Aus finstrem Traum
Von Sascha Dinse und Marianne Labisch
()
Über dieses E-Book
Sei es die neue Nachbarin, die neben ihrem Geigenkoffer auch ein dunkles Geheimnis mit sich bringt, oder die mysteriöse U-Bahn-Bekanntschaft, die etwas sehr Ungewöhnliches in ihrer Handtasche herumträgt, seien es Geister der Vergangenheit oder der radikale Traum eines Künstlers, das ultimative Werk zu erschaffen – allen Geschichten gemein ist eine philosophische und persönliche Note. Doppelte Böden, unerwartete Wendungen und Ereignisse, die ein ums andere Mal die Grenzen des Vorstellbaren ausreizen, kennzeichnen die Geschichten in dieser Sammlung.
"Sascha Dinse schafft es, seine Leser zu packen und sie mitzunehmen, in welche Welt auch immer. Bei ihm fühlen wir uns im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts ebenso zu Hause, wie auf fremden Planeten. Er konstruiert seine Geschichten so, dass man oft erst beim zweiten Lesen die komplette Vielschichtigkeit erkennt. Ein wahrer Lesegenuss." (Marianne Labisch)
Verwandte Kategorien
Rezensionen für Aus finstrem Traum
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Aus finstrem Traum - Sascha Dinse
6
23b
Endlich zu Hause, denke ich und schalte das Licht ein. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, ich lege den Mantel ab und steige aus meinen Schuhen. Ich wohne hier erst seit einer Woche und doch fühlt es sich schon nicht mehr neu oder fremd an. Das Apartment ist spärlich möbliert, es besteht aus einem modern eingerichteten Wohnzimmer mit angrenzender Küche, einem Schlafzimmer mit Doppelbett sowie einem Bad mit Dusche und Wanne. Der massive Schreibtisch in der hinteren Ecke des Wohnbereichs verleiht der Einrichtung eine persönliche Note. Altes Familienerbstück, mehr als zweihundert Jahre alt. Der Computer darauf wirkt wie ein Fremdkörper, doch er ist für meine Arbeit unentbehrlich. Auch Schriftsteller müssen mit der Zeit gehen. Gegenüber des Schreibtisches steht mein Bücherregal, randvoll mit Werken bekannter Autoren, Biografien und Bildbänden. Das einzig Besondere an der Wohnung ist die Tür direkt neben diesem gewaltigen Schatz an Wörtern und Bildern. Sie führt ins benachbarte Apartment und ist so konstruiert, dass sie nur geöffnet werden kann, wenn sie von beiden Seiten aufgeschlossen wird. Verständlich, schließlich möchte niemand ungebetenen Besuch vom Nachbarn bekommen. Derzeit wohnt ohnehin niemand nebenan. Ich gehe zum Kühlschrank, nehme eine Wasserflasche heraus und trinke sie in einem Zug halb leer.
Irgendetwas bewegt sich auf dem Flur, jemand geht an meiner Tür vorbei. Das kommt ziemlich selten vor, da mein Apartment das vorletzte auf dieser Seite des Ganges ist und sich kaum einmal jemand hierher verirrt. Durch den Türspion erkenne ich, dass eine junge Frau zwei schwere Koffer hinter sich herzieht. Auf dem Rücken trägt sie etwas, das ein Geigenkoffer sein könnte. Wie es aussieht, zieht sie in 23b ein, direkt nebenan. Eine neue Nachbarin also, und eine hübsche noch dazu.
Als ich mich einige Zeit später an den Schreibtisch setze und meinen Rechner aufklappe, dringt Violinenklang von drüben an mein Ohr. Corelli, das erkenne ich sofort. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Musikerinnen.
