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NOVA Science-Fiction 26
NOVA Science-Fiction 26
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NOVA Science-Fiction 26

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NOVA Storys: Moritz Greenman: Façonneurs | Marc Späni: Die fünfte Stufe der Entspannung | Thorsten Küper: Confinement | Michael K. Iwoleit: Die Seelen | Michael Friebel: Quantentanz | Bernhard Kempen: Die Geschlechter der Leonen | Norbert Stöbe: Wir kommen | Klaus Berger-Schwab: Ein Job für Krüppel

NOVA Sekundär: Thomas Sieber: "Bedenke deine Handlungen vom Ende her!" Ein Interview mit Prof. Harald Lesch, Teil 1 | Dirk Alt: Der entmythologisierte Kosmos. Stanislaw Lems Katastrophenprinzip | Vandana Singh: Wahre Reise ist Heimkehr. Zu Ehren von Ursula K. Le Guin | Christopher Priest: Ursula | Ursula K. Le Guin (1929–2018): Ich stelle mich vor | Horst Illmer: Kate und ich. Ein Nachruf auf Kate Wilhelm (1928–2018) 

Mit einem Editorial von Thomas Sieber und einem Titelbild von Andreas Schwietzke.
LanguageDeutsch
Publisherp.machinery
Release dateJun 12, 2018
ISBN9783957659330
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    NOVA Science-Fiction 26 - p.machinery

    5

    Thomas Sieber: Editorial

    Liebe Leser,

    wer kennt ihn nicht, den berühmten Satz des Heraklit: »Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung«? Michael K. Iwoleit, letztes verbleibendes Gründungsmitglied und Urgestein von Nova kann davon dieser Tage ein Lied singen. Außer dem Vorsatz, dem Leser weiterhin erstklassige Science-Fiction-Storys und Sekundärartikel zu bieten, hat sich im Laufe des letzten Jahres bei Nova so ziemlich alles verändert. Wie Sie am Umschlag der vorliegenden Ausgabe feststellen können, ist zum einen der Verlagswechsel zu p.machinery erfolgt, zum anderen zeichnet für die Nr. 26 eine komplett neue Redaktionsmannschaft verantwortlich, mit Michael »My.« Haitel als Verleger und Mitherausgeber (neben MKI), Christian Steinbacher als Grafikredakteur, einer nicht näher benannten Person D. A. (zusammen mit Marc Späni, falls Not am Mann ist) als Gegenleser und schließlich mir selbst als Redakteur für den Non-Fiction-Teil.

    Die Frage von Michael Iwoleit – irgendwann Mitte des letzten Jahres –, ob ich mir vorstellen könnte, bei Nova einzusteigen, hat mich ungefähr genauso überrascht, wie die berühmten Kolben, die bei der Spazierfahrt am Sonntagnachmittag vor einem durch die Motorhaube geschossen kommen. Meine Veröffentlichungen hielten (und halten) sich in Grenzen, die deutsche SF-Szene hatte ich bisher von außen – zugegeben nicht ganz unkritisch – als eine eher in sich geschlossenen Vereinigung gesehen. Umso mehr hat mich die Offenheit beeindruckt und gefreut, mit der man mir bei Nova seit der allerersten Einsendung einer Story begegnet ist – schön, wenn man seine Vorurteile gegen echte Erfahrung eintauschen kann. Wie auch immer, in Anbetracht der in Aussicht gestellten Reichtümer (ich rede hier natürlich nicht von der banalsten Variante des Reichtums) und den fesselnden Erlebnisberichten aus der Kleinen Klappse fiel es mir nicht schwer zuzusagen, und ich habe es bisher – trotz des Formel-1-artigen Starts mit Nr. 26 – nicht bereut.

    Überschattet wurde die Arbeit an dieser Ausgabe durch den Tod von zwei der ganz großen Schriftstellerinnen der SF-Literatur, Ursula K. Le Guin und Kate Wilhelm. Wir hoffen, es ist uns einigermaßen gelungen, das Wirken und Werk dieser großartigen Autorinnen hinreichend zu würdigen. Im Falle von Ursula Le Guin hat sich die Agentur erstaunlicherweise bereit erklärt, uns einen – in gewisser Weise – autobiografischen Essay für eine deutsche Erstübersetzung zu überlassen. Ich zweifle nicht daran, dass wir dies zu großen Teilen ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit, insbesondere ihrem Verständnis von schriftstellerischer Freiheit, verdanken.

