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Unvollkommenheit: Roman
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Unvollkommenheit: Roman

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"Drei Charaktere, zwei Gesellschaftssysteme, die Liebe als Irrgarten:
ein betörender Roman über die Suche nach dem Absoluten in einer Zeit ohne Utopie."
Michael Wildenhain


Im Oktober 1988 trifft Marc Weber in Jena ein, wo er sein Studium der Mathematik beginnen will. Unverhofft gerät er in oppositionelle Kreise und begegnet Paul, der ebenfalls Mathematik studierte, aufgrund seiner widerständigen politischen Haltung exmatrikuliert wurde und verbotene Konzerte gibt. Die Freundschaft mit Paul bringt den bislang eher angepassten Marc in existentielle Konflikte. Aber er lernt durch Paul auch Hanka kennen, seine erste große Liebe. Dann kommt der politische Umbruch, er treibt die drei in verschiedene Richtungen: Hanka geht auf Weltreise, Paul nimmt in Hamburg sein Studium wieder auf, Marc bleibt in Jena. Als er Paul einige Zeit darauf in Hamburg besucht, scheint es, als habe sich der ehemalige Oppositionelle ‒ nun anerkannter Mathematiker und mit einer ebenso erfolgreichen Frau zusammenlebend ‒ in einem bürgerlichen Leben eingerichtet. Zufällig entdeckt Marc jedoch, dass Paul weiterhin komponiert, und es wird ihm klar, dass der Freund voller Zweifel an seinem etablierten Leben ist. Marc fragt sich, wie viel von Pauls rebellischem Geist noch übrig ist und fordert ihn her­aus, indem er Paul und seine Freundin einlädt, im Sommer mit ihm und Hanka nach Rumänien zu kommen, in ein Land im Übergang, in dem sich noch vorhandene Spuren der Diktatur mit neuen kapitalistischen Ansätzen mischen. Ihre gemeinsame Reise verläuft dann ganz anders als geplant, sie führt zu großen Spannungen und treibt am Ende einen Keil zwischen Marc, Paul und Hanka. Jahre später erhält Marc, inzwischen arrivierter Banker und Risikomanager, einen Anruf von Paul, der nun wieder allein und in prekären Verhältnissen lebt. Seine Arbeit als Mathematiker hat er aufgegeben. Währenddessen schreitet die Finanzkrise unaufhörlich voran und die beiden begegnen sich unter vollkommen veränderten Vorzeichen. Nur Hanka spielt in beider Leben immer noch eine Rolle.
LanguageDeutsch
PublisherOsburg Verlag
Release dateOct 7, 2019
ISBN9783955102067
Unvollkommenheit: Roman

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    Unvollkommenheit - Anne Richter

    9

    1988–1991

    1

    Es war die Stunde, in der das Licht kurz vor Anbruch der Dämmerung mild scheint, die Sonne allmählich sinkt und die Schatten sich weich und dennoch klar über Felder und Wiesen, Straßen, Plätze und Wege legen. Marcs Herz schlug schneller, als die Stadt auftauchte: nach einer langen Flur in Gelb, Braun und Grün, abgelöst von zum Greifen nahen Waldhängen auf beiden Seiten, zunächst linker Hand ein flacher Hügel, dann erste Häuser unweit der Bahngleise, ungepflegte kleine Gebäude mit grauschwarzen Fassaden, ehe die Landschaft sich öffnete und die städtische Bebauung im Kessel dichter wurde, ohne dabei das Baumgrün gänzlich zu schlucken. Imposant drängten sich nicht nur alte efeu- und weinbewachsene, sondern auch moderne weiße Villen an die Hänge, im Zentrum überragte ein strammer Turm alle anderen Häuser; mehr konnte er vorerst nicht erkennen.

    Der Zug quietschte beim Einfahren, Marc warf seinen dicht gepackten Rucksack über die Schulter und stieg aus. Ihm schien, als wäre das Gleis voller angehender Studenten, die zum Teil ihre Koffer und Taschen von den Eltern tragen ließen.