Als ich am nächsten Morgen das Haus verlassen will, stürmt mir meine neue Nachbarin durch die Tür der Lobby entgegen. Sie hat den Kopf gesenkt, schaut auf den Boden, und ich schaffe es gerade noch, einen Schritt zur Seite zu machen. Als sie an mir vorbeirauscht, streift sie mich mit der linken Hand. Für einen Moment schaut sie in meine Richtung, und unsere Blicke treffen sich. Ihre Augen sind gerötet, als hätte sie geweint.
»Alles in Ordnung?«, frage ich, während sie an mir vorbei zum Fahrstuhl geht. Sie drückt den Rufknopf, dreht sich zu mir und nickt. Sie ist hübsch, selbst jetzt, mit verlaufenem Make-up, zerzausten Haaren und offenbar nach einer Nacht ohne Schlaf. Könnte ich mir meine Nachbarin aussuchen, hätte ich wohl sie gewählt.
»Wie heißen Sie?«, frage ich und stelle mich vor.
»Jill«, gibt sie zurück, bevor sie den Fahrstuhl betritt. »Ich heiße Jill.« Die Tür schließt sich.
Draußen wartet das Taxi, das Val für mich bestellt hat. Ich nenne dem Taxifahrer die Adresse, lasse mich in den Sitz sinken und genieße ein paar Augenblicke der Ruhe. Meine Gedanken kreisen ziellos umher, halten nichts fest, wie in einem meditativen Zustand. Plötzlich ist da doch etwas, und ich spüre, dass meine Lippen ein Lächeln formen. Jill, die ich gestern zum ersten Mal gesehen habe, scheint mir schon jetzt nicht mehr aus dem Kopf zu gehen.
Als ich am Restaurant eintreffe, sitzt Valerie bereits am Tisch und tippt auf ihrem Telefon herum. Verlegerinnen sind immer im Dienst.
»Ah, gut, dass du da bist, ich verhungere gleich«, sagt sie gespielt theatralisch und winkt nach dem Kellner. »Die haben hier eine hervorragende Muschelplatte.«
»Nicht für mich«, antworte ich und nehme Platz. »Ich kann mir keine Lebensmittelvergiftung leisten. Ich muss ein Manuskript fertig schreiben, erinnerst du dich?«
»Wie könnte ich das vergessen?«, antwortet Val spöttisch, weist auf unsere gefüllten Weingläser und hebt ihres. »Auf den nächsten Bestseller!« Wir stoßen an, mit dem guten Rotwein, den Val ausgewählt hat. Spanischer, glaube ich. Ich schaue mich um. Val hat sich nicht lumpen lassen, das Restaurant macht einen exquisiten Eindruck. Warmes Licht von geschmackvollen Lampen an den Wänden verleiht dem Raum ein angenehmes Ambiente. Sanft dringt Musik an meine Ohren, ein Violinkonzert. Ich muss an Jill denken und lächle, während ich mehr von dem vorzüglichen Wein trinke.
Ich höre ein Summen an meinem rechten Ohr, wie das einer Fliege. Als ich den Kopf drehe, ist dort nichts zu sehen. Wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein.
Wir bestellen, ich nehme Wild, Valerie die Muschelplatte. Danach entspinnt sich ein Gespräch über Verkaufszahlen, Umsätze, Kritiken, Lesungen und diesen ganzen Kram. Val blüht förmlich auf, während sie umreißt, welch fantastische Aussichten mein neuer Roman auf dem Markt hat. Ihre dunklen Augen funkeln und lenken für ein paar Momente vom Zuviel an Schminke in ihrem Gesicht ab. Ihr Antlitz ist das einer erfolgreichen Frau, die Jahrzehnte ihres Lebens investiert hat, um etwas zu erreichen. Wohlstand spricht aus ihrer Kleidung, ihrem Schmuck, selbst ihrer Frisur. Wir beide wissen, dass diese Unterhaltung nur den Zweck hat, mich verstehen zu lassen, wie wichtig mein neuer Roman für Val ist. Und natürlich für mich. Dabei war Ruhm nie das, worauf ich es abgesehen hatte. Ich will schreiben, will meine Gedanken loswerden, will mich mitteilen. Nein, ich muss, damit sich all die Ideen und Worte nicht in mir ansammeln und sich einen anderen Weg nach draußen suchen. Val hingegen sonnt sich im Erfolg ihrer Autoren und genießt jeden Strahl des Rampenlichts.