    Neben den Nachrufen enthält diese Nova-Ausgabe – man verzeihe mir die Fixierung auf den Non-Fiction-Teil – ein Novum, nämlich ein Interview mit Prof. Harald Lesch, das aufgrund seiner Länge zweigeteilt ist. Dies ist der großen Themenbreite und der damit einhergehenden Vielzahl an Fragen geschuldet sowie einer von Herrn Lesch augenzwinkernd eingestandenen »rhetorischen Inkontinenz«, über die wir uns keinesfalls beschweren. Wir hoffen, diese kleine Neuerung (die keineswegs zur Regel werden soll) findet den Zuspruch des Lesers, zumal Teil zwei sich thematisch hervorragend in die als nächste geplante Themenausgabe »Utopien und positive Zukunftsbilder« einfügt. Abgerundet wird der Non-Fiction-Teil durch einen exzellenten Artikel über Lems Katastrophenprinzip von Dirk Alt, dessen Initialen nur zufällig mit denen weiter oben übereinstimmen und den wir auch keineswegs als Spion in die Exodus-Redaktion eingeschleust haben.

    Last, not least ist es wohl Tradition, am Ende des Vorworts einige Patzer aus der vorangegangenen Ausgabe auszubügeln. Allen voran müssen wir uns ausdrücklich bei René Moreau entschuldigen, der in Nova 25 einen Nachruf auf Christian Weis verfasst hat. Leider ging seine Kurzbiografie in den Wirren des Verlagswechsels verloren. Um dies wiedergutzumachen, findet sie sich nunmehr auf einem Ehrenplatz in der aktuellen Ausgabe. Des Weiteren wurde konsequenterweise bei der internationalen Gaststory (Gustavo Bondoni, »Die zehnte Umlaufbahn«) nicht angegeben, von wem die Übersetzung stammt. Gustavo ist ein Englisch schreibender Argentinier, und seine Geschichte wurde von Tommi Brem übersetzt.

    Mir bleibt nur, Ihnen viel Vergnügen mit dieser Ausgabe zu wünschen, besonders natürlich mit den ausgezeichneten Storys, die in Nova die Hauptsache sind und bleiben.

    Thomas Sieber

    für die Nova-Redaktion

    Darmstadt, 17.05.2018

    NOVA Storys

    Moritz Greenman: Façonneurs

    Nachdem Olivier aufgelegt und sein Telefon im Sakko hatte verschwinden lassen, hörte Grace ihre Absätze nun umso lauter über den Parkettboden klappern. Sie zögerte kurz, hakte sich dann aber doch bei ihm unter, als sie, gefolgt von der Kuratorin, eine Treppe hinaufstiegen und vor Grace ein Plakat mit dem Titel der Ausstellung erschien: Façonneurs.

    Grace mochte es nicht, wenn er in ihrer Gegenwart telefonierte. Noch weniger, wenn das andere Leute sahen. Aber bei einem Mann wie ihm hatte sie eben zu akzeptieren, dass sie nicht ständig seine ungeteilte Aufmerksamkeit genoss. Selbst wenn sie ihr türkises Chanel-Kostüm trug.

    Um ihre Wirkung machte sich Grace jedoch keine größeren Sorgen. Bereits im Auto hatte Olivier ihr mehr als ein Kompliment gemacht, und sie hatte ja seinen Blick gesehen. Genauso wie den des Fahrers und die der Museumsbesucher. Gerade verdrehten wieder ein hübscher junger Mann und seine weniger hübsche Frau, die vor einem scheußlichen Gemälde standen, den Kopf nach ihr. Dann betraten Grace und Olivier den Ausstellungsraum.

