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Vom Ende der Langsamkeit: Ein Forscherroman
Vom Ende der Langsamkeit: Ein Forscherroman
Vom Ende der Langsamkeit: Ein Forscherroman
Ebook347 pages4 hours

Vom Ende der Langsamkeit: Ein Forscherroman

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About this ebook

Marie Antoinette, Königin von Frankreich wird zum Tode verurteilt. Die berittenen Boten, die diese Nachricht von Paris nach Frankfurt transportierten, benötigten mehrere Tage. 1849, die deutsche Nationalversammlung überträgt Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, die Frankfurter Kaiserkrone. Die Nachricht gelang von Frankfurt nach Berlin innerhalb einer Stunde.
Telegraphie, Telefon und Automobil veränderten nachhaltig unsere Zeit.

Die drei miteinander verknüpften Erzählstränge über Werner von Siemens, Philipp Reis und Bertha & Carl Benz begnügen sich nicht damit die Entwicklungsphasen dieser Erfindungen zu folgen, sondern zeigen vielmehr die unterschiedlichen Charaktere dieser Erfindertypen, die ungestüm und vielseitigen Persönlichkeiten, ihre Ängste, Zweifel und Nöte aber auch Leidenschaften und visionären Ideen, die diese Erfindungen erst möglich machten.

Gründlich recherchierte Fakten und historische Daten sind das Fundament für dieses lebendige, authentische und anschauliche Portrait einer Epoche, in der mutige Perönlichkeiten Neuland betraten und sich die Vorstellungen von Zeit und Raum tiefgreifend veränderten. Sie leiteten das Ende der Langsamkeit ein.
LanguageDeutsch
PublisherHenrich
Release dateAug 28, 2019
ISBN9783963200335
Vom Ende der Langsamkeit: Ein Forscherroman
Author

Ortrud Toker

Ortrud Toker studierte Kunstgeschichte, klassische Archäologie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt. Sie arbeitete in diversen Museen, u. a. im Deutschen Filmmuseum und im Museum fur Kommunikation. Ihre Schwerpunkte liegen in der frühen Film- und Mediengeschichte.

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    Book preview

    Vom Ende der Langsamkeit - Ortrud Toker

    Inhaltsverzeichnis

    Impressum

    Titel

    Prolog - 1793 - Paris

    1842 - Werner in der Zitadelle von Magdeburg

    1844 - Kutschenfahrt zwischen Paris und Berlin

    1845 - Berliner Männergesellschaft

    1846/47 - Explosive Mischung

    1848 - Auf die Barrikaden!

    1849 - Schopenhauer und der Kerl von der Paulskirche

    1861 - Bertha auf dem Jahrmarkt

    1861 - Eine Sonne von Kupfer

    1852 - Russische Abenteuer

    1867 - Picknick im Grünen

    1869 - Werners neues Glück

    1874 - Philipps Abschied

    1874 - Impressionen im Mannheimer Schloss

    1877 - Telephonfieber in Berlin

    1877 - Bittere Not bei Familie Benz

    1883 - Der Baum

    1883 - Archaeopteryx

    1888 - Bertha fasst sich ein Herz

    1888 - Lichterfest in der Villa Siemens

    Epilog - 1897 - Am Bristolkanal

    Schlussbemerkung und Dank

    Auswahlbibliographie

    Autorin - Ortrud Toker

    Impressum

    Ortrud Toker

    Vom Ende der Langsamkeit – Ein Forscherroman

    ISBN 978-3-96320-033-5

    © 2019 Henrich Editionen,

    ein Unternehmen der Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt am Main

    eBook 1/2019

    Alle Rechte vorbehalten.

    Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Titelbild: © MKF Bert Bostelmann

    Gesamtherstellung und Verlag:

    Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt am Main

    Layout: Henrich Druck + Medien GmbH

    www.henrich.de

    Ortrud Toker

    2019

    Titel

    Vom Ende der

    Langsamkeit

    ein Forscherroman

    Prolog - 1793 - Paris

    Der Maler Jacques-Louis David stand am Fenster und schaute­ über die Dächer von Paris. Er wartete. Nervös streifte sein Blick den wolkenverhangenen Himmel und der kühle Herbstmorgen verdüsterte seine Gedanken. Es waren stürmische Zeiten des Umbruchs. Die Revolution in vollem Gang.

