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Brauner Nebel: Kriminalroman
Brauner Nebel: Kriminalroman
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Brauner Nebel: Kriminalroman

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About this ebook

Berlin 1930: Emil Bachmann sitzt wegen Mordes im Gefängnis. Grau ist der Alltag, geprägt durch Schikanen der Aufseher. Dann kommt Emils Zellennachbar hinter ein Geheimnis aus dessen Vergangenheit - aus seiner Zeit bei der SA. Am nächsten Morgen ist der Mithäftling tot, erhängt. Kriminalkommissar Franz Reinicke glaubt nicht an Selbstmord und begegnet bei seinen Ermittlungen dem Mann wieder, den er selbst vor Jahren verhaftete: Bachmann. Kaltblütig und verroht. Ein Mann, dessen Handwerk das Töten ist.
LanguageDeutsch
PublisherGMEINER
Release dateSep 11, 2019
ISBN9783839261583
Brauner Nebel: Kriminalroman
Author

Jörg Reibert

Jörg Reibert wurde 1972 in Braunschweig geboren und lebt mit seiner Familie in Bamberg. Er ist Maschinenbauingenieur und promovierte im Bereich Geschichte der Naturwissenschaften über Technik im Ersten Weltkrieg. 2017 veröffentlichte er im Gmeiner-Verlag den zeitgeschichtlichen Krimi »Ein böser Kamerad« und dessen Fortsetzung »Brauner Nebel«. Mit »Im Gleichschritt stark« folgt nun der dritte Teil der Reihe.

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    Brauner Nebel - Jörg Reibert

    Zum Buch

    Ohne Gnade Berlin 1930: Emil Bachmann sitzt wegen zweifachen Mordes im Gefängnis ein. Der Alltag hinter Gittern ist rau, von harter Arbeit und Entbehrungen geprägt. Zwischen den Häftlingen gibt es zahlreiche Spannungen. Emils Zellennachbar kommt hinter ein Geheimnis aus dessen Vergangenheit. Am nächsten Tag findet man die Leiche des Mannes am Fenstergitter der gemeinsamen Zelle aufgehängt – angeblich Selbstmord. Routiniert ermittelt Kriminalkommissar Franz Reinicke und begegnet so dem Mann wieder, den er vor Jahren verhaftete. Er ist sich sicher, dass Emil Bachmann schuldig ist. Aber kann er das auch beweisen? Jahre später kommen alle NS-Straftäter per Amnestie frei. Auch Emil Bachmann fällt unter das neue Gesetz. Völlig mittellos findet er Unterschlupf in einem SA-Heim. Es sind neue Zeiten angebrochen. Seine Kameraden nehmen Rache an allen, die ihnen früher in die Quere gekommen sind. Der braune Mob ist völlig entfesselt. Franz Reinicke versucht sich dem Treiben entgegenzustemmen. Doch was kann er ausrichten?

    Jörg Reibert wurde 1972 in Braunschweig geboren und lebt mit seiner Familie in Bamberg. Er ist Maschinenbauingenieur und promovierte im Bereich Geschichte der Naturwissenschaften über Technik im Ersten Weltkrieg. 2017 veröffentlichte er im Gmeiner-Verlag den zeitgeschichtlichen Krimi „Ein böser Kamerad, dessen Fortsetzung mit „Brauner Nebel nun vorliegt.

    Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

    Ein böser Kamerad (2017)

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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    © 2019 – Gmeiner-Verlag GmbH

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    Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage 2019

    Lektorat: Katja Ernst

    Herstellung: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – LEONE

    Druck: CPI books GmbH, Leck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-8392-6158-3

    Widmung

    Für Eva, Henning und Jana

    Teil I

    Grau

    Grau ist eine Farbe ohne Farbstich, sie bewegt sich zwischen schwarz und weiß.

    Sie gilt als unauffällig, langweilig und traurig. Die Individualität geht in der grauen Masse unter.

    Graue Tage sind geprägt von Eintönigkeit und Trübsinn.

    Nimmt man Weiß für das Leben und Schwarz für den Tod,

    so steht grau für die Farbe der Geister und der Untoten.

    Kapitel 1

    Freitag, 14. März 1930

    Zellengefängnis Moabit, Lehrter Straße, Berlin

    Ping,

    Ping,

    Ping,

    Ping!