Ich höre das Summen erneut, stärker und lauter. Als wäre es nicht nur eine Fliege, sondern ein ganzer Schwarm. Instinktiv drehe ich den Kopf, suche mit den Augen den Raum ab und bleibe am Gesicht eines Gastes hängen, der direkt in meine Richtung starrt. Seine Haut ist vernarbt, als hätte er sich massive Schnittverletzungen zugezogen, eine Hälfte des Gesichts ist regelrecht entstellt. Er sitzt allein an einem Tisch, trägt eine schäbige Jacke, zerschlissene Schuhe und bleckt faulige Zähne, als mein Blick auf ihn fällt. Wie ist er in diesem Aufzug überhaupt hier hereingelangt? Vor ihm auf dem Tisch steht ein Glas, das mit dunkelroter Flüssigkeit gefüllt ist. Irgendetwas schwimmt darin. Sind das Augäpfel? Nein, das kann nicht sein. Ich zwinge mich, den Blick abzuwenden und schaue wieder zu Val, die noch immer in einem Monolog über die Großartigkeit ihrer und meiner Arbeit feststeckt wie in einer Endlosschleife. Sie scheint nichts bemerkt zu haben, weder das Summen noch den unheimlichen Gast. Doch ich kann es noch immer hören, es klingt jetzt, als würden mich Dutzende Fliegen umschwirren. Falls ich mir all das nur einbilde, wird es höchste Zeit für ein wenig frische Luft.
Ich erhebe mich, deute auf mein Telefon und dann nach draußen. Val versteht. Dann werfe ich einen vorsichtigen Blick in Richtung des Mannes mit dem vernarbten Gesicht. Für einen Augenblick hoffe ich, dass da niemand sitzt, dass der Schlafmangel und mein exzessiver Kaffeekonsum einfach ihren Tribut fordern und ich nur halluziniere. Doch meine Hoffnung wird jäh erstickt. Da sitzt er und taucht einen Finger in das Glas mit der roten Flüssigkeit, steckt ihn in seinen Mund und leckt ihn genüsslich ab. Dann, unvermittelt, starrt er wieder in meine Richtung. Sein Gesicht verformt sich. Wenn das ein Lächeln sein soll, ist es das furchtbarste, das ich je gesehen habe. Ich bin für einen kurzen Moment wie erstarrt, schaffe es dann aber, mich langsam zu bewegen. Val merkt von alldem nichts.
Der Mann erhebt sich. Ich höre etwas knacken, als würden Knochen brechen. Ein Anflug von Panik durchfährt mich und für einen Augenblick will ich einfach nur fliehen. Bevor ich auch nur einen Schritt machen kann, ist er bei mir und starrt mich an. Das Summen wird ohrenbetäubend.
»Sie sehen es noch nicht, oder?«, fragt er. Seine Stimme klingt blubbernd, heiser und unmenschlich. »Warten Sie, ich habe etwas für Sie.« Er greift sich ins Gesicht, beginnt mit den Daumen in seine Augenhöhlen zu drücken. Blut quillt hervor, läuft an seinen deformierten Zügen hinab. Ich schreie, rufe nach Hilfe, bin vor Angst wie gelähmt und blicke mich verzweifelt um. Niemand von den anderen Gästen, kein Kellner oder Val nehmen irgendeine Notiz von dem, was gerade geschieht. Niemand hört meine Schreie. Ich bin unfähig, mich von der Stelle zu rühren. Mein Magen fühlt sich an, als würden Ratten darin herumkriechen und sich durch die Eingeweide fressen, meine Hände zittern wie wild. Das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit ist überwältigend, meine Knie werden weich, meine Sicht verschwimmt. Währenddessen höre ich den Mann lachen, leise zunächst, doch das Geräusch schwillt an, bis es selbst das Summen in meinen Ohren übertönt. Ein Geräusch für Albträume, etwas, das man nie mehr vergessen wird. Dann hat er es geschafft. Mit einem triumphierenden Aufschrei streckt er mir die Hände entgegen. Zwei blutige Augäpfel starren mich an, herausgerissen mit bloßen Händen.