    »Es tut mir sehr leid, Sir«, hörte Grace einen der Ordner hinter sich. »Hier findet im Moment eine Privatführung statt.«

    Grace drehte sich um und sah, dass sich die zwei schwarz gekleideten Männer mit dem Logo der Tate Moderne auf der Brust in den Eingang gestellt hatten. Sie lächelte.

    »Du hast eine Exklusivführung für mich bestellt, Schatz? Lieb von dir.«

    Olivier zwinkerte ihr zu. »Exklusiv für uns. Ich habe es ja auch noch nicht gesehen. Obwohl ich die Projekte natürlich schon kenne.«

    »Das ist richtig, Miss Robert«, sagte die Kuratorin und trat neben sie. »Ihr Gatte hat nicht nur diese einmalige Ausstellung hier in London möglich gemacht, sondern auch von Anfang an sehr großes Interesse gezeigt und seine kreative Seite eingebracht.«

    Olivier schüttelte den Kopf. »Glaub ihr kein Wort, Chérie. Miss Hendricks hier ist eine fantastische Kuratorin. Sie und David Miller haben die ganze Arbeit gemacht, ich habe ihnen nur Geld gegeben. Deswegen müssen sie uns jetzt auch kostenlos reinlassen, obwohl wir keine Ahnung von Kunst haben.«

    Kein Flirt, dachte Grace. Nur die übliche Lobhudelei. Hendricks lachte nervös und rückte ihre Brille zurecht. Als sie sich den Schweiß von der Stirn wischte, tat sie Grace für einen Moment fast ein bisschen leid. Eigentlich sah sie nicht schlecht aus, nur passte die Frisur nicht zu ihrem schmalen Gesicht, und der Hosenanzug saß auch nicht gut. Falls sie sich bei Olivier irgendwelche Hoffnungen gemacht hatte, musste ihr spätestens jetzt klar sein, dass sie nicht sein Typ war.

    »Sehen Sie sich doch erst einmal um«, sagte Hendricks. »Danach kann ich Ihnen mehr über die einzelnen Projekte erzählen.«

    Grace folgte der Geste der Kuratorin und ging an Oliviers Seite in die Mitte des rechteckigen Raumes. Er maß ungefähr fünfundzwanzig mal fünfzehn Meter, war gute zehn Meter hoch, und an der Decke hingen vier Leuchten. Deren grelles Licht mochte zu den weißen Wänden passen, nicht aber zu ihrem Kleid, fand Grace.

    »Das ist alles?«, fragte sie, nachdem sie sich in dem fast leeren Saal umgesehen hatte.

    »Das ist alles, Chérie. Und es ist eigentlich ziemlich viel.«

    Grace drehte sich noch einmal im Kreis. An den langen Seiten des Raums standen jeweils drei Objekte, an der Stirnseite zwei. Zwei Plastiken, ein Bild, das an einem Stuhl lehnte, verschiedene Gegenstände auf Tischen oder Podesten, alle in zirka drei Meter Abstand zur Wand.

    Olivier griff nach Grace’ Hand und zog sie mit sich. »Das hier zum Beispiel. Schau dir das an.«

    »Eine alte Landkarte und ein Tintenfass auf einem Holztisch?«

    »Ganz genau, und noch mehr.«

    Olivier zeigte auf die Wand hinter dem Tisch, und als er sich direkt vor das Ausstellungsstück stellte, erschien am oberen Ende der Wand ein Name.

    Sergej Tarassow.

    Ein zwei Meter breites Band aus schwarzen Buchstaben, von denen Grace nicht genau sagen konnte, ob sie auf der Wand oder aber ein Stück davor im Raum standen. Doch bevor sie sich umdrehen und nach einem Projecteur Ausschau halten konnte, lösten sich aus dem Schriftzug weitere Buchstaben heraus. Wie ein Wasserfall floss der Text an der Wand hinab bis zum Boden und dann über den Boden bis kurz vor den Tisch.