    Emil Bachmann wälzt sich auf die andere Seite. Der eiserne Bettrahmen quietscht, die Drahtbespannung gibt unter seinem Körpergewicht nach. Er zieht sich die abgenutzte Wolldecke bis zu den Ohren hoch. 5:30 Uhr, Weckzeit, wie an jedem Arbeitstag der Woche. Wachtmeister Jankowski, der Schinder, scheppert mit dem großen Schlüsselbund weiter geräuschvoll über die Stäbe der Geländer.

    Ping,

    Ping,

    Ping,

    Ping!

    Nur einmal kurz liegen bleiben dürfen, nur noch ein paar Minuten Ruhe. Aber die sind ihm nicht vergönnt. Der gesamte Zellenbau erwacht. Jetzt hört er weitere Schritte auf dem Gang, das Eilen von Stiefeln der Aufseher und das Klappern der Häftlingspantinen. Die Metallkarre des Kalfaktors rattert durch den Trakt. Bachmann schlägt die Augen auf. Direkt vor seiner Nase zieht sich ein feines Spinnennetz aus Rissen über den Putz. Unter ihm, auf der Pritsche seines Zellengenossen Helmut Keßler, kommt ebenfalls Leben in die Matratze. Er dreht sich von der Wand weg und schaut über den Rand des Bettes. Dort hängen zwei Beine heraus, die in grauen Drillichhosen stecken. Die rechte Socke hat an der Ferse ein ausgefranstes Loch. Das sollte er gefälligst mal stopfen. Jetzt setzt auch das Klopfen der Häftlinge gegen die Heizungsrohre ein, mit dem sie sich von Zelle zu Zelle Zeichen geben.

    Tak.

    Tak, Tak, Tak.

    Tak.

    Eine Stimme ertönt auf dem Gang, so laut, dass sie nur von einem Aufseher herrühren kann. Wahrscheinlich bekommt der Kalfaktor seinen üblichen Anschiss, weil er mit der Essensausgabe in Verzug ist. Eine Metalltür fällt krachend ins Schloss. Keßler erhebt sich mit leichtem Stöhnen. Er sieht zu Emil hoch und kratzt sich die Brust.

    »Hmm!«, brummt Keßler ihm als Morgengruß entgegen. »Raus aus der Furzmolle, damit wir die Betten hochklappen können.«

    »Kannst mich mal«, entgegnet Bachmann und zieht sich die muffige Decke übers Gesicht.

    »Selber«, kontert Helmut Keßler. Er tritt an das Blechschapp neben der Zellentür und klappt den Deckel nach oben. Emil hört den Urinstrahl in den darunter stehenden Eimer auftreffen. In der kleinen Zelle fängt es an, scharf zu riechen. Ein paar kostbare Sekunden bleiben ihm noch, dann muss er raus.

    Helmut Keßler gießt einen Schwall Wasser aus der Kanne in seine Blechtasse, nimmt sich die Zahnbürste und hockt sich auf den Blechkasten, um sein Morgenei zu legen. Derweil steigt Emil aus dem Bett, faltet die Decke vorschriftsmäßig und deponiert sie auf dem Hocker. Helmuts Zudecke wischt er mit einer Armbewegung auf den Fußboden, dann klappt er die Metallrahmen der Betten an die Wand und legt die Riegel vor. Derart verschlossen bleiben sie bis zum Abend.

    »Mach hinne, ich muss auch mal«, knurrt er in Richtung seines Zellennachbarn. Er nimmt sich die Waschschüssel und stellt sie auf den Tisch, um mit der Morgentoilette zu beginnen. Zuerst wickelt er sich den Lumpen vom Hals, den er nachts als Schalersatz gegen die feuchtkalte Luft trägt. Dann zieht er die Anstaltsjacke und das Hemd aus und legt beides auf den Hocker. Mit freiem Oberkörper beugt er sich über den Trog und schüttet sich mit der hohlen Hand Wasser auf die Haut.

    Keßler hat seine Sitzung beendet und räumt die Zahnputzutensilien auf das kleine Regalbrett, das den Gefangenen für ihre persönlichen Dinge zur Verfügung steht. Als er in die Hocke geht, um seine Decke aufzuheben, lässt er einen lauten Furz fahren. Emil verdreht entnervt die Augen. Was gäbe er manchmal für eine Einzelzelle – oder wenigstens für einen anderen Mithäftling, nicht einen solchen Berufsverbrecher wie den Keßler, den sie vor ein paar Monaten zu ihm gesteckt haben.

