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About this ebook

Durch einen Zufall entdecken Inga und Mette, die eine aus Berlin, die andere aus Norwegen, dass ihr Leben durch die Geschichte ihrer Eltern schicksalhaft verwoben ist. Ihr Aufbruch zueinander wird zu einer wahrhaften Seelenreise und führt sie an Grenzen, die sie gar nicht erkunden wollten: Sehnsucht stößt auf Angst, Missverständnisse lauern überall.

In diesem deutsch-norwegischen Familienroman stecken die Lesenden einmal in Ingas, dann wieder in Mettes Kopf. Spannungsreich und einfühlsam schildert Karin Nohr Wendepunkte im Leben zweier Frauen und berührt dabei wunde Punkte zweier Nationen.

"Das Buch bringt uns ins Rätseln über unsere eigenen Familiengeheimnisse. Großartig."
Knut Werner-Rosen, Lyriker, Historiker, Künstler
LanguageDeutsch
Release dateAug 1, 2019
ISBN9783957712554
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    Kieloben - Karin Nohr

    rechten.

    Teil I

    Kapitel 1: Flatskær

    Das Fest

    Tat das weh. Inga trat vom Regal zurück, ließ das Staubtuch fallen und rieb ihren Spann. Den blauen Fleck würde man beim Fest noch sehen. Ausgerechnet das dicke Gesangbuch! Flappende Deckel, gerissener Buchrücken, vorn und hinten ein verblichenes Stempeloval: Aus allen seinen alten Poren roch das Buch nach Kindheit. Offenbar hatte sie es damals mitgehen lassen.

    Liebster Jesu, wir sind hier, dich und dein Wort anzuhören … Hallo, wir sind hier, die Niemann-Kinder. Wieder hier. Immer hier. Die Zwillinge vorne weg, die kleine Schwester hinterher. Lenke Sinnen und Begier

    Samstag würde sie die Brüder testen, ob sie es auch noch herunterrasseln konnten. Wenn sie denn kämen. Die Einladung war ein Versuch. Wie das ganze Fest. Auf das jetzt alles zusteuerte wie ein Schiff auf den Leuchtturm.

    Inga schob das Gesangbuch in die Lücke zurück und stieß an etwas Metallisches.

    »Zeig mal.«

    Sebastian war so leise hereingekommen, dass Inga zusammenfuhr.

    »Das stand doch früher auf Vaters Schreibtisch.«

    Wortlos überreichte ihm Inga das Metallschiffchen, das sie hinter der Bücherreihe hervorgezogen hatte, eine Sparbüchse der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Zackige Buchstaben auf weiß-rotem Leib. Friedrich hatte sie besorgt. Aber der Unfall war an Land passiert.

    Sebastian drehte sie hin und her, dass die Münzen darin schepperten, und wandte sich zur Tür:

    »Kann ich es haben?«

    Inga nickte:

    »Habt ihr die Deutschklausuren zurückbekommen?«

    »Ja.«

    »Und?«

    »Wie immer.«

    Der Abiturient mit dem Bötchen. Bis zu Friedrichs Tod war Sebastian sportlich, faul und schlagfertig gewesen. Seinem losen Mundwerk hatte er mehrere Tadel zu verdanken. Nach Friedrichs Beerdigung hatte er Pfeiffersches Drüsenfieber bekommen, lange das Bett gehütet und war in Büchern verschwunden. Seit der Genesung schrieb er nur noch Bestnoten und brachte unaufgefordert den Müll hinunter.

    Inga schüttelte das Staubtuch aus. »Wir lassen alles, wie es ist«, hatte Sebastian gesagt, als Inga begonnen hatte, Friedrichs Kleidung wegzugeben. »Du meinst, auch in den Schränken?« Mehrfach hatte sie gesehen, wie er an Friedrichs Morgenmantel roch, den er schließlich übernommen hatte. Aber manches hatte ersetzt werden müssen, zum Beispiel das Auto. Anderes nicht: die Datsche in der Uckermark, auch wenn sie selten hinfuhren. Und manches tauchte plötzlich wieder auf. Wie das Bötchen. Nur der Mensch blieb weg.