    Anfang Juli war sein Freund Jean Paul Marat heimtückisch erstochen worden und David wollte ihm mit seinem Gemälde ein Denkmal setzen. Täglich hatte er an dem großformatigen Ölbild gearbeitet, kühn die obere Hälfte der Bildfläche in dunkler Farbe gehalten, darunter lag sein Freund in der Badewanne, die frische, noch blutende Stichwunde unter dem Schlüsselbein sichtbar, den Brief der Royalistin Charlotte Corday in der linken Hand, die sich Zutritt zu seiner Wohnung verschafft hatte und den Wehrlosen kaltblütig ermordete. Marats rechter Arm hing leblos zu Boden, die Schreibfeder – sein Instrument des Ausdrucks und revolu­tionären Protestes – fest mit den Fingern umklammert.

    Noch heute, am 16. Oktober, wollte David das Bild derPariser Bevölkerung präsentieren. Der Tod lag in der Luft und forderte seine Opfer. Wieder schweifte sein Blick hinaus auf die Straßen von Paris.

    Sobald er den Wagen erkennen konnte, tunkte er die bereitliegende Zeichenfeder ins Tuschefässchen und warf mitraschen Bewegungen die Umrisslinien aufs Papier. In wenigen schwung­vollen Strichen erfasste er die traurige Gestalt, diegerade an seinem Fenster vorbei gefahren wurde. Der Karren war auf dem Weg zum Revolutionsplatz.

    Die Frau saß stolz, in gerader Haltung auf dem offenenGefährt. Sie trug ein einfaches, schmuckloses Kleid und auf dem Kopf die Haube, die sie als Witwe kennzeichnete. Ihre Hände waren hinter dem Rücken verschränkt, der Kopf geneigt. Die Augen hielt sie gesenkt, den Blick starr auf den Boden geheftet. Nichts an ihr erinnerte an den Glanz und die Pracht vergangener Tage.

    David beeilte sich, denn der Henkerskarren war schon fast vorüber und seinem Blick entschwunden. Die Skizze war noch nass, flüchtig hingeworfen, dem kurzen Moment des Passierens entrissen. Die Frau hatte nur noch wenige Augenblicke zuleben. Die Hinrichtung fand um zwölf Uhr statt.

    In der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, mehr als fünfhundert Kilometer von Paris entfernt, konnten die Bürger am 26. Oktober 1793 in der „Frankfurter Kaiserlichen Reichsoberpostamtszeitung" Numero 171 folgendes lesen:

    „Die Greulthat ist begangen. – Die Menschheit beleidigt worden. Die Tochter Marien Theresiens, die geliebte Marie Antoinette, Königin von Frankreich, in deren Sonnenschein ehemals der Franzos lebte und webte, sank von ihrer glänzenden glücklichen Höhe in die Klauen rasender Ungeheuer. Gestern Abend wurde sie zum Schein noch einmal verhöret, und dann zum Tode verurtheilt. Heute Morgen ist sie hingerichtetworden.

    Die näheren Umstände, die diesen Mord begleiteten, ungeklärt. Nur so viel: sie war standhaft bis zum letzten Augenblick, und starb als eine Königin ..."

    Die Bewohner Frankfurts erhielten diese Meldung an einem Samstag. Zu diesem Zeitpunkt war Marie Antoinette bereits zehn Tage tot und in einem Massengrab verscharrt.

    Die Boten auf ihren Pferden, die diese Nachricht ungefähr fünfhundertundsiebzig Kilometer von Paris bis nach Frankfurt am Main transportierten, benötigten dafür mehrere Tage. Dies war der Takt der Zeit.

    1842 - Werner in der Zitadelle von Magdeburg

    Fast fünfzig Jahre später lag der junge ArtillerieoffizierWerner Siemens auf einer harten Pritsche in seiner Zelle und wartete ungeduldig auf das Morgengrauen. Hinter dem Fenstergitter war es noch dunkle Nacht. Seine Gedanken richteten sich auf den heutigen, bald anbrechenden Tag, wo er endlich den entscheidenden Versuch starten wollte.