    Da klackt an der Zellentür der Judas, das kleine Guckfenster, und Emil hört, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wird: Aufschluss zum Frühstück. Doch wehe, einer von ihnen würde jetzt von selber die Zelle verlassen, das gäbe eine hausinterne Strafe und die ganzen mühsam verdienten Vergünstigungen wären mit einem Schlag gestrichen. Einzig der Kalfaktor darf die Tür aufmachen, um das Essen hereinzustellen.

    Wenigstens können die Gefangenen danach der engen Kammer entfliehen, da sie zur Arbeit in der Gefängnistischlerei eingeteilt sind. Für neun Stunden, zuzüglich der Pausen, dem Hofgang und der Unterrichtszeit entkommen sie diesem Loch. Doch dem Mithäftling Keßler entrinnt Emil dabei nicht. Der gehört nach seinem Empfinden zur Strafe dazu. Früher gab es nur Einzelzellen und ein absolutes Schweigegebot, da man nicht wollte, dass sich die Häftlinge gegenseitig auf dumme Ideen bringen. Seit dem Krieg ist das abgeschafft worden, weil mit der neuen Zeit auch der Gedanke der Humanität in den Gefängnissen Einzug gehalten hat. Der Gefangene wird nicht mehr verwahrt, nein, er soll sich bessern und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden! Wahrscheinlich kommen die Neuerungen jedoch eher daher, dass zu viele Häftlinge einen Koller gekriegt hatten. Zuerst fängt es damit an, dass die Leute mit sich selbst sprechen, irgendwann werden sie gewalttätig, schreien und schlagen um sich. Das kriegt man mit Dunkelarrest als Disziplinarstrafe auch nicht richtig in den Griff. Die Menschen, die nach Jahren entlassen werden, sind halb verblödet und zu nichts mehr zu gebrauchen. In den Zuchthäusern ging es früher sogar noch strenger zu als hier im Gefängnis. Normalerweise wäre Emil Bachmann ohne Wenn und Aber in solche Haft genommen worden, doch sein Anwalt hat vor Gericht auf »Gesinnungstäter« plädiert und sich letztendlich mit dem Richter entsprechend verständigt. Nur weil Bachmann Mitglied der SA ist und seine Opfer zufällig Juden waren, kriegt er nun Vergünstigungen und muss eine Stunde am Tag weniger arbeiten, als es im Zuchthaus der Fall gewesen wäre. Dabei wäre es ihm sogar recht, wenn er länger malochen dürfte. Hauptsache raus aus der Zelle, diesem stinkenden zehn Quadratmeter großen Loch, in dem er sich mit dem Proleten Helmut Keßler jede Nacht um die Ohren schlagen musste. Einem Dieb und Betrüger obendrein, der bereits mehrfach verurteilt wurde. Selbst der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, der eine Zuchthausstrafe mit sich gebracht hätte, wäre Emil lieber gewesen. Was hat er denn von seinen Rechten bisher gehabt? Die haben ihn schon früher nicht vor Krieg und Not bewahrt, und dass ihn jemand auf der Straße oder auf der Arbeit ordentlich mit »Herr Bachmann« anreden muss, ist ihm nicht wichtig.

    An der Mauer zum Gang rumpelt es. Die Klappe zum Toilettenschapp wird durch einen Häftling von außen geöffnet und der schwappende Notdurftkübel aus seinem Blechgehäuse gezogen und geleert. Emil ist froh, dass er eine ordentliche Beschäftigung hat. Auch wenn die Beförderung zum Kalfaktor unter den Gefangenen als erstrebenswert gilt – fremder Leute Ausscheidungen zu entsorgen hat er schon beim Kommiss gehasst. Die beiden Zelleninsassen stehen sich gegenüber und warten auf das Eintreffen der Morgenverpflegung. Gekämmt und gewaschen, die abgewetzte Anstaltskleidung schlotternd um die dünnen Körper, verbringen sie die nächsten Minuten, wie schon so viele zuvor, mit Warten.