    »Natürlich feierst du deinen Fünfundfünfzigsten.« Vorsichtig hatte Inga Sebastian den Plan vorgetragen. Die erste große Einladung nach Friedrichs Tod. Konnte sie überhaupt noch feiern? Würden die alten und die neuen Kollegen zusammenpassen? Seine Antwort hatte sie überrascht. Ganz der Unterstützer. Er hatte sogar einen Auftritt seiner Band angekündigt. Von sich aus Cousin Benny eingeladen. Offenbar war ihm das Fest recht. Wo sie selbst ihren Entschluss alle naselang verfluchte.

    Mit einem leichten Ruck wandte sich Inga dem Regal zu. Sie hatte einen runden Geburtstag, Friedrichs Tod lag fast sechs Jahre zurück, Sebastian wurde erwachsen. Gestern hatte er beim Skypen mit Benny sein Flugticket geschwenkt wie ein Fähnchen: »Up nach Down Under! Bald ziehe ich los.« Es hatte nach großem Los geklungen.

    Unterwegs

    Durch zusammengekniffene Lider betrachtete Inga die schimmernden Zacken der eben noch dunklen hohen Felsen: unwirklich, dieser Dreh ins Schöne. Soweit das Auge reichte, glitzerten Wellen und sprühten Funken, als wenn es nie Regen und Nebel gegeben hätte.

    Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Durch die Haut schimmerte es rot, im Rücken vibrierte der Motor: Zum ersten Mal seit ihrer Abreise aus Berlin fror sie nicht. Bald würde sie auf ihrer Ferieninsel sein, vorbei das Gehetze. Nichts als ein Ablenken war die Reise bisher gewesen. »Sei doch froh, dass Sebastian nicht im Hotel Mama hockt.« Ulrike hatte sich Mühe gegeben, aber es half wenig. Nach seinem Abflug war alles hopplahopp gegangen: buchen, Wanderstiefel einlaufen, Rucksack vollstopfen und in letzter Sekunde Kronenscheine einwechseln. Für ein Bahnticket war keine Zeit geblieben. Statt im Zug nachzulösen, hatte sie plötzlich Plätze gewechselt, nach allen Seiten hin sichernd. Als ob der Rucksack sie in ein Tier verwandelt hätte. Bis doch ein Schaffner mit der ganzen Macht der Uniform vor ihr gestanden hatte. »Ich bin schon zweimal kontrolliert worden!« Ihr Herz hatte gewummert. Ab Dänemark hatte sie brav bezahlt. Das war schließlich Ausland. Danach hatte sich alles beruhigt. Nur nicht das Wetter. Mit jedem Kilometer war es gefühlt ein Grad kälter geworden.

    Immerhin hatte sich Frau Richters Geunke nicht bewahrheitet: »Per Zug und Rucksack? Norwegen ist auf Autotouristen eingestellt. Auf dem Hurtigschiff kriegen Sie im Sommer ohne Vorausbuchung keinen Platz.« Von wegen. Außenkabine auf Anhieb, nirgendwo Schlangen. Auch hier auf der kleinen Fähre war wenig los. Kein Wunder bei dem Eissommer.

