachtsam, und als eure Augen sich treffen, nickt der Mann dir zu. Widerwillig nur trottest du zu ihm hinüber, er keucht etwas, packt dich dann an der Hand und zieht dich brüsk zu sich. Du sollst seine Frau finden. Du wirst sie erkennen … atmet er schwer, sie ist schwanger … der Bauch … wie eine Trommel, ringt er sich zu einem schiefen Lächeln hindurch. Zázvůrková, haucht er.

    Du weißt überhaupt nicht, wie du in der allumfassenden Unordnung jemanden finden sollst, und du versuchst es auch gar nicht. Du stehst inmitten des Gewirrs wie in Verzückung, nichts dergleichen hast du je gesehen. Du hast höchstens mit angesehen, wie eine Ziege gebiert oder wie man Hühner schlachtet, wie die Katze einen Vogel erjagt und bis auf die Knochen auseinandergenommen hat, oder den hässlich verformten Daumen von Hyneks Papa. Entgeistert schaust du um dich. Später wirst du das ordentlich durchdenken müssen, das meiste davon wird dir abends im Bett einfallen, wenn dein Geist über dir an einer dünnen Leine flattert wie ein Drache in der Luft; und wie einem solchen Drachen darfst du deinem Geist Brieflein mit Fragen schicken, auf die nicht einmal Papa die Antwort weiß.

    Und in dem Moment erblickst du sie. Sie sieht zwar etwas älter aus, als du es von der Frau dieses Mannes erwartet hättest, aber vielleicht ist es nur der harte Gesichtsausdruck und die gekrümmte Haltung, die ihr ein paar Jahre dazugeben. Auf jeden Fall schiebt sie einen großen Bauch vor sich her, es scheint, sie könnte jeden Tag gebären; das Kind trägt sie unterm Herzen wie ein Gewicht, das sie zu Boden zieht. Sie hat gar keine Brust und überhaupt sieht sie völlig ausgedörrt aus, als hätte sie ihre ganze Feuchte schon in ihre Leibesfrucht gegossen und wäre selbst austrocknende Hülle geworden, Membran, Wabe. Ihr Gesicht ist wie eine Dörrpflaume, ihre Augen tief eingesunken.

    Du brauchst eine Weile, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Offensichtlich sucht sie ihren Mann, sie schaut sich nach allen Seiten um. Gnädige Frau Zázvůrková …? Du würdest sie am schwarzen Kittel ziehen, aber du möchtest sie nicht berühren.

    Zázvůrková, sagst du? Endlich bemerkt sie dich. Junge, sucht mich jemand?

    Ihr Ehemann.

    Ach, mein Mann … sie legt die Hände auf den Bauch und schließt für einen Moment die Augen.

    Du zeigst zum Feldlazarett hinüber.

    Recht hast du, ich geh gleich schauen. Sie duckt sich noch mehr, bis es aussieht, als wäre sie aus zwei s-förmigen Bogen gebaut, vorne der riesige Bauch, hinten der große Buckel. Aus der Entfernung siehst du, wie sie zum Bett des Mannes tritt, der unterdessen vor Erschöpfung eingeschlafen ist, und seine Hand in ihre legt. Sie küsst ihn auf die Stirn, legt sich seine andere Hand auf den Bauch und flüstert ihm etwas zu.

    Zázvůrek, flüstert sie. Jetzt bin ich da, dein Weib …

    Den späten Nachmittag über werden aus der unterirdischen Lostrommel mehrere Tote geborgen. Die Menschen drängen sich um sie wie Metallspäne um einen Magnetstab. Nichts wirkt so anziehend wie der Tod, er ist ein wahres mysterium tremendum et fascinans, und auch du lässt dir diesen Anblick nicht entgehen. Du drückst dich zwischen den Erwachsenen hindurch nach vorne, auch du willst endlich einen Toten sehen, denn auch die ungestümste kindliche Fantasie reicht da nicht hin.