    »Morgensuppe!«, meint Keßler schlecht gelaunt. »Wetten die würden die Scheißeeimer noch in der Küche verkochen, wenn sie könnten?«

    »Ach, halt die Fresse«, knurrt Emil Bachmann angeekelt zurück. Noch 30 Minuten, denkt er sich, und wir werden in die Tischlerei im Keller geführt. Dann muss der Mann arbeiten und dabei die Klappe halten. Dort würde später auch das Mittag- und Abendessen verabreicht. Erst um 19 Uhr ginge es zurück in die Zelle. Dort müsste er noch drei Stunden lang diesen Idioten ertragen bis zum Zapfenstreich, dann wäre es vollbracht. Wieder einen Tag in Würde totgeschlagen. Am schlimmsten sind die Sonntage, an denen es keine Arbeit gibt und sich die Minuten zäh wie Honig ziehen. Emil ist im Gefängnis geradezu zum Bücherwurm geworden, Hauptsache, er hat etwas, was er sich vors Gesicht halten kann, um nicht Keßlers ständiges Geplapper aushalten zu müssen. Dem scheint der Bau nichts anhaben zu können. Kunststück, der ist ja schon das vierte Mal hier drin.

    Im Krieg hat Keßler angefangen zu klauen. Zuerst aus Not, dann aus Gewohnheit. Ab und zu ist er der Polente dabei in die Finger geraten – Künstlerpech. Beim letzten Mal gab es viereinhalb Jahre für einen bewaffneten Raubüberfall auf einen Großhändler von Wirkwaren – zuzüglich einem Rest der Bewährungszeit vom letzten Mal. Das hat sich für ihn wirklich nicht gelohnt. Sein Kompagnon, der Schmiere stand, konnte sich vor dem Gericht fein herausreden, obwohl ihm Keßler in der Hoffnung auf Haftverkürzung ordentlich eine eingetunkt hat. Aus Mangel an Beweisen musste der Richter den Komplizen jedoch laufen lassen. Dafür hat sich der Kerl anständig gerächt und zieht nun mit Keßlers Mädel um die Häuser. Sauber hat er sie ihm ausgespannt. Was soll der Gute im Gefängnis dagegen machen? Zweimal kam sie ihn noch besuchen, dann war Schluss mit dem Theater, und Emil durfte sich die ganzen Jammergeschichten des Beziehungsendes anhören.

    Der alte Bratsch, der Küchenkalfaktor, öffnet die Zellentür. Er bewegt sich so langsam, dass man beim Zusehen schon müde wird. Aber warum sollte er sich auch beeilen? Der wird in seinem Leben ohnehin keine Aussicht mehr ohne Gitterstäbe haben, und das ist ihm nur allzu deutlich bewusst, wie er selbst immer wieder betont.

    Beide Gefangenen greifen sich ihre Tassen, um den Morgenkaffee zu empfangen. Mit einer großen Kelle löffelt Bratsch ihnen je einen Schlag davon in das Blechgeschirr. Dann gibt er Brot und Aufstrich aus und verschwindet wieder. Keßler und Bachmann setzen sich zusammen an den kleinen Holztisch in ihrer Zelle und schmieren sich die Stullen mit Margarine und Marmelade.

    Schweigend essen sie vor sich hin, nur ab und zu wird das Kauen unterbrochen, wenn einer von ihnen einen Schluck Kaffee nimmt.

    »Noch was?«, fragt Keßler und deutet mit seinem stumpfen Schmiermesser auf die Reste, die auf dem Tisch liegen.

    »Nein, fertig«, entgegnet Emil, leckt die Klinge ab und wischt sich die Hände an der Hose sauber.

    Auch Keßler beendet das Frühstück. Sie räumen auf und lassen das Geschirr vom Tisch verschwinden. Ein letzter prüfender Blick auf die Zelle zeigt ihnen, dass alles in Ordnung ist: die Betten hochgeklappt, Hocker und Tisch ordentlich ausgerichtet und das Bettzeug zusammengelegt. So würde die Inspektion durch den Wachtmeister ohne Rüge durchgehen.

    »Raustreten!«, schallt auch schon dessen Kommando durch den Gang. Helmut Keßler und Emil Bachmann öffnen die Tür, treten hindurch und stellen sich vorschriftsgemäß rechts von ihrer Zelle nebeneinander auf. Auch die Insassen der Nachbarzellen reihen sich im Gang auf. Aus der 17 schlurft der krumme Berger, der weit über 50 Jahre alt ist und einen Buckel hat. Sein Mithäftling Franke, obwohl nicht sonderlich groß gewachsen, überragt Berger locker um Haupteslänge. Vor der 16 pult der Gefangene Keller mit einem Finger seiner gelblich blassen Hand im Ohr. Hinter ihm, halb verborgen, steht Häftling Melzer, der ebenfalls, wie Bachmann und Keßler, in der Gefängnistischlerei eingeteilt ist.