    Vom Bug aus winkten Kinder einem Segelboot dicht neben der Fähre zu, drei Jungen wedelten mit einer Piratenflagge zurück, der Yachtskipper rief dem Fährenführer etwas zu: alle wie aufgedreht durch das gute Wetter. Inga knüllte den Anorak hinter dem Kopf zusammen und schloss erneut die Augen. Weder der Vater noch einer der Zwillinge hatte sich je zum Segeln hier hochgetraut, wo unter lastenden Wolken Gletscherzungen am Meer leckten. Hinter der regennassen Kabinenscheibe ihres Hurtigschiffs waren in den letzten Tagen mit den vielen Fjorden und Wasserfällen all die Jahre vorübergezogen, in denen keiner gemerkt hatte, wie der Tod an Friedrich schon Maß nahm: Inga und er in der mündlichen Prüfung, müde nach den Nachtdiensten, stolz vor dem Schild ihrer gemeinsamen Internistenpraxis, mit unsicheren Blicken beim Notar für das Haus in der Uckermark. Der Ring auf dem Schwangerschaftstest, Friedrichs Tränen bei der Geburt, Sebastians erster Schrei. Das Rattern der Rotoren, als der Rettungshubschrauber mit Friedrich abhob, Sebastians aufgerissene Augen, sein Weglaufen vor dem ausgehobenen Grab, seine Monate in Krankheit, ihre in Schlaflosigkeit. Die neue Kollegin an Friedrichs Schreibtisch mit dem DGzRS-Bötchen darauf. Der plötzliche Entschluss, ihr die Praxis ganz zu übergeben, eine andere Arbeit anzunehmen. Der Empfang bei der Rentenversicherung, Frau Richters Gesicht mit den radikal ausgezupften Augenbrauenhärchen und dem aufgemalten, hochgezogenen Bogen: »Willkommen im Medizinerhades. Hier gibt es keine Patienten, hier gibt es nur Akten.« Gelesen hatte Inga wenig. Geschlafen viel. Fotografiert gar nicht. An Deck nur gefroren.

    Sie wischte einen Gischtspritzer von der Wange und schaute um sich: Die Fähre hatte den Kurs geändert. Ein kleines, auf einer einzelnen Schäre stehendes Leuchtfeuer kam in Sicht, weiß mit rotem Dach, ein munteres Ausrufezeichen: Hier entlang! Vor ihnen lag schon Leika, flach ausgebreitet, mit einer geduckten Ortschaft um den Hafen herum und einzelnen farbigen Holzhäuschen auf den felsigen Ausläufern, die sich, von oben betrachtet, wie die Arme eines großen Seesterns ins Meer schoben und Buchten über Buchten formten.

    In gemächlichem Bogen drehten sie auf den Anleger ein. Inga bückte sich nach ihrem Rucksack und gesellte sich zu den Wartenden am Absperrgitter. Grün wie eine Verheißung schaute die Insel aus dem freundlichen Licht. Nicht wie etwas, das man bezwingen musste. Mit einem Naturhafen, die Mole von Menschenhand verlängert. Sinnvoll, fürsorglich. Inga spürte, wie etwas Hartes in ihr nachgab, das all die Jahre da gewesen war. Ein irgendwie schwerwiegender, aber unauffällig ablaufender Vorgang.

    »Inga?«

    Ein kräftiger alter Mann nahm ihr den Rucksack ab und verstaute ihn in seinem verstaubten Jeep. Mit vorher zurechtgelegten Worten hatte Inga ihn auf Norwegisch begrüßt. Der Vermieter fragte in krausem Deutsch zurück, ob sie zum Singen nach Leika gekommen sei. Umschweifig berichtete er von einem alten deutschen Musiker, der im Jahr zuvor den Chor auf Vordermann gebracht habe:

    »Ein Frauenmann. Sehr beliebt. Alle sieben Witwen der Insel kamen.«

    »Witwe bin ich auch, aber singen tu ich nicht.«

    Der Musiker sei »kein Schießer« gewesen, fuhr der Alte fort, als ob er Inga nicht gehört hätte. Auf eigenem Kiel sei er von Deutschland hier hochgesegelt gekommen, ganz allein:

    »Singen nicht alle bei euch? Ach, was erzähle ich! Ich bin ein Salat.«

    Ehe Inga eine Antwort fand, knirschten schon die Reifen auf der Kieszufahrt, die in einen kleinen Platz auslief.