    Notdürftig hatte er sich hier in der zwar geräumigen, aber doch äußerst kargen Zelle, ein Laboratorium eingerichtet.Wiederholt strich Werner sich durch das störrische, widerspenstige Haar, das sich sofort, nachdem die Hand es freigab, wieder aufrichtete.

    Es half alles nichts. Er war kribbelig und angespannt. Zu dumm, dass er hier fest saß, in der gefürchteten Festungsanlage von Magdeburg, schön gelegen, mitten auf einer Insel in der Elbe. Doch dafür hatte der Fünfundzwanzigjährige keinen Sinn. Sein Geist war unruhig, denn er wusste nicht einmal, wie lange seine Haftstrafe dauern würde. Werner rechnete mitmindestens einem halben Jahr. Ihm war bewusst, dass viele der Mitgefangenen extrem hart arbeiteten. Sie wurden bei Erdarbeiten und im Steinbruch eingesetzt, wo sie vor Karren gespannt, den Schutt abtransportieren mussten. Hinzu kamen mangelhafte Ernährung und jämmerliche hygienische Bedingungen. Auspeitschungen, Brandzeichnungen, Strangulationen, Erschießungen und Vierteilungen standen auf der Tagesordnung. Als ein Mann des Militärs genoss Werner hingegen die Privilegien höher gestellter Personen, denen man erhebliche Vergünstigungen und Erleichterungen gewährte, unter anderem größere und hellere Zellen; einige durften sogar ihre Diener mitbringen und Besuch empfangen.

    Die missliche Lage war ärgerlich, aber Werner wollte das Beste daraus machen und war fest entschlossen, die Zeit nicht unnütz verstreichen zu lassen, sondern die Gefangenschaft seinen Experimenten zu widmen. Das Duell seines Freundes, der wie er Artillerieoffizier war, und ihn gebeten hatte, ihm alsSekundant gegen den herausfordernden Infanterieoffizier beizustehen, war glimpflich ausgegangen. Diese Duelle, die die Zwistigkeiten hitzköpfiger Soldaten verschiedener Waffengattungen klären sollten, wurden meistens ohne größere Blessuren überstanden. Doch dieses Mal kam es leider zur Anzeige und einem kriegsgerichtlichen Nachspiel. Der preußische Staat ging inzwischen unbarmherzig gegen Duellanten vor. Die gesetzlichen Strafen waren streng, wurden jedoch fast immer durch eine bald darauf folgende Begnadigung gemildert.

    Werner richtete sich auf und blickte durch das kleine vergitterte Fenster. Noch waren keine Anzeichen der Morgendämmerung zu erkennen. Er zwang sich zur Ruhe. „Besser Hammer als Amboß sein, in schweren Zeiten, wo womöglich alles drauf und drunter geht", hatte sein Vater ihm geraten, bevor Werner Ostern 1834 mit gerade siebzehn Jahren den elterlichen Gutshof verlassen hatte und sich auf Wanderschaft von Schwerin nach Berlin begab. Dort erhoffte er einen der begehrten Plätze auf der preußischen Artillerie- und Ingenieurschule zu ergattern. Das Leben der Eltern auf dem Gut Menzendorf war von großen Entbehrungen geprägt und bestand aus harter Landarbeit. Allein ein Scheffel Weizen kostete einen Gulden, eine unerhörte Summe, so dass eine kostspielige Ausbildung für Werner nicht in Betracht kam, zumal er zahlreiche Geschwister hatte.

    Die militärische Laufbahn war vielversprechend, die Grundausbildung zum Offizier solide. Dazu kam, dass die Artillerie als Bodenstreitkraft des Heeres mit großem Geschütz und Kanonen ausgestattet war, was ihn schon früh faszinierte.