    Bachmann lässt seine Augen durch den Zellenflügel C streifen. Ähnlich einer Kathedrale ist der 70 Meter lange Bau mit einem hohen Gewölbe überdacht. Im Block selbst sind die Zellen auf drei Stockwerke verteilt. Die untere Reihe ist durch den ebenerdigen Flur zugänglich, in die beiden oberen Etagen gelangt man über schmiedeeiserne Galerien, die sich an die weißgekalkte Wand klammern. Das ganze Gefängnis besitzt vier solcher Flügel, die gespreizt, wie die Finger einer Hand, vom Verwaltungsbau abgehen. Das Haus ist darauf angelegt, die Gefangenen mit einem Blick vom Zentrum aus überwachen zu können. Seit 80 Jahren steht es in Moabit, nicht weit von der Mitte Berlins. Eine sechs Hektar große Welt, mit eigenen Regeln und eigenen Bewohnern, die streng in zwei Klassen unterteilt sind: die Befehlenden und die Befehlsempfänger.

    »Achtung!«, ruft Wachtmeister Jankowski, und die Inhaftierten müssen still stehen, bis sie von ihren Betreuern zum Dienst abgeholt werden. Mit geschwellter Brust patrouilliert der Schließer im Gang und mustert einzelne Sträflinge genau. Er sucht Nachlässigkeiten, wie etwa rissige Anstaltskleidung, um sie abstrafen zu können. Später wird er die Zellen durchsuchen, um weiteres Fehlverhalten festzustellen. Jankowski ist ein Tyrann, der von allen hier abgrundtief gehasst wird, gegen dessen Spielchen sie jedoch machtlos sind.

    Zum Glück erscheint in dem Moment Wachtmeister Goerz, der die Tischlerei unter sich hat. Mit einem Wink des Zeigefingers beordert er seine Häftlinge zu sich. Die sechs Gefangenen machen sich auf den Weg in den Arbeitstag.

    *

    Café Josty, Friedrich-Ebert-Straße, Berlin

    Gut gelaunt greift sich Kommissar Reinicke eine Schrippe, schneidet sie auf und bestreicht sie dick mit Butter und Erdbeermarmelade. Herrlich, so ein bürofreier Tag mitten in der Woche, denkt er sich und schaut sich nach einem Kellner um. In schwarzen Anzügen laufen sie zwischen den Tischen hin und her und übersehen ihn geflissentlich. Immer wieder zuckt seine Hand nach oben, wenn sich ein Ober auf ihn zu bewegt, aber es scheint wie verhext zu sein. Schon seit einigen Minuten möchte er eine Bestellung aufgeben.

    »Soll ich mir meinen Kaffee etwa selber holen?«, brummelt er vor sich hin, es nagt in ihm. Er blickt an sich herab. Sein Anzug sitzt einwandfrei, der Binder tadellos um den Kragen. Was unterscheidet ihn denn verdammt noch einmal von den übrigen Gästen? Ist es der Kriminaler, den man ihm immer und überall ansieht? Ist das Personal einfach nicht auf Zack, weil der Laden erst vor ein paar Wochen eröffnet wurde? Nein, er ist kein Schriftsteller, Dichter, Dirigent, oder was sich sonst alles hier herumtreibt und sich vor den anderen Gästen produziert. Reinicke bekommt eine rötliche Gesichtsfarbe, wie jedes Mal, wenn er sich ärgert.

    »Was darf es sein, mein Herr?«

    Unbemerkt von dem Kommissar hat sich ihm ein Kellner von der Seite genähert und verbeugt sich leicht, um die Bestellung aufzunehmen. Reinicke, der eben noch vor Zorn gebebt hat, fühlt sich überfahren.

    »Ich – äh …«, er räuspert sich. »Ich hätte gerne Kaffee!«

    »Sehr wohl, der Herr. Mit Milch und Zucker? Möchten Sie eine Tasse oder ein Kännchen?«

    Lacht der Lackaffe ihn aus? Reinicke sieht den Ober prüfend an, aber er entdeckt keinerlei Anzeichen von Überheblichkeit. Ein wenig entspannt er sich. »Eine Tasse mit allem bitte«, bestellt er.

