Kratom: Ethnobotanik, Anwendung, Kultur
By Dirk Netter
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Der Kratombaum, botanisch Mitragyna speciosa, dessen Blätter psychotrope Wirkstoffe enthalten, kommt in Südostasien vor und blickt dort auf eine lange Geschichte als Rauschmittel und Entheogen zurück. Seine pharmakologischen
Effekte können als klassisch paradox beschrieben werden, denn Kratom führt, je nach Dosis, Set und Setting, entweder sedative oder stimulative Wirkungen herbei.
Mit einer ausführlichen Kulturgeschichte des Kratomgebrauchs, Safer-Use-Hinweisen, Informationen zu den diversen Mitragyna-Arten und Verwandten, Tripreports und Literaturhinweisen.
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Book preview
Kratom - Dirk Netter
2019
Einleitung
»Clearly, this is one of the most complex of the hallucinogens.«
EMBODEN 1979: 49
Die Komplexität von Kratom, wie sie William Emboden im obigen Zitat sehr treffend attestiert, zeichnet sich auf sehr vielfältige Weise ab. Deshalb wurde, um den verschiedenen Facetten von Kratom gerecht zu werden, in jedem der folgenden Kapitel ein ganz eigener Zugang gewählt.
Kratom-Blatt
Zu Beginn wird ein Blick auf die Botanik der Gattung Mitragyna geworfen – innerhalb der sich nicht nur Kratom (Mitragyna speciosa), sondern auch einige andere ethnobotanisch wertvolle Arten befinden. Ebenfalls wurden Spezies erwähnt, die botanisch zwar nicht mit Kratom verwandt sind, jedoch in ihrem Gebrauch ähnliche subjektive Wirkungen zeigen.
Das zweite Kapitel umfasst Informationen über die Kultivierung von Kratom in Europa. Dabei werden sowohl Hinweise auf den Bezug von Saatgut und Stecklingen gegeben, als auch Informationen zur erfolgreichen Aufzucht von Jungpflanzen.
Der Begriff »Kratom« wird in Thailand sowohl für den Baum als auch die Kräuterdroge verwendet. Der traditionelle Gebrauch als Medizin und Genussmittel kann auf der malaiischen Halbinsel weit zurückdatiert werden. Die bewegte Kulturgeschichte des vielversprechenden Gewächses wird im dritten Kapitel ausführlich dargestellt.
Feldaufzeichnungen von Pieter Willem Korthals
Vergleichbar mit bedeutenden Nutzpflanzen wie dem Kaffeestrauch ist auch Kratom bis heute eng mit europäischer Kolonialgeschichte verwoben. Europäische Botaniker und Ethnologen bemerkten den Nutzen von Kratom als Opium-Surrogat bereits im 19. Jahrhundert – was paradoxerweise für dessen Illegalisierung in Thailand sorgen sollte. Erst zu Beginn des neuen Jahrtausends entdecken auch die asiatischen Länder wieder langsam dessen kulturellen und medizinischen Wert.
In den westlichen Ländern ist Kratom insbesondere aufgrund seiner Qualitäten als Genussdroge sehr beliebt. Das vierte und fünfte Kapitel des Buches nutzen daher eine ethnografische Perspektive, um den Herstellungsprozess der verschiedenen Kratomprodukte zu beschreiben. Dabei werden nicht nur die vielfältigen Produktbezeichnungen, sondern auch deren Herkunft erklärt. Sowohl die traditionellen als auch die modernen Konsumformen werden ausführlich beschrieben und mit Informationen zur Kratom-Extraktion und ausgewählten Rezepten zur Weiterverarbeitung illustriert.
Das sechste Kapitel enthält wichtige Informationen über den verantwortungsvollen Gebrauch der Kratomprodukte. Dies betrifft neben den Angaben zu Dosis, Set und Setting auch allgemeine Verhaltensmaßregeln zur Schadensminimierung. Die möglichen Risiken eines chronischen Kratomgebrauchs werden ungeschönt und nüchtern dargestellt – während mit verschiedenen Mythen, wie dem »enormen Suchtpotenzial« oder der »Letalität von Kratom«, aufgeräumt wird.
Neben der Verwendung als Genussmittel zeigt sich ebenso die medizinische Bedeutung von Kratom bei verschiedensten Indikationen. Insbesondere als Alternative zu herkömmlichen (opioidbasierten) Schmerzmitteln, als milder Stimmungsaufheller und in der Opiumsubstitutionstherapie werden einige Hoffnungen in Kratom gesetzt, die im siebten Kapitel beleuchtet werden.