    Vor dem Bahnhof hielt er einen Moment inne. Eine Landschaft, die man erwandern musste, die den Blick einengte, doch auch Konzentration erzwang, darin eingebettet die Genauigkeit fordernde optische Industrie. In der Ebene aufgewachsen, in einer spröden Gegend von endlosen Feldern, kleinen Seen und trockenen, harzigen Kiefernwäldern verblüfften ihn die Sanftheit, die Vielfalt der Formen und die Begrenzung.

    Er folgte einer befahrenen Straße, lief leichtfüßig hinab ins Zentrum, an einigen Geschäften und der Post vorüber und stieß vor dem Zeisswerk auf mehrere Haltestellen. Der erste Busfahrer gab ihm freundlich Auskunft, und während Marc den ihm vom Prorektorat für Studienangelegenheiten beschriebenen Abfahrtspunkt suchte, bemerkte er den Strom von Menschen, der am Pförtnerhäuschen vorüber das Zeisswerk eilig verließ und sich an den Haltestellen verteilte. Nach Feierabend füllte sich das Zentrum, die Männer trugen Aktentaschen, die Frauen breitere Handtaschen, und in ihren Gesichtern spiegelte sich Erschöpfung, aber auch Vorfreude auf das Abendessen, den Fernsehabend und das Bier, auf die Familie. Marc sah, dass viele Arbeiter sich noch einmal gekämmt und beim Wechseln der Kleider um Sorgfalt bemüht hatten; vermutlich würden sie am nächsten Morgen müder als jetzt aussehen.

    Sein Bus holperte aus der Stadt hinaus auf eine Autostraße, die zwischen Hügeln, niedrigen Kalkfelsen, einem weiten Park mit hohen herbstlichen Bäumen und laubübersäten Erdwegen verlief, auf denen vereinzelt Freizeitsportler trabten. Sie kamen an einem Stadion und Kleingärten mit Hütten und riesigen Sonnenblumen vorüber, bis der Bus schließlich abbog und durch lange Hochhaussiedlungen fuhr. In der Dämmerung brannten schon einige Lichter. Immer wieder tauchten zwischen den Hochhäusern flache Gebäude auf, von derselben Form, aber wie auf die Seite gekippt; die Machart kannte er aus seiner eigenen Stadt, schnörkellose, geometrisch simple Konstruktionen, in die mühelos dicht an dicht Wohnungen eingebaut werden konnten, platzsparend, pragmatisch und preiswert für die Bewohner. Ohne geistige Herausforderung für den Architekten, dachte er. Hinter den hellen Klötzen erhoben sich noch einmal Hügel, schwarze Schemen vor grauem Himmel.

    Im Wohnheim händigte der Pförtner ihm seinen Schlüssel aus; er suchte in der dritten Etage seine Zimmernummer und bemerkte beim Eintreten erleichtert, dass es nur zwei Betten gab. Sein Mitbewohner war nicht da, und so fuhr er, nachdem er rasch seine Sachen ausgepackt hatte, noch einmal ins Zentrum zurück.

    In den Abendstunden lief er ziellos umher, von der allmählich rauer werdenden Oktoberluft wachgehalten. Am Kino hingen Plakate, vor denen er länger verharrte. Ein Film war sowohl in Farbe als auch in Schwarz-Weiß gedreht worden, und als Marc die Gesichter der abgebildeten Menschen betrachtete, stellte er fest, dass ihre Züge in Schwarz-Weiß ernster und schärfer, ferner und tragischer als in Farbe wirkten. Obwohl der Film, der Und morgen war Krieg hieß, laut Ankündigungstext 1940 spielte, erschien er ihm aktuell, weil er von einer Klasse in einer sowjetischen Provinzstadt, von Schülern handelte, die nichts weiter als Parolen und Losungen kennen, bis ein neuer Direktor kommt.

    Er wusste noch genau, dass der Tag vor dem ersten Mai ein Sonnabend gewesen war, weil sie nur vier Stunden Unterricht hatten. Als er am Morgen in die Klasse kam, verschwitzt vom Radfahren, die Haare zerzaust, stand sein Freund Stefan breitbeinig auf einer Bank und rief, die Hände zum Trichter geformt: Für Schönheit und Charisma, seid breit!, ehe er seine Hand über den Kopf hob und die Hacken aneinanderschlug, so dass der Tisch wackelte. Marc musste grinsen; seit Langem schon nervten ihn die stumpfsinnigen Appelle, doch mehr als währenddessen leise zu lachen oder mit seinem Nebenmann Personenraten zu spielen, hatte er nie gewagt. Und morgen würden sie wie jedes Jahr an der hinter der Kaufhalle aufgestellten Tribüne vorüberlaufen, Transparente tragen und den alten Männern von der SED-Kreisleitung zuwinken – wie albern!