    Olivier wandte sich an Hendricks. »Sehr schön gemacht, wirklich.«

    »1867«, las Grace laut vor, »leitete der damalige US-Außenminister William H. Seward den Kauf Alaskas von Russland ein. Für siebenkommazwei Millionen US-Dollar …« Sie sah Olivier an und zog einen Mundwinkel hoch. »So viel Text, Schatz.«

    Olivier zog nun seinerseits einen Mundwinkel nach oben, dazu eine Augenbraue. Dann lachte er und legte einen Arm um Graces Schultern. »Pass auf, Chérie. Dieser Typ ist durch die Seidl-Kammer ins Jahr 1867 und hat die Russen davon überzeugt, Alaska nicht an die USA zu verkaufen. Dafür musste er ihnen nur zeigen, wo es Öl zu finden gibt. Schau, hier auf der Karte die Tintenflecke.«

    Grace nickte. »Und die Amis haben ihn das machen lassen?«

    »Die Amis von heute haben ihn das machen lassen«, sagte Hendricks, »weil sie ja in diesem Universum keinerlei Auswirkungen zu befürchten haben. Wie Sie sicher wissen, ist seit letztem Jahr bewiesen, dass das InsTech der Sorbonne Menschen auf Zeitreisen schicken kann. Nur gibt es leider weder Rückflugscheine noch die Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Denn sobald die Reisenden ihren Fuß auf vergangenen Boden setzen, befinden sie sich in einem Paralleluniversum, in einem separaten Zeit- beziehungsweise Realitätsstrang.«

    »Den sie dann formen können, wie sie wollen«, sagte Grace. »Ich weiß. Deswegen habt ihr sie Façonneure genannt.«

    »Ganz richtig, Miss Robert. Und jetzt stellen Sie sich mal die Auswirkungen dieses einen nicht zustande gekommenen Kaufvertrages vor. Russland nicht nur mit mehr Öl und noch mehr unberührter Wildnis in seinem Besitz, sondern auch mit einem riesigen Stück Land auf dem amerikanischen Kontinent. Was hätte das für den Kalten Krieg bedeutet? Wäre es überhaupt zu einem kalten Krieg gekommen, wenn Russland – auch durch den Rat Tarassows – schon früher alles daran gesetzt hätte, sein Territorium in Amerika zu vergrößern? Die Welt wäre heute mit Sicherheit eine andere.«

    »Nur dass der Mann das nicht mehr erlebt.«

    Hendricks nickte ganz euphorisch, so als ob Grace gerade etwas Geniales gesagt hätte. »Ja, so ist es, Miss Robert. So ist es. Genau darin liegt ja die Tragik des Projektes, und auch seine Schönheit. Man könnte sagen, der Oligarch Tarassow hat nicht nur mit einem großen Teil seines Vermögens für diese Reise bezahlt, sondern auch mit seinem Leben. Der Schritt in eine andere Zeit kostete ihn alles. Alles für die Idee, verstehen Sie?«

    Olivier löste seinen Arm von Grace und drehte sich um. »Joanne, wo sind die Woodvilles?«

    Die Kuratorin zeigte auf eines der Podeste am anderen Ende des Raums und bedeutete Grace und Olivier, ihr zu folgen.

    Das hüfthohe Podest erinnerte an eine griechische Säule. Auf der Ablagefläche stand ein silbernes Pendel. Während dieses Mal zwei Textwasserfälle über Wand und Boden liefen, musterte Grace die an der Schnur hin- und herschwingende Pistolenkugel.

    »Marcus und Sinclair Woodville sind zwei Brüder aus Chicago«, hob Hendricks an. Am Glanz in ihren Augen war deutlich zu erkennen, dass sie diese Façonneure besonders bewunderte. »Der Plan des einen war Tyrannenmord«, fuhr sie fort. »Marcus ist mit einer Waffe zurück ins Jahr 1933, um Adolf Hitler zu erschießen. Sein Bruder reiste währenddessen in eine andere Realität dreißig Jahre später und nach Dallas. Dort hat er den Mord an John F. Kennedy verhindert. Eine Kugel, die ihre Flugbahn ändert, wenn Sie so wollen.«

    »Aber haben sie es auch geschafft, die Flugbahn zu ändern?«, fragte Grace. »Man weiß es ja nicht.«