    Ein Grinsen huschte über Werners spitzbübisches Gesicht als er sich daran erinnerte, wie er sich mit Bruder Hans und selbstgefertigten Flitzebögen auf die Jagd nach Krähen und Raub­vögeln gemacht hatte und, wenn es zum Streit kam, die brüderlichen Konflikte durch gespielte Duelle entschieden werden mussten. Dafür hatten sie flink die gefiederten Pfeile mit einer angespitzten Stricknadel aus Mutters Nähkorb zur scharfen Spitze umfunktioniert und damit aufeinander gezielt.

    Die Aufnahmeprüfung in Berlin war anspruchsvoll. Wie sehr hatte er sich vor den Prüfungsfragen in Geographie gefürchtet, die neben Mathematik, Geschichte und Französisch abverlangt wurden. In Mathematik konnte er glänzen, Geschichte klappte so lala. Doch die unleidliche Geographie bereitete ihm Bauchschmerzen. Bei der Prüfung fragte der strenge Hauptmann nach der Lage von Tokay, während er mit strammen Schritten auf und ab marschierte. Keiner rührte sich. Die Stimmung war angespannt. Der Hauptmann zupfte an seinem Ziegen­bart und wurde zornig. Werner, der in der letzten Reihe saß, fiel ein, dass seiner kranken Mutter einst der Tokayer Wein zur Genesung verordnet wurde, den man landläufig auch den Ungarnwein nannte. Mutig rief er „in Ungarn, Herr Hauptmann! und sofort erhellte sich dessen Miene „Aber, meineHerren, sie werden doch den Tokayer Wein kennen!

    Dieser glückliche Umstand rettete Siemens und so gehörte er schließlich zu den vier Besten, die die Aufnahmeprüfung bestanden hatten.

    Nur sein gekräuseltes, hellbraunes Haar widerstrebte jedem militärischen Reglement. Selbst das Magdeburger Bier, welches er sich zur Glättung und Bändigung ins Haar schmierte, – ein Ratschlag eines Kameraden – half nur bedingt. Kaum getrocknet, büxten, zum Entsetzen seiner strengen Vorgesetzten, die rebellischen Locken wieder aus. Gerne dachte er an diese trotz harter Exerzitien unbeschwerte und glückliche Zeit zurück, besonders auch an seinen Freund William, den er bei der reitenden Artillerie kennengelernt und dessen klarer Verstand und aufrichtiges, zuverlässiges Wesen ihn sofort in Bann gezogen hatte. Eine arbeitsreiche, herrlich intensive Zeit war das und die Freundschaft zu William eine stete Bereicherung.

    Bei den Schießübungen erfuhr Werner zum ersten Mal seine technische Begabung, denn während sich die Kameradenabmühten, fiel ihm alles leicht. Dann entdeckte er seine Liebe zur Wissenschaft. Mathematik, Physik und Chemie fesselten ihn zunehmend, er spürte, dass große Umwälzungen in Gang waren.

    Am Horizont blitzten helle Lichtstreifen auf und tauchten die Zelle in ein rötliches Licht. Siemens sprang auf die Beine, wusch sich in der Waschschüssel die Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Endlich konnte es losgehen.

    Auf dem kleinen Holztisch arrangierte er Drähte, Glasgefäße, Kolben und Phiolen, füllte Flüssigkeiten um und brachte alles in die gewünschte Ordnung.