    Eine Traube Mädchen umringte den Tisch und schaute Stefan kichernd zu, und Clarissa sagte, indem sie mit dem Finger gegen ihre Stirn tippte: Morgen ist Sonntag, ich gehe da nicht hin. Stefan riss den Kopf hoch, stieß seine Faust in die Luft, tanzte auf dem Tisch und johlte: Ich bin schon 14! Ich hab schon Jugendweihe! und, mit der Schuhspitze auf Marc deutend: Ich hab schon Schuhgröße 41!, wobei er jedes Wort in die Länge zog und die Zahl am Ende mit besonders hoher Stimme aussprach. Marc blickte auf die Uhr: noch fünf Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. Während Stefan vom Tisch sprang, ihn mit der Faust gegen den Oberarm stieß – Morgen, Kumpel! – und sich ein Stück Kreide griff, tappte er zu seinem Platz und warf seine Tasche auf den Boden. In der letzten Reihe beugten sich Armin und Falk – die Zwillinge – über die Schulbank, die Köpfe dicht beieinander und ohne das Geschehen im Klassenraum zu registrieren. Erst als Falk aufschrie und sich triumphierend umblickte, sah Marc die Wespe auf der hellgrauen Sprelacartfläche, sah, wie sie versuchte, sich zu drehen oder loszufliegen, sah zwei ausgerupfte Beine auf der Tischplatte, daneben einen durchsichtigen Flügel. Den zweiten Flügel hielt Armin mit einer spitzen Pinzette in die Luft, fixierte ihn im durchs Fenster scheinenden Morgenlicht und sagte schließlich: Wäre besser gewesen, es so mit den Juden zu machen. Nicht einfach vergasen.

    Marc fiel ein, dass die Zwillinge am letzten Maifeiertag ein Spruchband Nie wieder Faschismus getragen hatten, stumm und ohne eine Miene zu verziehen.

    Als er sich umwandte, drückte Herr Kressler, der junge Deutschlehrer, Stefan gerade einen Schwamm in die Hand, woraufhin Stefan langsam und schwunglos Nie wieder Omas Sahnetorte! von der Tafel wischte und dabei auf den beharrlich schweigenden Lehrer einredete: Schon mal was von Perestroika gehört? Dauert nicht mehr lange, dann haben wir die auch, wissen Sie?

    Herr Kressler klopfte mit den Handknöcheln ein paar Mal auf den Lehrertisch, und da keiner reagierte, klatschte er in die Hände, bis alle, auch Marc und Stefan, gemächlich zu ihren Plätzen gingen. Mit weißer Kreide schrieb Herr Kressler an die noch nasse Tafel:

    Interpretieren Sie: »Was ist der Mensch, / wenn seiner Zeit Gewinn, sein höchstes Gut / nur Schlaf und Essen ist? Ein Vieh nichts weiter. / Gewiss, der uns mit solcher Denkkraft schuf, / vorauszuschaun und rückwärts, gab uns nicht / die Fähigkeit und göttliche Vernunft, / um ungebraucht in uns zu schimmeln.«

    Seite 93, Sie wissen, in welchem Buch diese Passage steht, ich gebe Ihnen die ganze Stunde, und bitte schreiben Sie leserlich, sagte Herr Kressler nüchtern.

    Stefan saß in derselben Bankreihe wie Marc, am Fenster, und blickte ihn offen und direkt an, als wollte er sagen: Genau das ist es, dazu kann ich was schreiben, aber das wird euch nicht gefallen … Wie kann der Kressler bloß so naiv sein? Marc beobachtete, wie die Buchstaben und die von Stefans flüchtigem Tafelwischen herrührenden Kreideschlieren immer deutlicher hervortraten, und ohne dass er das Zitat bewusst auswendig lernte, prägte es sich ihm ein. Dann öffnete er seinen Füller und schrieb ohne Pause bis zum Stundenende.