    Olivier nickte und lächelte. »Man weiß es nicht. Und noch etwas: Wenn es keinen Hitler gegeben hätte und damit keinen Zweiten Weltkrieg, wäre die Geschichte völlig anders verlaufen. Also vielleicht auch kein Präsident Kennedy. Ein Pendel schwingt immer sowohl nach vorne als auch zurück. Und was wäre passiert, wenn Kennedy nicht in Dallas umgekommen wäre? Welche guten Folgen hätte das gehabt? Und welche schlechten?«

    »Sehen Sie, welch scharfen Blick ihr Mann hat, Miss Robert«, sagte Hendricks, ihren eigenen Blick immer noch fest auf die Kugel gerichtet.

    Grace dachte kurz darüber nach, ob sich Hendricks gerade nicht zu viel erlaubt hatte, schmunzelte dann aber. »Das weiß ich bereits, Miss Hendricks. Sie erzählen mir nichts Neues.«

    »Na gut, aber vielleicht kann ich Ihnen über das Projekt gleich hier neben Ihnen etwas erzählen. Sagt Ihnen der Name Alexandrine Nebrija etwas?«

    »Nein.«

    »Nebrija nennt ihre Arbeit Religionsdesign«, erklärte Hendricks, woraufhin Grace vor die Plastik trat. Erst jetzt erkannte sie, dass es sich um zwei Menschen handelte. Hand in Hand hoben die ungefähr einen Meter großen stilisierten Lehmfiguren ihre freien Hände und auch ihre Blicke zum Himmel, womit sie Grace direkt anzusehen, sie geradezu anzubeten schienen.

    »Was für eine Religion hat sie denn designt?«

    »Verschiedene. Ihr Reiseziel war das Jahr 1000 nach Christus, und in ihrem Gepäck befanden sich Gegenstände wie zum Beispiel eine starke Taschenlampe, reflektorbestickte Kleider, fluoreszierende Schminke, Chansonneur und Verstärker sowie eine moderne Schusswaffe. Auf ihrem Weg von Norwegen nach Spanien besuchte sie etliche Völker, um ihnen als ›Göttin‹ zu erscheinen und neue, auf diese Völker individuell zugeschnittene Glaubenssysteme zu implementieren. Alle mit dem Ziel, einen maximalen Grad an Friedfertigkeit und Achtung vor Mitmenschen und Natur zu erzeugen. Wenn Sie Interesse haben, kann ich Ihnen die Details von ein paar …«

    »Das ist sehr interessant, Miss Hendricks. Wirklich. Aber ich verstehe ehrlich gesagt nicht ganz, was diese Projekte mit Kunst zu tun haben sollen. Eigentlich geht es doch hauptsächlich um das Privatvergnügen der wohlhabenden Zeitreisenden, oder? Wir werden nie sehen, was aus ihren Universen wird. Und die Kunstwerke hier, Olivier. Also, ich bezweifle, dass die Ausstellung genug Besucher anziehen wird, um die Kosten zu decken … Jetzt schau mich nicht so an, Schatz. Das ist eben meine Meinung.«

    Hendricks schob sich wieder die Brille zurecht. Beinahe hatte sie es geschafft, zu verbergen, dass auch sie nicht gerade viel von Graces Meinung hielt. Aber Grace nahm sehr wohl wahr, wie falsch das Lächeln war, mit dem die Kuratorin sie nun bedachte.

    »Auf der einen Seite haben Sie sicher recht«, sagte Hendricks. »Die Stücke hier sind bewusst so gewählt, dass sie den Geschichten nicht in die Quere kommen. Das heißt, sie sind auf den ersten Blick wenig aufsehenerregend. Und wie schon gesagt, wir können keinen Kontakt zu den Façonneuren aufnehmen. Wer weiß, ob sie ihre Pläne in die Tat umgesetzt haben. Aber, Miss Robert«, jetzt hob sie ihren Zeigefinger, »es geht noch um viel mehr. Denn was bedeutet denn Façonneure?«

    Sie ließ die Frage einen Moment im Raum stehen, dabei fiel Grace die Gravur auf ihrem Ehering auf.