    Und du hast Gelegenheit: Der erste Tote ist der Läufer Václav Sladký aus der nahen Gemeinde Kamenná. Sie haben ihn aus dem achten Stockwerk heraufbefördert, aus dem achten Höllenkreis der Grube Vojtěch, er ist neunundzwanzig Jahre alt; identifiziert wird er von seiner Frau, die sich gleich darauf in den Schlund des Vojtěchschachts gestürzt hätte, wären nicht geistesgegenwärtige Retter zur Stelle gewesen, um sie davon abzuhalten. Der zweite Tote ist der siebenunddreißigjährige Häuer Václav Krotký, als wolle jemand mit der Übereinstimmung der Namen Sladký und Krotký, Süß und Zahm anmerken, dass zuerst die Unschuldigen an der Reihe sind. Als dritter Toter wird der Steiger Antonín Pešek herausgezogen, er hat erst am Vortag seinen Fünfzigsten gefeiert und hatte es trotzdem abgelehnt, die Frühschicht gegen die Nachmittagsschicht zu tauschen; der Tod ereilte ihn im siebzehnten Stockwerk der Annengrube, wohl achthundert Meter unter der Erde und dreihundert Meter unter dem Meeresspiegel. Antonín Pešek starb bei der Rettung des vierten und fünften Toten, der Häuer Jan Renner und Jakub Kalík. Der achtunddreißigjährige Vater dreier Kinder Augustin Míka ist der sechste Tote; er lebte direkt in Birkenberg, und so rottet sich um den reglosen Körper die doppelte Menge an Wehklagenden, die sich anfangs weigern, dass der Körper in die Aufbahrungshalle gebracht wird, die auf die Schnelle im Scheidehaus der Vojtěchgrube errichtet wurde. Der siebente Tote ist der sechsundzwanzigjährige Läufer Jan Vítek, das einzige Opfer aus der Gemeinde Malá Pečice. Und schließlich ist der letzte Tote dieses ersten Tages der junge kinderlose Steinfasser František Havelka; nur mit größter Mühe bestätigt der weinende Vater die Identität seines Sohnes.

    Am Morgen erwachst du ungewöhnlich spät. Du erschrickst, ob du nicht die Schule verschlafen hast. Aber daran wäre deine Schwester Ema schuld, deren Aufgabe es ist, an dir zu rütteln wie an einer versperrten Tür, bis du dich im Bett aufsetzt und sagst: Engelchen, du Wächter mein, hüte meine Seele fein. Für gewöhnlich haspelst du es mit verklebten Augen herunter, um noch ein paar Minuten Schläfrigkeit einzustreichen, und in der Küche tauchst du nicht auf, bevor nicht das bedeutungsvolle Klappern der Löffel zu dir dringt. Nur dass heute nicht gerüttelt wurde. Mit einem Blick versicherst du dich, dass Ema ruhig im gegenüberliegenden Bett schläft, eine Locke bis übers Handgelenk gefallen, und neben ihr die ältere Máňa. Der Unterricht an allen Schulen wurde durch einen Generalerlass des Schultheißen abgesagt.

    Du öffnest die Stubentür, deine Eltern sitzen schon um den Tisch und frühstücken.

    Undenkbar ist das, dass sobald Vater dich sieht, behält er den Rest des Satzes für sich.

    Geh und weck Máňa, sie geht heut für deinen Vater in den Laden, sagt Mama. Sie hat blaue, schmerzhaft gute Augen.

    Und wir gehen nach Birkenberg und schauen, ob du dir das nicht alles nur ausgedacht hast, zwinkert Papa. Gestern hat er dich zwar noch geohrfeigt, dass du nicht gleich heimgekommen bist, aber das war nur die Pflicht. Du kannst solange zeichnen, fährt er fort, wenn du heute keine Schule hast. Hier, du hast gestern im Laden was vergessen. Du greifst nach dem Bleistift, aber mitten in der Bewegung erstarrst du: Papa, das ist er nicht.

    Nein? Wie das?

    Ich hatte ihn gespitzt, sagst du und zeigst auf die stumpfe Spitze. Und erinnerst dich gleichzeitig an die Frage, die dir durch den Kopf spukte, bevor der Hilfsfeuerwehrmann deine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Papa, ist in der Mine von dem Stift schon alles drin, was man mit ihr zeichnen wird?

    František Drtikol der Ältere schaut amüsiert zu seiner Frau Marie hinüber; diese Fragen kennen sie schon. Das war der Grund, warum er sich nach zwei Töchtern inständig einen Sohn wünschte. Töchter bedeuteten für ihn hauptsächlich Sorgen, ihre Erziehung überließ er der Mutter, von ihr sollten sie lernen, wie was in der Küche zu tun sei, sich um Haus und Hof zu kümmern, zu waschen, zu nähen und so fort, kurz sich ins Leben gut hineinzuarbeiten; doch auch wenn das gelingen sollte, bedeuteten sie eine Last, zwei Töchter, das ist auch zweimal eine Mitgift. Immerhin sind sie zuerst auf die Welt gekommen, so konnten sie dein Kindermädchen sein, für dich, in den er bei Weitem mehr Hoffnung setzte. Er hielt es für selbstverständlich, dass du nach der Grundschule auf das Realgymnasium und dann auf eine höhere Schule gehen würdest. Er selbst hatte zwar keine besondere Ausbildung genossen und ist im Leben Macher geblieben, aber Bücher haben ihn über andere Welten aufgeklärt und über die Schönheit des Spekulierens. Daher beunruhigten ihn deine gelegentlichen Konzentrationsschwierigkeiten, und auch die Klagen der Lehrer, du seiest vor allem im Faulenzen ein Champion.