    Im Vergleich zur Internetseite hatte das Feriendomizil weniger Hochglanz: ein stumpfrotes Häuschen mit weiß abblätternden Simsen, das Klo im Anbau, neben der Eingangstür eine frisch gestrichene Bank. Stolz präsentierte der Vermieter im Garten die neu gebaute Sauna. Weiter unten – vage deutete er mit dem Arm die Richtung an – liege ein Boot, falls sie angeln wolle. Oder zum Einkaufen fahren. Der Weg über Land sei doch ziemlich weit. Er lächelte schief; wahrscheinlich wunderte er sich, dass sie ohne Partner reiste, ohne Freunde, ohne Kinder. Nach dem Abschied stieg er noch einmal aus dem Wagen, um ihr seine Handynummer zu geben:

    »Wenn du etwas brauchst!«

    Wie familiär das norwegische Duzen wirkte. Inga sah dem Wagen nach, der schnell hinter den Hügeln verschwand, aber sein Motorengeräusch in der Stille hinter sich her zog wie einen Kometenschweif. Sie brauchte keine Hightechbude. Der eine Wohnraum, die Schlafnische, ein Kamin, die kleine Küche – das reichte. Oberhalb des Häuschens sprudelte ein Bach durch das Grundstück, gesäumt von Senken gelber Blütensterne, die aussahen wie Winterlinge, aber besser keine waren. Schneeweißchen und die sieben Witwen. Mit ihr acht. Was für ein Salat.

    Sie stellte einen kleinen Tisch vor die weiße Bank. Kartoffeln mit Spiegelei, Labsal nach den aufgetakelten Hurtigdiners. Nachher würde sie zum Landhandel wandern, so weit war ihr der Weg gar nicht vorgekommen. Das Boot könnte sie später benutzen.

    Kein Schießer. Ein Frauenmann. Alles würde zu Heiner passen. Vor allem das Segelabenteuer. Er konnte es aber nicht gewesen sein. Mit Ingas Medizinstudium damals hatte ihre Geschichte auf einen Schlag aufgehört. Angesichts der stillen, kalten Körper auf dem Seziertisch war ihr alles Frühere kindisch vorgekommen: die Chöre, die halbherzig begonnene Gesangsausbildung. Und Heiner. Medizin dagegen nützlich und erwachsen. Es hatte keinen Abschied gegeben, keine Trauer. Auch keinen Phantomschmerz. Sie war einfach weggezogen und hatte bald danach Friedrich kennengelernt. Jahre später hatte Heiner plötzlich angerufen. Spät abends, Friedrich und sie hatten bereits im Bett gelegen. Heiner war sofort zur Sache gekommen: Ob ihre Geschichte sie eigentlich geschädigt habe? Sich irgendwie negativ auf ihre Entwicklung ausgewirkt? Sie sei doch noch sehr jung gewesen? Nach der letzten Frage hatte seine Stimme in einer brüchigen Schwebe verharrt. »Ich führe eine glückliche Ehe«, hatte sie gesagt, etwas laut, etwas hastig.

    Friedrich war beeindruckt gewesen von dem Anruf. Mehrfach war er darauf zurückgekommen, während sie selbst nichts damit zu tun haben wollte, mit dieser atemlos herandrängenden Stimme aus der Vergangenheit. Nicht viel später hatte die Todesanzeige im Briefkasten gelegen. Zur Beerdigung war sie nicht gefahren.

    Inga erhob ihr Glas und schaute in den hellen Abendhimmel. Der Vermieter war fast ein Altersgenosse des Vaters, der hier lange Kriegsjahre verbracht hatte. Bodø, Tromsø, Kirkenes – magische Klänge aus ihrer Kindheit, deren Glanz er immer wieder aufpoliert hatte: »Einmal noch ans Nordkap.« Wohin er aber nie wieder gefahren war. Nun war sie am Polarmeer, ihr Sohn am Pazifik, ihr Mann unter der Erde.

    »Friedrich«, sagte sie erst leise, dann so laut, dass es in der Stille hallte.

    »Inga rackert alles weg«, hatte auf dem Fest eine der neuen Kolleginnen zu Ulrike gesagt.