    »Der Begriff bezieht sich zum einen auf die Zeitreisenden, die völlig neue Welten kreieren. Ganze Universen als höchst komplexe Kunstwerke. Wobei man über diesen Kunstbegriff natürlich streiten kann. Aber darüber hinaus sind auch wir selbst Façonneure. Sie und ihr Mann und ich. Denn wir hören von den Projekten, und in unseren Köpfen wachsen die Ideen der Künstler zu unseren eigenen Universen heran. Sie stellen sich vor, was alles passieren könnte, und damit werden auch Sie zu einer Künstlerin, die alternative Realitäten erschafft. Doch nicht nur das. Indem Tausende Menschen diese Werke hier kennenlernen, denken sie automatisch über unsere aktuelle Realität nach. Sie machen sich plötzlich Gedanken über die Dinge, fragen sich, wieso die Welt so geworden ist, wie sie ist, und auch, wie man sie heute, hier und jetzt verbessern könnte. Das ist die Idee hinter dieser Ausstellung. Wir alle formen unsere Welt, Miss Robert. Wir alle sind Façonneure.«

    »Genau, Chérie. Stell dir mal vor, wie diese Menschen leben, denen Alexandrine Nebrija eine Philosophie der Achtung und der Liebe vermittelt hat. Wie schwierig wäre es für uns, freundlicher zu sein? Nicht so sehr, oder?«

    Grace hatte bereits die Arme verschränkt und räusperte sich nun, bevor sie antwortete. »Jedenfalls gefällt mir weder dein Ton noch Ihrer, Miss Hendricks. Ich bin kein Schulmädchen mehr und ich war übrigens selbst an der Sorbonne. Dort habe ich auch meinen Mann kennengelernt, falls es Sie interessiert. Und zwar nicht als Studentin, sondern als analyste financière. Ob Sie es glauben oder nicht, ich war sogar Teil des Komitees, das der Gruppe um Dolph Johannson die Gelder für die Forschung zu den Seidl-Gleichungen bewilligt hat. Ich verstehe also sehr gut, worum es geht. Aber ich halte die Frage, ob das Kunst ist, nach wie vor für völlig berechtigt.«

    Olivier schüttelte den Kopf. »Natürlich bist du kein Schulmädchen, und niemand zweifelt an dir oder will dich belehren. Aber stell dir doch wirklich mal vor, wie ein russisches Amerika heute aussehen würde. Oder …«

    »Oder ein Amerika mit Kennedy im Ruhestand.« Hendricks war wieder der Schweiß ausgebrochen. Sie ließ sich davon jedoch nicht beirren. »Oder ein Amerika, wenn Cristoforo Colombo 1490 dort …«

    »Sie meinen wohl …«, begann Grace, doch die Kuratorin hatte tatsächlich die Nerven, sie zu unterbrechen.

    »Ganz genau, Miss Robert. Stellen Sie sich vor, Christophe Colombe, wie wir ja normalerweise sagen, wäre angekommen und hätte gewusst, wo er sich wirklich befand und welche weitreichenden Folgen seine sogenannte Entdeckung haben würde.«

    Grace zuckte mit den Schultern und sah zu Olivier hinüber. Ihn zu faszinieren war Hendricks jedenfalls gelungen. Wie er immer die Augen zusammenkniff, wenn er etwas interessant fand.

    »Ich glaube, du hättest dein Geld vielleicht lieber Christophe Colombe geben und nicht in eine Ausstellung investieren sollen.«

    Olivier sah Grace wortlos an, dann ging sein Blick kurz zur Decke, während er nach seinem Telefon griff. Wieder kniff er die Augen zusammen. »Hm«, sagte er, und tippte etwas auf den Bildschirm.

    »Weißt du was, Olivier, ich habe hier alles gesehen, glaube ich.«

    Olivier steckte sein Telefon wieder in die Innentasche und nickte. Dabei hatte er ein seltsames Lächeln auf den Lippen.

    »Vielen Dank, Miss Hendricks«, sagte Grace und drehte sich um.

    »Ich danke Ihnen, Miss Robert«, hörte Sie Hendricks hinter sich. »Ich danke Ihnen.«

    Marc Späni: Die fünfte Stufe der Entspannung

    1.