»ES IST EIN GESCHENK!«, schreit er aus voller Kehle. Mein Kopf dröhnt, als mein Blick in sein Gesicht schweift. Ich sehe leere Augenhöhlen, schwarze Löcher, aus denen Blut hervortritt. Übelkeit steigt in mir auf. Gleich muss ich mich übergeben.
»Hey, was nimmst du? Das Wild, wie immer?«
Ich öffne die Augen und atme tief aus. Val sitzt vor mir. Ihrem Gesichtsausdruck zufolge hat sie die Frage schon mehr als einmal gestellt. Der Kellner neben ihr hat den Notizblock gezückt und erwartet die Bestellung.
»Alles in Ordnung mit dir?« Val klingt besorgt. »Du warst für einen Augenblick wie weggetreten.«
Wir sitzen an unserem Tisch, so als wäre nichts passiert. Ich drehe den Kopf, suche nach dem Mann ohne Augen. An seinem Tisch sitzt eine Familie mit zwei Kindern, alle Anwesenden sehen normal aus.
»Das Wild«, sage ich langsam, während ich mich wieder Valerie zuwende, und presse ein Lächeln hervor. Mit bebenden Händen greife ich zum Weinglas.
»Erzählen Sie mir von Jill!«, fordert der gut gekleidete Mann mich auf. Er trägt kurzes Haar, leicht grau bereits, eine teure Brille und einen Anzug, den ich mir nicht leisten könnte. Sein Gesichtsausdruck ist der eines Profis, frei von jeglicher Emotion. Ich frage mich, wie lange er für dieses Pokerface trainieren musste. Sein Tonfall, die Art, wie er Worte formt, sein ganzer Habitus deutet darauf hin, dass er oft solche Gespräche führt.
»Ich verstehe nicht, worum es hier geht«, antworte ich. »Was wird ihr vorgeworfen? Warum bin ich hier?« Der Wachmann zu meiner Linken steht seit mehr als zwanzig Minuten regungslos da. Ich bin mit Handschellen gefesselt, die an einer Kette unter dem Tisch befestigt sind, sodass ich gerade einmal die Hände darauf legen kann, mehr ist nicht drin.
Mein Gegenüber lächelt sanft, ganz so, als hätte ich einen Witz gemacht. Er faltet die Hände vor der Brust, schaut mich durchdringend an, und ich sehe, dass das Lächeln auf seinen Lippen so schnell verschwindet, wie es erschienen war.
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, warum Sie hier sind. Es geht um Jill, Ihre Nachbarin, und um Dinge, die sie getan hat.« Er schaut an mir vorbei zum halbdurchsichtigen Spiegel, hinter dem es sich wahrscheinlich einige Zuhörer bequem gemacht haben. Ich kann mich nicht mal erinnern, wie genau ich hier gelandet bin.
»Also, wo waren wir?«, fragt er sanft. »Mein Name ist Matthews, ich versuche gemeinsam mit Ihnen herauszufinden, was in den letzten Tagen geschehen ist.«
Ich höre seine Worte, doch ich verstehe noch immer nicht, worauf er hinaus will. Ich erzähle, wie ich Jill kennengelernt habe, dass wir uns nähergekommen sind und seitdem viel Zeit miteinander verbracht haben. Dass ich Schriftsteller bin und sie Violine spielt und wir uns gut verstehen. Dass ihr Exfreund Max heißt und dass die Trennung alles andere als angenehm war. Dass ich mit ihm geredet habe, weil Jill mich darum gebeten hat. Dass Jill ein paar Kollegen erwähnt hat, andere Musiker, die ich aber nicht persönlich kenne. Matthews hört geduldig zu und es kommt mir vor, als wüsste er bereits, was ich sagen werde.