    Aber alles war immer da. Poppte hoch wie ein Korken. Sie schnäuzte sich in ein Stück Küchenpapier und ergriff das Glas:

    »Willkommen im Norden, Inga Robinson Niemann.«

    Möwenchor

    Die Badesachen im Beutel stolperte Inga den Pfad entlang. Felsig war es, überwuchert von Brombeerranken. Gut, dass sie die Wanderstiefel eingesteckt hatte. Hinter einem Birkenwäldchen entdeckte sie ein weiteres Sommerhaus, gelb gestrichen und größer als ihres, ein Rover parkte daneben, Bewohner waren nicht zu sehen.

    Sie schlenkerte ihr Handtuch: ihr zweiter warmer Tag in Norwegen! Ihr erster Tag ohne Ziel. Der Weg führte bergan, langsam rückte eine Bucht ins Blickfeld, von zwei Landzungen eingefasst. Vor der rechten ragten mehrere grün bewachsene Schären aus dem Wasser, rund wie Walrücken. Graublau glitzernd schwappte das Meer im großen Erdenteller. So hatte sie es als Kind gemalt, mit Tropfen, die über den Rand ins Weltall flossen, trotzig gegen das Lachen der Zwillinge an.

    Die Bucht war menschenleer, der einzige Gegenstand weit und breit das Boot, von dem der Vermieter gesprochen hatte. Unter seiner verrotteten Plane wirkte es ziemlich neu; ein einfaches Plastikdingi mit Außenborder. Inga zog Stiefel und Kleidung aus, überquerte den feinkörnigen, schon angewärmten Sand und stellte sich in die flachen Wellen. Höchstens sechzehn Grad nach Handschätzung – ihr Badesee in der Uckermark ein warmes Moorbad dagegen. Sandig und eben ging es hinein. Hier stand sie im rotweiß gepunkteten Bikini am Polarkreis. Wer den Äquator überquerte, wurde getauft. War auch für den Polarkreis etwas vorgesehen? Nach kurzem Zögern stürzte sie sich ins Wasser.

    Als die Erstarrung wich, schaute sie aus der Rückenlage zurück über den hellen Streifen Strand, den bunten Handtuchfleck, das Grau der Persenning, grün eingefasst von Büschen. Über allem der blaue Himmel. Wenn das Wasser nicht so kalt wäre, würde hier Schirm an Schirm stehen, Wohnwagen an Wohnwagen. Sie kraulte noch ein Stück hinaus. In der Ferne zog ein Frachter dahin, die Containerkontur vor der Horizontlinie gerade noch erkennbar, klein wie die Sparbüchse, aber nicht so bunt.

    »Wie neugeboren«, hatte der Vater immer gerufen, wenn er aus einem Gewässer auftauchte. Sogar in der Badeanstalt war es sein Schlachtruf gewesen. Im Meer hatte er nie gebadet. Weder in der Ostsee noch in der Nordsee: »Segler baden nicht.« Wenn der Vater in guter Stimmung gewesen war, die Skippermütze auf dem Kopf, braungebrannt am Steuerruder der Inga, hatten die Zwillinge und sie ihn mit der Wasserscheu aufgezogen.

    Inga betrat eine zum Strand hochführende Klippe, rutschte ab, schnappte scharf nach Luft, taumelte zur Seite und presste die Hand in den Rücken. Mit angehaltenem Atem schlich sie zu den Badesachen. Ausziehen, abtrocknen, anziehen als Akrobatennummer. Zum Schluss schob sie die Füße in die Stiefel, ließ die Schuhbänder schleifen und schlich den Weg zurück. Damals, nach der Facharztprüfung, hatte sie zum ersten Mal ein Hexenschuss erwischt. Vier Tage hatte sie regungslos im Stufenbett gelegen und die Reise nach Rom absagen müssen, auf die Friedrich und sie sich seit Wochen gefreut hatten. Immerhin war sie diesmal schon unterwegs.

    Tee, Wolldecke, Wärme. Auf den sonnigen Platz vor ihrem Haus ließ Inga ihre Isomatte fallen und rollte sie mit den Füßen aus. Wenn sie die Unterschenkel auf der weißen Bank ablegte, würde sie in die Lagerungsart gelangen, die ihr damals gutgetan hatte. Tatsächlich verschwanden die Schmerzen, sobald sie

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