    Die Frau mit den langen blauen Haaren steht auf, verdreht theatralisch ihre violetten Augen und schreitet an QM Sergeant Cor Drystan vorbei durch die Offiziersmesse und hinunter zum Restaurantdeck.

    »Was war denn das eben?«, fragt Brut Melwas, erster Leutnant, nachdem sie weg ist. Auch die anderen zwei Offiziere am Tisch wenden den Blick von der Nachrichtensendung an der Bildwand zu Sergeant Drystan, der sprachlos vor dem Tisch stehen geblieben ist und der Blauhaarigen nachblickt. Es dauert einige Sekunden, bis er sich wieder den Offizieren zuwendet. Dann lächelt er verlegen, packt ein Tablett, das hinter seinem Rücken einen Meter über dem Boden schwebt, und stellt es auf den Tisch. Fünf braune Flaschen mit goldumrahmten Etiketten stehen darauf und ebenso viele hohe, altmodisch geschwungene Gläser. »Eine kleine Aufmunterung«, erklärt er mit dem leichten Akzent des Südostens.

    »Das kann auch nur einem Pemboner einfallen, in dieser Lage«, sagt Melwas, schüttelt missbilligend den Kopf und verfolgt weiter die Nachrichten: Kleine, bullige Terraner schlagen mit Stöcken und bloßen Fäusten auf Menschen der neuen Erde ein; Häuser werden geplündert, Habseligkeiten unter wildem Gebrüll aufgeschichtet und verbrannt.

    »Sagt man nicht bei euch: Am hellsten ist der Sternenglanz, je dunkler die Winternacht?«, fragt Drystan.

    »Sternenpracht, nicht Sternenglanz«, korrigiert ihn Leutnant Dromu Cain, »am hellsten die Sternenpracht, je dunkler die Sternennacht.«

    »Wie dem auch sei. Die Nachrichten werden nicht besser, wenn ihr das stehen lasst«, wiederholt Drystan und weist auf die Flaschen und Gläser.

    »Was ist es überhaupt?«, fragt Melwas kritisch.

    »Fullers 1845, ein leicht berauschendes Getränk aus fermentierten terranischen Süßgräsern. Restbestände vom Besuch des terranischen Botschafters vorgestern«, erklärt Drystan grinsend, »ganz exklusiv!«

    »Und schmeckt es auch?«, fragt Melwas.

    »Oh ja!«, meint der QM, zieht einen rund zehn Zentimeter langen Gegenstand aus der Tasche und macht sich, nicht ohne Mühe, daran, die erste Flasche zu öffnen.

    »He, das sind wir!«, unterbricht Cain und zeigt zur Bildwand, wo der gigantische Linientanker Tothmarg vor der Kulisse des Mondes Nola 2 auftaucht. »Von außen sieht sie wirklich aus wie eine endoranische Riesenschrecke«, meint der Leutnant.

    Mittlerweile hat Drystan die erste Flasche geöffnet, nimmt eines der großen Gläser zur Hand, hält es leicht schräg und schenkt langsam ein. »Oben muss Schaum sein, versteht ihr, eine ganz dünne Schaumschicht.«

    »Sag mal, findest du das nicht etwas geschmacklos, dieses Ding da?«, fragt Melwas mit Blick auf den Gegenstand in Drystans Hand.

    »Den Öffner? Warum?«

    Melwas schüttelt den Kopf. »Ist das eine Replik des terranischen Weltkreuzes?«

    »Was soll das sein?«

    »Doch, bestimmt«, insistiert Melwas und nimmt ihm den Gegenstand aus der Hand. »Woher hast du das?«

    »Muss aus Flottenbeständen sein«, meint Drystan mürrisch.

    »Seltsam«, murmelt Melwas und dreht es zwischen den Fingern. »Flottenbesteck hat doch immer das Signet der Friedenstruppen drauf.«

    »Zeig mal her«, mischt sich Cain ein.

    Melwas zeigt ihm den Öffner.

    »Tatsächlich. Eine Kopie?«

    »Du

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