    »Möchten Sie sonst noch etwas?«, erkundigt sich der Kellner weiter. »Ich kann Ihnen gerne noch einmal die Karte bringen.«

    »Nein danke, nur den Kaffee und die Rechnung«, bittet Reinicke.

    Er nimmt die Tageszeitung wieder auf, in der er vorhin gelesen hat. Der Zeitungshalter ist ihm zu lang, ungeschickt hantiert er mit dem Stock und versucht, dabei sein Frühstücksgedeck nicht vom Tisch zu fegen. »Bin halt doch kein Literat«, brummt er frustriert und legt das Blatt zur Seite.

    Er blickt durch die Fenster auf die Friedrich-Ebert-Straße. Autos quetschen sich nebeneinander auf den Fahrspuren und keilen beinahe die Tram dazwischen ein. Fußgänger hasten panisch zwischen den Fahrzeugen auf die gegenüberliegenden Straßenseiten.

    Fast wie im Schützengraben, erinnert sich Reinicke. Sprung auf, marsch, marsch, sind wir damals über die Felder gerannt, immer die tödliche Gefahr im Nacken. Viel besser hat es der Zivilist von heute auch nicht, denkt er sich. Wenn dich so ein Kfz erwischt, knallt es böse. Jeden Tag sind die Zeitungen voller Unfälle, mit Schwerverletzten und Toten. Nur regt sich heutzutage niemand darüber auf. Die Bevölkerung nimmt den Zustand anscheinend als gottgegeben hin, wie Schnupfen und schlechtes Wetter.

    Dagegen könnte die Stadtverwaltung etwas tun, kommt es ihm in den Sinn – Ampeln aufstellen, Zebrastreifen anlegen, Verkehrspolizisten bereitstellen. Doch hier wird gespart. Dafür gönnt sich Berlin die beste Mordkommission der Welt, mit einem Riesenapparat am Alexanderplatz – wichtig, schon klar –, nur um vergleichsweise wenige Mörder dingfest zu machen.

    Jetzt eilt eine Gestalt über die Straße, klein, den Hut mit der linken Hand fest auf den Kopf gedrückt, während die Mantelschöße hinter ihm herwehen. Reinicke erkennt ihn am gehetzten Gang, sein Informant mit Spitznamen »Beulendieter« nähert sich. Woher er den Namen hat, weiß niemand genau. Mal hieß es, er sei ein übler Schläger, andere führten die Bezeichnung auf sein krummes und schiefes Gesicht zurück. Den könnte getrost ein Auto erwischen, denkt sich Reinicke, um den wäre es überhaupt nicht schade. Sauber überfahren und anschließend ein pompöses Begräbnis im Kreis der Ganovenfreunde, wäre doch ein passend-schönes Ende.

    Viel wahrscheinlicher ist, dass er den Beulendieter in den nächsten zwei, drei Jahren unter dubiosen Umständen in irgendeiner ärmlichen Behausung tot auffinden wird. Die sich anschließende Ermittlungsarbeit wird von vornherein zum Scheitern verurteilten sein. Der Täter, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, wird aus dem Gaunerumfeld stammen, und die halten dicht, selbst im schärfsten Verhör. Das wird dann wieder einen »nassen Fisch« geben, einen ungelösten Fall, dessen Akte der Chef der Berliner Mordkommission mit einem Seufzer im Schrank ablegen wird.

    Die Tür zum Café öffnet sich, und Beulendieter steckt den Kopf herein. Suchend blickt er vom einen zum anderen Ende des Raumes. Als er den Kommissar entdeckt, hellt sich seine Miene auf, und er tritt ein. Gebeugt, den Hut vor sich haltend, durchquert er das Café und bleibt vor Reinickes Tisch stehen.

    »Da!« Reinicke weist mit der Hand auf einen freien Stuhl und legt den Zeitungshalter an den Rand der Tischplatte.

    »Juten Morgen!«, strahlt ihn Beulendieter an und wirft seinen Hut auf dem Tisch. Umständlich beginnt er sich den Mantel vom Leib zu nesteln.

    Angeekelt schiebt der Kommissar die Kopfbedeckung mit dem Zeitungsstock aus der Reichweite seiner Kaffeetasse. »Auch einen?«, fragt er und deutet auf das vor ihm stehende Getränk.