»Hat Jill jemals etwas von einem dunklen Ort erzählt?« Matthews’ Stimme klingt gespannt, fast erwartungsvoll. Die Worte schälen sich langsam aus seinem Mund. Wie kann er davon wissen? Nach ein paar Sekunden begreife ich es. Er führt dieses Gespräch nicht zum ersten Mal. Vor mir muss es andere gegeben haben. Das Licht im Verhörraum flackert, nur für einen Augenblick. Niemand außer mir scheint es zu bemerken. Ich schaue Matthews in die Augen und sehe darin etwas, das ich nicht erwartet habe. Ja, es ist mehr als deutlich. Er hat Angst. Vor mir? Oder vor dem dunklen Ort und den düsteren Mysterien, die er birgt?
Ich habe Val versprochen, das Manuskript binnen drei Tagen fertigzustellen. Das bedeutet noch mehr Kaffee, noch weniger Schlaf und womöglich weitere Halluzinationen. Das letzte Kapitel fehlt noch. Bekanntlich ist der Schluss eines Buches sein wichtigster Teil. Wer erinnert sich schon daran, wie es begann? Doch jeder weiß noch, wie es endet. Ich setze mich an den Computer, nehme einen Schluck aus meiner Kaffeetasse und lese den letzten Absatz ein weiteres Mal. Eine lange Nacht liegt vor mir.
Von nebenan dringen Geräusche herüber. Jill scheint zu Hause zu sein. Der Fernseher wird eingeschaltet, doch da ist noch etwas anderes. Sie weint. Zuerst bin ich nicht sicher, dann aber höre ich sie deutlich schluchzen. Ich lausche kurz an der Verbindungstür zwischen unseren Apartments.
»Jill, ist alles in Ordnung?«, frage ich laut und hoffe, dass sie es hört. Das Schluchzen verstummt für einen Moment.
»Nein, nichts ist in Ordnung«, antwortet sie mit bebender Stimme.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, frage ich und weiß schon eine Sekunde später nicht mehr, warum ich das von mir gegeben habe. Aber nun ist es zu spät. Flucht nach vorn. »Ich habe den wirklich guten Stoff da.« Ein glucksendes Geräusch ertönt. Lacht sie etwa?
»Egal was, Hauptsache stark«, antwortet sie. Der Fernseher verstummt. Wenige Augenblicke später höre ich es klirren. Sie schließt die Tür auf!
»Moment, ich muss nur schnell …«, rufe ich überrascht. Unglaublich, mein unbeholfener Spruch hat wirklich funktioniert. Ich nehme das metallene Knäuel vom Tisch, suche den richtigen Schlüssel und schließe meine Seite der Verbindungstür auf. Sie öffnet sich, gibt den Blick frei auf Jills Apartment. Meine neue Nachbarin sieht mich an, aus wundgeweinten Augen, einen Schlüsselbund in der Hand, und kann sich offenbar nicht recht entscheiden, ob sie lachen oder weinen soll. Ihre Haare sind pragmatisch hinter dem Kopf zusammengebunden, sie trägt kein Make-up und es sieht aus, als hätte sie den Tag über weite Strecken auf der Couch verbracht.
»Jeder andere hätte mir einen Drink angeboten«, sagt sie lächelnd. »Aber Kaffee ist sicher auch in Ordnung.« Sie schaut mich an, als wäre sie nicht sicher, was sie davon halten soll. Ich trete zur Seite und lasse sie herein. Während sie an mir vorübergeht, kann ich einen kurzen Blick in ihr Apartment werfen. Spartanisch eingerichtet, außer einer Couch und dem Fernseher sehe ich ein paar Stühle, einen Notenständer und einige Bücher, die auf dem Boden liegen.