    Immer wieder aufs Neue war es ein spannendes Erlebnis, zu erforschen wie verschiedene Materialien, Stoffe und Flüssigkeiten miteinander und aufeinander reagierten. Da konnte man schon abenteuerliche Erfahrungen machen! Hatte er doch vor einigen Monaten in seiner guten Stube Schmerzvolles erleben müssen. Gewöhnlich hantierten die Soldaten beim Entzünden von Kanonenladungen mit offener Flamme und hielten die heiße Lunte einfach in der Hand, was zu Verbrennungen führte. Auf der Suche nach besseren und ungefährlicheren Möglichkeiten, experimentierte Siemens mit anderen Zündmitteln. Er hatte von Versuchen gehört, bei denen kleine Metallröhrchen mit Explosivstoff gefüllt wurden, die sich dann erst beim Herausziehen eines kleinen Drahtes entzündeten. Das weckte Werners Forschungsdrang. Da er kein geeigneteres Gefäß zur Hand hatte, mischte er in einem leeren Pomadentöpfchen mit dickemPorzellanboden einen wässrigen Brei aus Phosphor und Kali. Bevor er das Haus verließ, stellte er den Topf gut zugedeckt in eine kühle Fensterecke. Gleich nach seiner Rückkehr schaute er nach, ob der Topf noch an seinem Platz stand, was – gottlob – der Fall war. Als er jedoch vorsichtig das Schwefelholz herauszog, mit dem er die breiige Masse verrührt hatte, kam es zueinem gewaltigen Knall und einer Explosion, die ihm den Militärhelm vom Kopfe schlug, die Fensterscheiben samt Rahmen zersplitterte und ihn vor Schreck erstarren ließ. Sekundenlang blieb er wie angewurzelt stehen, bevor er sah, dass Zeigefinger und Daumen bluteten und sich eine böse Blase gebildet hatte. Überall im Zimmer war das pulverisierte Porzellan des Töpfchens wie Puderzucker verstreut. Dazu stank es fürchterlich.

    Als es ihm plötzlich möglich war, die Luft frei durch beide Ohren sausen zu lassen, wurde Werner klar, dass nun auch das zweite Trommelfell geplatzt war. Das erste war bereits während einer Schießübung zerstört worden.

    Wie gut, dachte er, dass Mutter das nicht miterleben musste. Dass ihr das erspart geblieben war, ihn so jämmerlich zu er­leben, von Kopf bis Fuß bestäubt, verletzt und blutend. Der Kummer würde sie quälen und ihm die Schamesröte ins Gesicht treiben. Jäh durchzuckte ihn der Gedanke an seine geliebte Mutter. Sie war Rückgrat und Herz der großen Familie und als sie im Sommer 1839 im Alter von siebenundvierzig Jahrengestorben war, ließ sie den Vater hilflos, mit materiellen Sorgen und einer großen Kinderschar zurück. Werner hatte nur einen älteren Bruder, Ludwig, auf den niemand zählte und über den selbst die Eltern nicht sprachen, da er als missraten galt. Danach kam Schwester Mathilde, zwei Jahre älter als Werner, der am 13. Dezember 1816 geboren wurde. Darauf folgten wie die Orgelpfeifen seine jüngeren Geschwister: Hans und Ferdinand, Wilhelm, Friedrich, Carl, Franz und Walter. Otto war erst drei Jahre alt als Mutter starb, Sophia vier und Walter sechs. Den begabten Bruder Wilhelm hatte Werner mit nach Magdeburg genommen und ihn auf die Gewerbe- und Handelsschule gebracht. Im Januar 1840, nur ein halbes Jahr nach dem Tod der Mutter starb auch sein Vater, der gramgebeugt den Verlustseiner Frau nicht verwinden konnte. Die zwölf Geschwister wurden auseinander gerissen. Der Schmerz darüber überfiel Werner immer wieder heftig und völlig unvorbereitet. Was sollte nur aus all seinen Geschwistern werden. Als Familienvorstand fühlte er eine große Verantwortung.

    Die akute Taubheit nach der Explosion verhinderte, dassSiemens das energische Klopfen an der Zimmertür hörte und erst als sich eine aufgebrachte und entsetzte Menschenmenge in seine kleine Stube drängte, gewahrte er, wie viel Glück er gehabt hatte. Die Nachbarn waren herbeigeeilt, da sie irrtüm­licher Weise annahmen, er hätte sich erschossen.

    Tatsächlich lag die Ursache des Unglücks an seinem arg­losen Zugehburschen, der beim Aufräumen den Topf in der Fensterecke vorfand, diesen bedenkenlos zum Trocknen in die Ofenröhre setzte und ihn dann, kurz vor Werners Rückkehr, flugs an seinen ursprünglichen Platz zurückstellte.