    »Jerne, natürlich«, bestätigt ihm sein Gegenüber, der sich durch eine Verbeugung nur noch mehr im Mantel verheddert.

    »Ober!«, ruft Reinicke in den Raum. Jetzt braucht er sich nicht zu bemühen, die Aufmerksamkeit des Personals zu erhaschen, denn einige der Bediensteten sehen bereits zu dem seltsamen Paar hinüber, das der Kriminaler und der Kriminelle abgeben. Zwei Kellner in der Umgebung des Tisches tuscheln miteinander und verziehen belustigt das Gesicht. Einer der beiden strafft sich betont und eilt herbei.

    »Tasse Kaffee für meinen Gast«, knurrt Reinicke ihm entgegen, ohne das servile und in diesem Fall ironische »Was wünschen der Herr?« abzuwarten.

    Mit einem »Sofort!«, verschwindet der Mann umgehend wieder.

    »Aahh«, nimmt Beulendieter Platz und knetet sich die Hände.

    »Was gibt’s Neues?«, fragt ihn Reinicke.

    »Tja«, macht es der Angesprochene spannend. »Ick weeß jar nich, wo ick anfangen soll.«

    »Mich interessieren keine Geschichten, das weißt du! Komm zur Sache.«

    »Ja, uf jeden Fall war et nich einfach«, sagt der Informant und reibt grinsend Daumen und Zeigefinger gegeneinander.

    »Was willst du?«, reagiert der Kommissar ungehalten. »Du hast schon einen reichlichen Vorschuss eingestrichen.«

    »Ja, aber ick hatte Auslagen«, reklamiert Beulendieter.

    »Was denn für ›Auslagen‹?«, äfft der Kriminaler den weinerlichen Ton nach. »Haste einen auf dicke Hose machen müssen und allen einen ausgegeben?«

    »Nun«, druckst der andere herum. »Det nich jerade.«

    »Bevor ich dir noch mehr Geld in den Rachen schmeiße, lass erst mal etwas hören«, insistiert Reinicke.

    »Ihre Bestellung«, unterbricht der Kellner das Geplänkel, stellt die Tasse ab. »Macht 2,20 Mark für Frühstück und die Getränke«, wendet er sich an den Kommissar. Übellaunig zieht dieser seine Brieftasche hervor und begleicht die Rechnung.

    Gesalzene Preise haben sie, denkt er bei sich. Da hätten wir auch in irgendeine Kneipe gehen können. Dort gäbe es leckeres Bier und niemand würde uns schief ansehen.

    Er wirft dem Kellner ein paar Münzen als Trinkgeld hin, die jener eilig aufklaubt. Mit einem »Ich wünsche den Herren noch einen erfolgreichen Tag« verabschiedet der Mann sich.

    Der Tag ist Reinicke mittlerweile gründlich zuwider.

    »Und?«, will er das Gespräch wieder aufnehmen, doch Beulendieter schaut sich nur verunsichert um und schweigt. Der Kommissar hat genug von dem Getue. Er greift wütend nach der Zeitung, schlägt sie auf und hält sie sich vors Gesicht. Er grunzt und greift nach seiner Tasse, bis es sein Informant nicht mehr aushält.

    »Sie war jar nich da!«, platzt es aus ihm heraus.

    »Ach, sieh an«, kommentiert Reinicke und lässt die Zeitung sinken.

    »Ick schwör et ihnen hoch und heilich, ick hab ihr zwee Stunden ufjelauert, aber nüschte!«

    »Du, ich zahl dir keine 20 Mark, um mir Stussgeschichten anzuhören. Was hast du dann gemacht?«

    »Ick bin bei ihrem Jeschäft vorbei und hab inne Schaufenster jekiekt.«

    »Bist du verrückt? Du solltest dich dort nicht sehen lassen.«

    Auf Reinickes Schreibtisch liegt seit Monaten ein Fall, kalt wie Asche. Ein toter Theaterregisseur. Vielleicht war es wirklich ein Herzanfall gewesen, wie der Rechtsmediziner nicht ausschließen wollte. An der ganzen Sache wäre nichts auffällig, bestünde da nicht eine seltsame Verbindung zu einem Nähstudio für höhere Töchter. Und es gab Gerüchte, dass die Näherinnen und Modelle, allesamt ausnehmend hübsch, wie Reinicke selbst schon festgestellt hatte, nebenbei für Geld die Hüllen fallen ließen. Zudem wurde der

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