»Wie lange wohnst du schon hier?«, fragt Jill, nachdem sie auf einem der Sessel am Glastisch Platz genommen hat. Sie spricht mit mir, als wären wir alte Freunde.
»Seit ein paar Tagen erst«, antworte ich. »Länger als du jedenfalls.« Sie lacht. Ich gieße frisch gebrühten Kaffee in zwei große Tassen, stelle sie auf den Tisch vor Jill und setze mich zu ihr.
»Was ist passiert?«, frage ich und schaue sie an. Ihr Blick weicht meinem aus, sie greift nach der Tasse und nimmt einen zaghaften Schluck.
»Ich war in meiner alten Wohnung«, beginnt sie, »und die Erinnerungen an früher haben mich überwältigt.« Sie schaut mir in die Augen. »Ich habe mich befreit, weißt du. Und wie es so ist mit Trennungen, irgendwas bleibt doch in deinem Herzen. Es noch einmal zu sehen ist … schmerzhaft.«
Ich nicke. »Exfreund?«, frage ich und verfluche mich gleich darauf innerlich. Hoffentlich versteht sie es nicht als plumpen Versuch, mehr über ihr Liebesleben herausfinden zu wollen.
Jill antwortet nicht sofort, sondern schaut mich auf eine merkwürdig vertraute Art an.
»All die Dinge, die man zurücklässt«, flüstert sie und stellt die Tasse auf den Tisch.
»Wovor bist du weggelaufen?«, fragt sie plötzlich. »Was hat dich hierher geführt?«
»Meine Arbeit«, antworte ich und deute auf den Rechner auf dem Schreibtisch. »Ich schreibe. Das ist mein Beruf.« Ich gehe zum Bücherregal und nehme einen meiner Romane heraus. »Ein neues Buch, eine neue Wohnung.« Jill macht große Augen, als sie auf den Einband schaut.
»Du bist Schriftsteller?«, fragt sie, so, als wäre es das Letzte gewesen, was sie erwartet hätte. Sie blättert durch die Seiten. Ich setze mich, ohne ihr zu antworten. Irgendwo mitten im Buch bleibt ihr Blick hängen und sie beginnt zu lesen. Ich schaue sie unentwegt an. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich jemanden getroffen, dessen Gegenwart ich länger als wenige Minuten ertrage.
Das Licht flackert für einen Augenblick, doch das spielt keine Rolle.
Ich werfe den Umschlag mit dem Manuskript in den Briefkasten. Fast zwei Tage und Nächte habe ich komplett durchgearbeitet, mehr als sechzig Seiten geschrieben, unfassbar viel Kaffee getrunken. Jill war da, hat gelesen und mir Gesellschaft geleistet, manchmal Violine gespielt. Früher hätte ich nie in Anwesenheit einer anderen Person schreiben können, doch mit ihr ist es anders. Es fühlt sich an, als würde sie meine Inspiration anregen, als flössen Gedanken und Worte nur so dahin, wenn sie in meiner Nähe ist. Wenn es Musen wirklich gibt, dann ist sie eine.
Die Metro ist brechend voll an diesem Abend. Doch sie ist der schnellste Weg zurück nach Hause, zurück zu Jill. Schwitzende Menschen, lärmende Jugendliche und pöbelnde Betrunkene machen den Großteil der Fahrgäste aus, und ich sitze mittendrin. Die Stimmung schwankt zwischen gereizt und offen feindselig. Ein Tag wie jeder andere in der Stadt. Das Leben macht aus den Menschen etwas Unmenschliches. Deswegen ziehe ich die Einsamkeit vor. Als die Metro in den Bahnhof einfährt und sich die Türen öffnen, quillt ein Strom aus Fleisch und Stoff aus der bis zum Bersten gefüllten Bahn und ergießt sich über den Bahnsteig. Ich lasse mich treiben in dieser Welle aus Menschen. Plötzlich spüre ich einen Stoß in die Seite. Irgendwer hat mich angerempelt.