    Der Stift ist stumpf, erklärt er, weil ich gestern Abend damit notiert habe, was ich alles bestellen muss. Und was alles mir die Bergwerksleitung zu erstatten hat. Dann hebt er den Zeigefinger: Und was deine Frage betrifft, darauf gibt es keine einfache Antwort.

    Du nickst, nichts anderes hast du erwartet, und reckst dich nach einer Scheibe Brot.

    Nimm dir Powidl dazu, brummt Mama und schiebt dir das Glas unter die Nase.

    Du weißt, jeder Mensch hat von Gott eine Seele bekommen, sagt Papa. Und manche behaupten, dass in der Seele eines Menschen alles Wichtige, was ihm im Leben begegnet, gespeichert ist. Es ist dort, noch bevor es geschieht, verstehst du? Und mir scheint, deine Frage will auf etwas Ähnliches hinaus: du fragst, ob in der Mine des Stifts schon vorher drin ist, was du mit ihr zeichnen wirst. Das ist doch etwas Ähnliches, oder?

    Du zuckst mit den Schultern.

    Aber ja doch. Den Vater verdrießt es, dass du keine ordentliche Zustimmung geäußert hast. Und gerade deshalb ist die Antwort auf diese Frage so schwer weil das im Grunde eine theologische Frage ist, sagt er und reibt sich die Hände, zufrieden mit seiner Auslegung. Theologisch, das bedeutet, dass sie mit Religion zu tun hat, präzisiert er. Nun, und wie würdest du selber darauf antworten?

    Du überlegst, die Brotschnitte auf halbem Weg zum Mund. Erst hab ich gedacht, ja. Es kam mir so vor, als würde es ausreichen, die Spitze aufs Papier zu drücken, es nur so aufs Papier herauszuschütten. Aber ich hab überhaupt nicht gewusst, gibst du zu, dass Ihr mit diesem Stift die Bestellung schreibt.

    Aber genau das ist es ja!, freut er sich. Und ich frage dich: Was denkst du? Hat jemand gestern früh gewusst, dass ein paar Stunden später im Marienschacht eine Feuersbrunst ausbricht? Hatte jemand auch nur die leiseste Vorahnung?

    Die Líba Krotká hat mir erzählt, dass es ihr schon den ganzen Tag in den Knochen gekribbelt hat, obwohl so schönes Wetter war, mischt sich Mama ein.

    Die Líba Krotká, na klar, grinst Vater. Gerade weil wir die Welt so wenig kennen, denken wir uns verschiedenste Zeichen und Aberglauben aus. Und wenn du meine Meinung hören willst, und nicht so ein Altweibergewäsch, dann wissen wir nichts im Voraus. Überhaupt gar nichts, wiederholt er. Die Zeilen im Buch der Welt sind leer auf den Seiten, die wir noch nicht gelesen haben.

    Mama versteht, dass der Denksport zu Ende ist, und beginnt, den Tisch abzuräumen. Wie schon oft hat sie sich gefragt, warum diese philosophische Laune ihren Mann zumeist beim Frühstück befällt, sie rechnet das für gewöhnlich der Nähe zu einem Traum an, der sich noch nicht ganz verflüchtigt hat … Dann geht ihr auf, dass immer noch niemand Máňa geweckt hat, und sie schlägt die Hände überm Kopf zusammen: Das ist immer ein Gerede und dabei vergessen wir um ein Haar, Luft zu holen!

    Du überredest sie, dich mitzunehmen. Als ihr in Birkenberg anlangt, scheint es, als habe ein Teil der Menschen im Vorhof übernachtet. Einige Tücher liegen noch am Boden herum, wie die Frauen sie unter sich ausgebreitet hatten, bevor sie wer weiß wohin davongelaufen sind; auf einem zeichnet sich ein staubiger Fußabdruck ab, auf einem anderen angetrocknetes Blut. Ein Mann holt auf einem der Betten für Verwundete Schlaf nach, weitere Leute sitzen ohne erkennbares Interesse am Geschehen um sie herum auf den Grasstreifen, mag sein, nach der langen Nacht hat sie die Erschöpfung übermannt, oder sie wissen schon um ihr Los. Ihr erblickt auch ein paar Frauen, die schlafwandlerisch über die Halden irren, als könnten sie ihre Männer dort im Gestrüpp oder unter dem ausgefahrenen tauben Gestein finden.