    Mittlerweile war es taghell in der Zelle. Das Fenstergitter zerteilte den Gefängnisboden in regelmäßige flimmernde Lichtquadrate. Werner warf einen Blick hinaus und dachte daran, dass 1806 die Truppen Napoleons vor der Festung gestanden hatten und obwohl die Preußen an Soldaten und Offizieren weit überlegen waren, hatte sich der damalige Kommandant entschlossen, die Festung zu übergeben. kurioserweise kam es nicht dazu, denn die Franzosen zogen 1814 kampflos wieder ab. Nachdem Paris bereits gefallen war, hatten sie noch einen freien Abzug nach Frankreich ausgehandelt. Siemens schüttelte leicht den Kopf und wandte sich seinen Apparaten zu. Er schwitzte leicht.

    Wie gut, dass er geistesgegenwärtig auf dem Weg zur Zitadelle in einer Chemikalienhandlung die Gerätschaften und das Zubehör gekauft hatte. Der freundliche junge Mitarbeiter des Geschäftes, dem anscheinend die Abwechslung sehr willkommen war, hatte ihm versprochen, die restlichen gewünschten Utensilien höchstpersönlich in die Festung einzuschmuggeln und auch nachfolgende Botendienste zu übernehmen.

    Siemens überprüfte nochmal die gesamte Anordnung. Vor kurzem erst hatte er von den Studien eines Herrn Jacobi erfahren, dem gelungen war, Kupfer auf andere Materialien niederzuschlagen. Dies reizte ihn sogleich zur Nachahmung und auf Anhieb glückte das beschriebene Verfahren bei der ersten Anwendung. Aber Siemens wollte mehr, ahnte er doch, dass sich hier möglicherweise eine Tür in völlig neue, noch unerforschte Gebiete öffnete. Zudem machte ein Herr Daguerres aus Frankreich von sich reden, der augenscheinlich allein aus Sonnenlicht Bilder zu erschaffen verstand. Eine ungeheuerliche Erfindung, wofür der Franzose Mandé Daguerres – so sagte man – unlösliche Gold- und Silbersalze verwendet hatte. Das wollte Siemens nun überprüfen und für seine Zwecke nutzen.

    Inzwischen waren alle Dinge an ihrem Platz. Siemens kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich, damit ihm nichts entging.

    Draußen ertönte Stimmengewirr von geschäftigem Treiben, doch Werner ließ sich davon nicht ablenken. Behutsam steckte er einen neusilbernen Löffel in die Lösung und hielt die Luft an. Sein Warten wurde schon bald belohnt. Unglaublich, was jetzt geschah. Vor seinen Augen begann sich der Löffel zu verwandeln und in nur wenigen Minuten erstrahlte seine Oberfläche im reinsten, schönsten Goldglanz und blinkte im Tageslicht. Ein großartiger, erhebender Augenblick. Siemens erfüllte eine unbändige Freude, als er die Bedeutung dessen erkannte, was ihm da mit Hilfe des galvanischen Stromes gelungen war. Er konnte es kaum glauben. Tatsächlich war es ihm geglückt, Metall zu vergolden. Siehst du, dachte er, selbst im kleinsten Raum kann man die Welt verändern! Dabei hörte er schon die Stimme seines Freundes William Meyer, der diesen Erfolg in seiner ureigenen Art achselzuckend und trocken kommentieren würde. „Wieder mal Sau beim Pech gehabt, Werner!"

    Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht vonSiemens‘ Experiment und nicht lange, da stand ein geschäftstüchtiger Magdeburger Goldschmied in seiner Gefängniszelle und verhandelte über die Rechte auf die Anwendung des Verfahrens. Wenig später konnte man den Juwelier pfeifend und triumphierend, den Vertrag vor sich herfächelnd, mit federndem Gang die Zitadelle verlassen sehen. In seinen Gedanken glitzerten schon die Broschen und Ketten, die er nun veredelt und verfeinert, in pures Geld verwandeln konnte. Tja, das war sein Tag und dank dieses krausköpfigen Erfinders war er ein gemachter Mann. Das Herz des Juweliers hüpfte noch höher, als er sich die funkelnden, glückstrahlenden Augen seiner Kundinnen beim Betrachten der Schaufensterauslagen vorstellte. Seine Phantasie schlug Purzelbäume beim Ausmalen zukünftiger Luxusartikel. Was würde er nun alles vergolden und versilbern! Selbst Gegenstände aus billigstem Metall konnten überzogen und aufgewertet werden, üppiger Halsschmuck ebenso wie Trauringe, Uhren und Besteck. Mit einem Streich würde er zum angesehendsten und wohlhabendsten Besitzer eines florierenden Juweliergeschäftes der Magdeburger Innenstadt.