»Hey, Mann, hast du ein Problem?«, fragt ein stämmiger Kerl mit grimmigem Gesichtsausdruck. Ich mache eine abwehrende Geste, murmle eine Entschuldigung und wende mich ab. Doch der Kerl gibt sich damit nicht zufrieden. Er packt mich an der Schulter und reißt mich herum.
»Wenn du Ärger suchst, den kannst du haben!«, sagt er mit raubtierhaftem Grinsen, und ich sehe, dass er nicht allein ist. Fünf weitere Kerle versperren mir den Weg nach draußen. Um uns herum stehen ein paar Dutzend Fahrgäste. Die meisten von ihnen versuchen, etwas Abstand zwischen sich und die Gruppe um mich zu bringen.
»Hört mal«, sage ich, »es tut mir leid. Ich wollte nieman…«, hebe ich an, doch in diesem Augenblick versetzt der stämmige Kerl mir bereits einen Schlag in den Magen. Ich sinke nach vorn zusammen, falle auf die Knie und ringe nach Luft.
»Es tut ihm leid, hört ihr das?«, ruft der Kerl seinen Kumpanen zu. »Vielleicht sollten wir als Entschädigung seine Brieftasche mitnehmen?« Zustimmendes Gegröle ringsumher.
Ich erhebe mich unter Schmerzen und deute an, dass ich meine Brieftasche heraushole.
Doch dann höre ich etwas. Musik. Corelli, kein Zweifel. Ich schaue dem Kerl in die Augen.
»Nein, es tut mir nicht leid«, sage ich leise. Er glotzt mich an, als hätte ich ihn in einer fremden Sprache angesprochen. An seinem Hals bildet sich ein dünner, horizontaler Strich. Er versucht zu sprechen, doch mehr als ein Gurgeln bringt er nicht hervor, bevor er zusammenbricht. Mehr und mehr Blut strömt aus seiner durchschnittenen Kehle und bildet eine dunkelrote Pfütze auf dem Boden. Drei seiner Gefolgsleute stürzen mir entgegen, ziehen Messer und lassen keinen Zweifel daran, was sie mit mir vorhaben.
Das Geräusch einer gezupften Geigensaite durchhallt den Bahnsteig. Ein glasklares A. Alle Umstehenden, meine Angreifer, Fahrgäste und Bahnpersonal erstarren für einen Augenblick. Die Zeit scheint still zu stehen, ein feiner Nebel aus Blut liegt in der Luft. Ich sehe gespaltene Schädel, abgetrennte Arme, Beine und Köpfe, aufgerissene Augen. Es scheint, als wäre binnen eines Wimpernschlags jemand durch die Reihen geschritten und hätte die Ernte eingeholt. Die Schnitte sind fein, als wären sie mit einem dünnen Draht ausgeführt worden. Oder einer Violinensaite.
Dann plötzlich stürzen die zerschnittenen Körper zu Boden, im Bruchteil einer Sekunde ist der Bahnsteig übersät mit Leichenteilen. Eine Welle von Blut schwappt mir entgegen wie eine Springflut, der metallische Geruch lässt mich taumeln. Ich bin schockiert, erschüttert über das Massaker, versteinert vor Entsetzen.
Ein Ruck durchfährt den Waggon, als die Bahn hält. Ich öffne die Augen. Ringsumher strömen Menschen auf den Bahnsteig. Keine entsetzten Schreie wegen zerstückelter Leichen, keine Fahrgäste, die bis zu den Knöcheln in einer Blutlache stehen.
Ich muss schlafen. Ganz dringend schlafen.