Im Anschluss werden im achten Kapitel die Wirkung von Kratom sowie dessen psychedelische bzw. psychoaktive Qualitäten beschrieben. Exemplarische Erfahrungsberichte von Konsumenten wurden ausgewählt, um einen Einblick in das Wirkungsspektrum der Substanz zu geben.
Die für die pharmakologisch bedeutsamen Wirkungen verantwortlichen Kratom-Alkaloide sowie deren Wirkungen auf die jeweiligen Rezeptoren werden im neunten Kapitel behandelt.
Wichtige rechtliche Fragen über die Legalität von Kratom werden im zehnten Kapitel beleuchtet. Dabei wird die Legalität von Kratom und dessen Alkaloiden in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Besonderen betrachtet. Ebenso einige Erkenntnisse zur Nachweisbarkeit von Kratom in Urin und Blutuntersuchungen sowie den möglichen Implikationen von Kratomgebrauch auf die Fahrerlaubnis.
Für Kratominteressierte ohne weitere Erfahrungen ist es empfehlenswert, das Buch von Anfang bis Ende zu lesen. Leser mit Vorerfahrungen können an jeder Stelle im Buch beginnen. Wo spezifisches Wissen von Vorteil ist, wird auf das betreffende Kapitel verwiesen, um das Verständnis zu erleichtern.
Trotz des Anspruchs, ein Werk zu verfassen, das wissenschaftlichen Maßstäben genügt, wurde dafür Sorge getragen, dass es für ein breites Publikum ohne Mühen lesbar sein sollte – weshalb an mancher Stelle diverse Vereinfachungen notwendig waren.
Kratom-Spezies und ihr Vorkommen
GOVAERTS et al. 2018. Eigene Tabelle
Mitragyna-Botanik
Die Gattung Mitragyna gehört zur Pflanzenfamilie der Rötegewächse (Rubiaceae). Dies ist eine der artenreichsten Familien der bedecktsamigen Pflanzen und beinhaltet viele für den Menschen bedeutsame Arten, wie z.B. den Arabica-Kaffee (Coffea arabica), Robusta-Kaffee (Coffea canephora), die DMT beinhaltende Psychotria viridis sowie auch den in Mitteleuropa weithin bekannten Waldmeister (Galium odoratum).
Die Gattung besteht insgesamt aus zehn Arten, von denen vier in Afrika und sechs in Asien beheimatet sind. Die Mitragyna-Arten sind Büsche oder mittelgroße Bäume, welche Höhen von bis zu 20 Metern erreichen können (im Falle von Mitragyna speciosa).
Die leicht ledrigen Laubblätter sind gegenständig angeordnet und gestielt. Die Fruchtstände sind kugeliger Gestalt. Die Kapselfrüchte enthalten viele kleine Samen.
Kratom-Blüte
Den Namen Mitragyna erhielt die Gattung vom niederländischen Botaniker Pieter Willem Korthals, weil die Blätter und Blattnarben einer Bischofsmitra ähneln sollen (CINOSI et al. 2015; EMCDDA 2018).
Viele Vertreter der Gattung Mitragyna haben eine lange Geschichte als Medizinalpflanzen. Sie wurden traditionell als Mittel gegen Fieber, Schmerzen, Entzündungen und bei Darmerkrankungen eingesetzt. Als Hauptwirkstoffe gelten Alkaloide, Triterpene und Flavonoide.
Pharmakologen fanden in den letzten Jahrzehnten neben der analgetischen Wirkung einige weitere medizinisch bedeutsame Eigenschaften, wie zum Beispiel die tumorhemmenden und antibakteriellen Eigenschaften von Mitragyna-Alkaloiden (GONG et al. 2012: 263).
Das rötliche Holz des Kratombaums wird aufgrund der schönen Maserung gerne als Furnier- und Leistenholz verwendet (EISENMAN 2015: 65).