    Siemens Überlegungen waren ganz anderer Natur und gingen viel weiter. Die 50 Louisdor, die er für diesen Handel von dem Goldschmied bekommen hatte, würde er in Gänze in die Verbesserung und Erweiterung dieses Verfahrens für tech­nische Anwendungen investieren. Er brauchte dringend zahlungskräftige Geldgeber, denen er seine Rechte an dem Vergoldungsverfahren verkaufen konnte. Hierzu würde er sich wohl auf Reisen begeben müssen, sobald er aus dem Gefängnis entlassen wurde.

    1844 - Kutschenfahrt zwischen Paris und Berlin

    „Herrgott Sakrament, fluchte Schwarzlose, als die Postkutsche zum wiederholten Mal unsanft über ein Schlagloch fuhr und die unbefestigte Straßenlage nicht abgefedert wurde. „Das stößt einem noch die Seele aus dem Leib, mit diesen harten Sitzen hier, so hart wie Stein. Und mein Rücken ist jetzt schon ganz steif, jammerte er weiter und rieb sich mit den Händen das Steißbein, während er hörbar die Luft herausblies. Dabei lag Paris erst wenige Meilen zurück und die anstrengende Heimreise nach Berlin noch vor ihnen. Werner schaute geistesabwesend in die Landschaft, die in horizontalen Bändern an ihnen vorbei zog. Braune Felder, grüne Wiesen, dunkle Wälder, am Himmel dicke Schraffuren von Weiß und Blau.

    Werner hatte seinem Bruder Wilhelm in London einen Besuch abgestattet, mit dem Hintergedanken, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen wollte er Wilhelm unterstützen, der versuchte, in London geschäftlich Fuß zufassen und zugleich wollte er auch mit seiner eigenen Erfindung weiter kommen. Wilhelm hatte versucht, Werners Gold­patent zu verkaufen. Als sich dabei unvorhergesehene Verwicklungen abzeichneten, rief er den älteren Bruder zu Hilfe. Doch die Angelegenheit war verfahren. Werner konnte nichts ausrichten. Die jähe Erkenntnis war für ihn äußerst schmerzhaft. Er musste einsehen, dass es nur eine Seite der Medaille war, eine Erfindung zu machen und patentieren zu lassen. Eine ganz andere Geschichte war es jedoch, diese Erfindung in großem Maßstab zu produzieren und zu vertreiben. Geeignete finanzkräftige Fabrikanten zu finden, stellte ein unüberwindbares Hemmnis dar. Werner befand sich – leider ohne ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielt zu haben - auf der Rückreise. Sein Offiziers­status ließ ihm nicht viel Zeit für aufwändige Reisen. Er war gründlich ernüchtert.

    Schwarzlose hatte er im kleinen Pariser Hotel kennen­gelernt, wo er im achten Stockwerk ein enges Dachzimmer bezogen hatte. Ja, im Nachhinein war es eine Schnapsidee gewesen. Anstatt direkt von London aus zurück nach Berlin zu reisen, hatte er sich in Brüssel spontan entschieden, den Umweg über Paris zu nehmen, um dort die gerade stattfindende Industrieausstellung zu besuchen. Völlig ohne Erfolg und Erkenntnis­gewinn wollte er nicht zurückkehren. Vielleicht fand er Inspiration, wenn er sich einen Überblick verschaffte, was sich an technischen Neuigkeiten so bot. Wieder einmal waren es seine Ungeduld und Neugier, die ihn umdisponieren ließen. Von seinem Brüsseler Hotel aus hatte Werner dann unverzüglich seinem Bruder Wilhelm in London einen Brief geschickt, mit der Bitte ihm schnellstmöglich Geld nach Paris zu senden. Gewisssenhaft fügte er die Adresse der zukünftigen Unterkunft in Paris bei, damit auch alles seine Richtigkeit hatte. Dann erst machte er sich auf den Weg. Die Reise von Brüssel nach Paris auf dem Hochsitz einer Postkutsche war ermüdend und dauerte zwei volle Tage, zudem fand er eine von Messebesuchern völlig überlaufene, laute und stinkende Großstadt vor. Jeden Morgen wartete er ungeduldig im Foyer des Hotels auf das Eintreffen der dringend benötigten Geldmittel aus London. Dort traf er auf Schwarzlose, der ebenfalls auf Nachrichten und finanzielleUnterstützung von Zuhause wartete und so taten sie sich zusammen.