Als ich nach Hause komme, sitzt Jill auf einem Stuhl, den sie direkt vor das Fenster zur Straße gestellt hat. Sie scheint irgendetwas zu beobachten. Ein schwaches Klopfen ist zu hören, einmal, zweimal, dann noch einmal.
»Komm her und schau dir das an«, sagt sie. Ihr Tonfall lässt mir einen Schauer den Rücken hinunter laufen. Ich trete hinter sie und sehe eine Krähe, die auf dem Fensterbrett sitzt und wieder und wieder ihren Kopf gegen die Scheibe schlägt.
»Was zum …?«, setze ich an, als plötzlich der Schädel der Krähe mit einem trockenen Knacken aufbricht und sich Blut und Gehirnmasse über die Scheibe ergießen. Der leblose Vogel sackt zusammen und starrt uns aus toten Augen an. Ich möchte schreien, meinen Ekel ausdrücken, doch ich kann nichts anderes tun, als fasziniert hinzuschauen. Jill dreht den Kopf, sieht mich an und lächelt.
»Kannst du es sehen?«, fragt sie, und ihre Stimme klingt, als wäre sie Zeugin der wunderbarsten Sache auf Erden geworden. »Es hat begonnen und wir sitzen in der ersten Reihe.«
»Ich kenne keinen von diesen Menschen«, sage ich und schaue auf. Matthews fixiert mich, sein Blick klebt förmlich an mir. Er steht mir gegenüber, seine Handflächen auf die Tischplatte gestützt, und starrt herunter zu mir.
»Sind Sie sicher?«, hakt er nach.
»Absolut«, gebe ich wahrheitsgemäß zurück.
»Also gut«, erwidert Matthews, »vielleicht sagen Ihnen ja ihre Namen etwas.« Er tippt auf eines der Fotos, das einen Mann zeigt. Ein junger Kerl, muskulös, sportlich.
»Das ist Max Harper, siebenundzwanzig, arbeitet in einem Baumarkt.« Er schiebt das Bild beiseite und tippt auf das nächste. Eine Frau, Asiatin.
»Lianna Cheng, vierundzwanzig, Cellistin.« Er hält inne und mustert mich genau. Dann nennt er weitere Namen.
»Diese Namen hat Jill erwähnt«, werfe ich ein, »Max ist ihr Exfreund und Lianna spielt mit ihr im Orchester an der Philharmonie.« Ich überlege für einen Augenblick. »Die anderen sind Studienkollegen, glaube ich. Jill hat diese Namen erwähnt, da bin ich ziemlich sicher.«
Matthews’ Augen werden zu schmalen Schlitzen. Er setzt sich und breitet die Fotos vor mir aus. Es sind insgesamt zehn, sechs Männer und vier Frauen.
»Jill kennt also all diese Menschen?«, fragt er langsam.
Was ist denn das für eine Frage? Das habe ich ihm doch gerade gesagt. Ich nicke.
Ein triumphierender Ausdruck liegt auf dem Gesicht meines Gegenübers. »Sagten Sie nicht, Sie hätten mit Max Harper gesprochen, nachdem Jill Sie darum gebeten hatte?«, fragt er, und ich spüre, dass er gespannt ist wie ein Raubtier vor dem Sprung.
»Ja, das habe ich«, gebe ich zurück.
»Wie kann es dann sein, dass Sie ihn auf dem Foto nicht wiedererkannt haben?«, fragt Matthews.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich, »vielleicht ist das Foto schon älter und er sieht heute anders aus.«
Matthews schiebt die Fotos zusammen und verstaut sie in einem Ordner. Dann schaut er mir in die Augen.
»Die Menschen auf den Fotos sind alle als vermisst gemeldet. Einige schon seit mehr als drei Wochen, andere erst seit ein paar Tagen.« Er schweigt für einen Augenblick. »Hat Jill kürzlich eine dieser Personen getroffen?«
Ich überlege. Dann schüttle ich den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«
Matthews zieht ein großes Blatt Papier hervor. Darauf sind Fotos der