Mitragyna speciosa
SYNONYME Nauclea korthalsii Steud. Nauclea luzoniensis Blanco Nauclea speciosa (Korth.) Miq.Stephegyne speciosa Korth. Mitragyna religiosa
Quellen: GOVAERTS et al. 2018; RÄTSCH 2018
Mitragyna speciosa ist ein immergrüner, tropischer Baum, welcher Wuchshöhen von bis zu 25 Metern erreicht. Der Stamm ist gewöhnlicherweise aufrecht und kann einen Durchmesser von 90 Zentimetern erreichen. Die Rinde ist glatt und von grauer Farbe (PHILIPPINE DEPARTMENT OF AGRICULTURE (DA) 2013). Seine dunkelgrünen, meist leicht glänzenden Blätter sind eiförmig zugespitzt und erreichen eine Breite von 8,5–12 cm, sowie eine Länge von 14–20 cm. Sie sind gegenständig angeordnet und in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Die Stiele haben üblicherweise eine Länge von 2-4 cm (EISENMAN 2014: 60; DA 2013).
Die gelblichen Blüten wachsen meist in einer Dreiergruppe am Ende des Astwerks. In den 7–9 mm großen Früchten werden zahlreiche winzige Samen gebildet, die länglich geformt sind und eine Länge von 1–2 mm aufweisen.
Die Vermehrung und Verbreitung von Mitragyna speciosa erfolgt üblicherweise über Samen. In den vergangenen Jahren wurde jedoch auch die vegetative Vermehrung erforscht und im großen Stil in der Renaturierungsökologie eingesetzt; bspw. in Kinabatangan, Malaysia (AJIK UND KIMJUS 2010).
Junger Kratombaum
Die lateinische Artbezeichnung »speciosa« bedeutet auf deutsch »schön, wohlgestaltet, besonders«. Der im Westen verwendete Trivialname »Kratom« stammt aus dem Thailändischen und wird dort als Name für die Gattung und auch als Bezeichnung für die getrocknete Pflanzendroge verwendet.
Blätter und Blüten
In Myanmar ist der Name »Beinsa« gebräuchlich (KRESS et al. 2003: 401). Wie Eisenman (2014: 65) interessanterweise berichtet, war dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Begriff »beinsa« ebenfalls die Bezeichnung für Opiumesser, während »bein« dort die gebräuchliche Bezeichnung für Schlafmohn (Papaver somniferum) ist (KRESS et al. 2003: 401).
Trivialnamen von Mitragyna speciosa nach Ländern
Siehe: EISENMAN 2014; KAGAWARANNG PAGSASAKA 2013; KRESS et al. 2003; SUWANLERT 1975
Habitat und Vorkommen
Der Kratombaum wächst bevorzugt in feuchten bis sumpfigen Gebieten (DA 2013), er kann jedoch auch gelegentlich in Tieflandwäldern lokalisiert werden (EISENMAN 2015: 64). Ferner ist er häufig als Pionierpflanze an Flussrändern zu finden. Er ist sehr resistent gegen saisonale Überflutungen und ist deshalb auch an regelmäßig überschwemmten Altarmen von Flüssen sowie deren Sandbänken anzutreffen (NILUS ET AL. 2011).
Bedeutende Populationen von Mitragyna speciosa befinden sich in Thailand, Malaysia, Indonesien, auf den Philippinen und in Papua-Neuginea (SINGH 2016: 42; EISENMAN 2015: 64; PHILIPPINE DEPARTMENT OF AGRICULTURE (DA) 2013). Der Großteil des Habitats entspricht der phytogeografischen Region Malesien, dessen natürliche Vegetation von tropischem Regenwald dominiert wird.
Südostasien: Verbreitung von Mitragyna speciosa
Im malaysischen Bundesstaat Sabah, auf Borneo, finden sich große Wälder, die fast ausschließlich aus Kratom bestehen, insbesondere entlang des Flusses Kinabatangan. Im gleichnamigen Verwaltungsbezirk sollen einige dieser Wälder liegen (EISENMAN 2015: 64f.). Auf der Malaysischen Halbinsel befindet sich ein Großteil der Bestände an den Flusssystemen und Sümpfen in Selangor, Kelantan, Pahang und Perak (FRIM 2013).
In Thailand ist Kratom vor allem im Süden zu finden. Durch die Illegalisierung 1943 wurden viele der vormals kulturell bedeutsamen Bäume gefällt (vgl. Seite 42). Lediglich im Süden des Landes, in den Provinzen Pattani, Yala und Narathiwat nahe der malaysischen Grenze, wird Kratom noch traditionell verwendet (TANGUAY 2011).
Indonesien ist der Hauptexporteur von Kratom für den europäischen und nordamerikanischen Markt. Als wichtiges Anbaugebiet gilt der indonesische Teil Borneos. Kapuas Hulu im Westen Borneos ist ein