    „Ich brauch jetzt mal nen Schluck, sagte Schwarzlose „Werner, hol doch mal den Schnaps aus meiner Reiseapotheke. Siemens tat wie ihm geheißen und öffnete die lederne Reise­tasche seines Freundes. Was hatte der nicht alles eingepackt. In dem mit weinrotem Samt ausgeschlagenen Kästchen mit den Reisemitteln standen säuberlich aufgereiht Fläschchen an Fläschchen: Rhizinusöl neben Riechsalz, Äther, Brechwurzel und Lavendelöl, sogar ein Pfeffersäckchen lag dazwischen und endlich entdeckte er die Flasche mit dem Kräuterschnaps. Schwarzlose genehmigte sich einen ordentlichen Schluck und entspannte sich sichtlich.

    „Ah, tut das gut! Probier doch auch mal, er streckte Siemens die Flasche entgegen. Siemens roch daran, schüttelte sich und lehnte dankend ab. „Nichts für mich, sagte er. Schwarzlose gab nicht auf, „Das ist ein wahrer Geheimtipp. Hab ich persönlich von einem kuriosen Herrn, einem Hubert Underberg aus Rheinberg. Dieser sammelt seit vielen Jahren verschiedene Kräuter und Wurzeln aus aller Herren Länder und destilliert deren Bitterstoffe zu diesem auserlesenen, ganz besonderen Saft, der soll uns laut Herrn Underberg helfen, unsere arg durchgeschüttelten Mägen zu beruhigen. Funktioniert, wie ich finde, äußerst wohltuend und ist eine glänzende Geschäftsidee dazu."

    Schwarzlose schien zufrieden, rieb sich mit der einen Hand weiter am Rücken, während er das Fläschchen nach dem Füllstand überprüfte.

    „Jetzt gibt’s doch diese chaussierten Kunststraßen", wechselte er abrupt das Thema, gerade als der Wagen wieder einen Sprung machte und die Achsen ächzten. Fast wären sie mit ihren Köpfen an die Wagendecke gestoßen und der Schnaps verschüttet worden.

    „Diese Chausseen sind schnurgerade wie mit dem Linealgezogen und breit wie Flüsse. Da geht’s bestimmt viel komfortabler und auch viel rascher voran, lobte er und nahm gleich noch mal einen kräftigen Schluck. Siemens nickte zustimmend, denn auch er hatte bereits von dieser luxuriösen Chaussee gehört, die in Holstein Altona mit Kiel verband. „Eine beacht­liche und aufwändige Ingenieursleistung, sagte er, „alles nur aus gehauenen Steinen gebaut und zudem ein teures Vergnügen, gab er seinem Freund zu bedenken „das Chausseegeld wird, soweit ich gehört habe, direkt auf der Straße an den Chausseehäusern erhoben, erst dann öffnet sich der Schlagbaum. Nur was für Leute mit entsprechendem Portemonnaie, er rieb die Finger aneinander, „also nichts für unsereins!"

    Auf dem Kutschendach bellte der Hund des Postillions, die Pferde galoppierten mittlerweile gleichmäßiger über die Ebene. Siemens nahm seinem Freund die Schnapsflasche aus der Hand und stellte sie in die braune Ledertasche zurück. Schwarzlose hatte sich inzwischen zurück gelehnt und es sich so gut es ging bequem gemacht. Er schnurrte leise vor sich hin.

    Was war das für eine schwere Zeit in Paris gewesen. Beide mussten –

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