    Es war nicht gelungen, das Feuer bis zum Abend zu löschen, aber der Rauch hat sich über Nacht doch ein wenig verzogen, sodass die Rettungstrupps im Morgengrauen unter die Erde aufgebrochen sind. Schon auf der Landstraße seid ihr Frauen begegnet, die sich über Nacht die Augen ausgeweint haben, an deren Stelle nur dunkle Öffnungen voller Bestürzung klaffen. Und bald habt ihr erfahren, warum: während gestern die Zahl der Geretteten jene acht, neun Tote deutlich überstieg, hat sich das Verhältnis in der Nacht böse umgekehrt. Der Untergrund verwandelte sich in ein Schreckenshaus, aus dem man seit dem frühen Morgen verstaubte und verrußte Körper in sonderbaren Posen heraufgeholt hat.

    Halbherzig verdeckt Mutter dir auf dem Hof die Augen, aber lange hält sie es nicht durch.

    Er soll das ruhig sehen, sagt Papa betrübt. Immerhin herrscht hier mehr Wahrheit als … hmm.

    Es kommen Tote zum Vorschein, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. An aufgeplatzten Schädeln trocknet Blut, Gesichter sind verwandelt in gestaltlose Gerinnsel, von Rümpfen blieben nur Fetzen.

    Und so stehst du zwischen deinen Eltern, ein neunjähriger Bub, einträchtig verfolgt ihr dieses herausgestülpte Panoptikum. Jemand erscheint in unnatürlichem Kniefall, die Kleider mit dem Körper verschmolzen. Ein anderer hat den Mund voll Lehm und Sand und das Gesicht so zerfetzt, dass er erst an seiner Taschenuhr identifiziert wird, auf der die Zeit genau dreizehn nach Mitternacht stehenblieb. Ein weggeschmolzener Körper wird am Verlobungsring erst von der erkannt, die den gleichen an der Hand trägt, woraufhin sie in Ohnmacht fällt. Das Licht der Welt erblicken auch zwei nackte Körper, in der Umarmung zusammengebacken, anhand ihrer Größe als die Brüder František und Václav Melichar ausgerufen; die wiederum finden Retter später anderswo, und so kommt heraus, dass es zwei Fremde waren, die sich im Augenblick des Todes so fest umarmten, dass sie zusammenbuken. Jemand wird mit fromm verschränkten Händen gefunden, als habe er sich im Moment des Todes erinnert an das biblische beati mortui, qui in Domino moriuntur. Ein anderer trägt auf dem Gesicht die grässliche Maske des Todes, verbrannte Haare und Brauen, aufgeplatzte Augäpfel und vor Schreck zerbissene Lippen.

    Gleichzeitig verbreitet sich die Kunde von Szenen noch unter der Erde, dort kauern die glücklicheren Toten in Felswinkeln oder lehnen sich gegen die Wand, als schlummerten sie nur ein Weilchen, und die weniger glücklichen hängen an der Schachtzimmerung wie Gehenkte oder wurden nach langem Fall an seinem Grunde zerschmettert.

    Während deine Eltern weiter das Grubenrevier durchstreifen, darfst du zeichnen. Du freust dich, endlich deinen neuen weißen Kohinoor mit dem Radiergummi ausprobieren zu können. Du rennst auf einen erhöhten Grasstreifen, von dem aus du einen Überblick über die Szenerie vor dir hast, und lehnst einen festen Bogen Papier gegen die Knie.

    Es gefällt dir, so von oben herab zu schauen. Es weckt in dir eine gewisse ferne Ruhe als Gegengewicht zu dem unübersichtlichen Brodeln und Wehklagen da unten. Seit dem Morgen strömen weiter Leute auf den Hof, sodass er um neun Uhr so voll ist wie gestern am Nachmittag. Wie ein Ameisenhaufen sieht das von hier aus, nicht Einzelwesen in Bewegung, sondern die Bewegung selbst, ein sich selbst verzehrendes Wimmeln. Wenn du jemanden Bestimmtes verfolgen möchtest, musst du deine Aufmerksamkeit auf ihn richten, auf jenes Mädchen, das sich ziellos durch die Menge windet, gelegentlich bei jemandem für einen Augenblick anhält, stumm gestikuliert und weitergeht; es sieht so aus, als sticke sie mit ihren kurzen, vom Rock behinderten Schritten auf den Hof

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1