    Es wurde ein guter Aufsatz, aber er erinnerte sich nicht, welche Note Stefan bekommen hatte.

    Sein Blick löste sich von den Filmplakaten, den Gesichtern, die ihm nun, verglichen mit den noch nahen und lebendigen seiner Klassenkameraden, starr und ein wenig altmodisch vorkamen. Vor der Brücke bog er auf den Uferweg ab, der von flussaufwärts scheinbar kleiner werdenden Straßenleuchten gesäumt war. An den Böschungen Bäume, deren Laub sich bereits um die verdreckten Pfähle herum sammelte oder auf halbem Weg auf den Laternenköpfen liegengeblieben war; mächtige Baumkronen warfen Schatten auf das Wasser. Er dachte an seine Eltern, die er in einer kleinen Stadt ohne Brücken nahe der polnischen Grenze zurückgelassen hatte. An manchen Abenden hatte er sie durch die einen Spalt breit geöffnete Wohnzimmertür miteinander reden hören: Was in der Zeitung steht, kann doch keiner mehr lesen. Ich weiß nicht, ob ich hier alt werden will. – Rübergehen ist auch keine Lösung!

    Zur Schule war er im Sommer über harzduftende Kiefernwaldwege gefahren, allein und wie der Wind, und seine Gedanken, die kühnen und die einfachen, hatte er meist verschwiegen. Stattdessen hatte er seinen Staatsbürgerkundehefter sorgfältig geführt und Urkunden entgegengenommen, auf denen stand: Für gutes Lernen in der sozialistischen Schule.

    Auch auf der anderen Uferseite reihten sich mattweiße Laternen aneinander, dahinter lag der große, nun vollkommen dunkle Park, an dem er vor einigen Stunden im Bus vorübergefahren war. Er überlegte, ob er noch immer hier sein würde, wenn sein Alter der Quersumme der aktuellen Jahreszahl entsprach, und dachte an die Form der darin doppelt vorkommenden Ziffer Acht, an das Symbol für Unendlichkeit. Seit jeher mochte er solche Gedankenspiele, sie boten ihm Zuflucht und eine gewisse Geborgenheit, wenn er die Witze seiner Klassenkameraden nicht mehr hören wollte; seit jeher zählte, schätzte und rechnete er und wurde ungeduldig und reizbar, wenn eine Rechnung nicht aufging.

    Ein starker Wind blies ihm ins Gesicht, als er eine Holzbrücke erreichte, die über eine Abzweigung des Flusses führte. Marc roch das Wasser, hörte die Strömung, in der Ferne Autos und Diskomusik.

    Beim Umwenden wurde er vom Licht einer Laterne geblendet. Er spürte die Kraft seiner Beine, die ihn hinauf zu den Hügelkuppen tragen würden.

    2

    Obwohl Professor Winke mit leiser Stimme sprach, blieb es ruhig im Hörsaal. Hinter dem Pult sah Marc seinen schlanken Oberkörper, den er beim Sprechen leicht nach vorn beugte, und sein bartloses, ebenfalls schmales Gesicht.

    Aufblickend sagte er: Die kommenden Jahre werden für Sie kein Zuckerschlecken, dessen können Sie gewiss sein, doch Sie werden sich mit den erhabensten Problemen der Mathematik vertraut machen dürfen.

    Marc spürte ein Kribbeln von den Zehen aufwärts bis zur Kopfhaut kriechen, kratzte mit dem Fingernagel über seinen Bleistift und schaute sich kurz um. Im Hörsaal saßen etwa vierzig Studenten, erwartungsgemäß fast nur junge Männer.

    Seine erste Vorlesung. Er war kurz nach sieben Uhr mit dem Bus wieder ins Zentrum gefahren, dann hellwach und raschen Schrittes zum Lehrgebäude gelaufen und hatte verwundert den Klotz betrachtet, der ihn an das Wohnheim erinnerte. Im Hörsaal aber hatte ihn schließlich die Atmosphäre in ihren Bann gezogen, stufenartig angeordnete Bankreihen mit ausklappbaren Holzsitzen, Polyluxe und Formeln auf Rolltafeln, an den Wänden Lehrsätze auf beschichtetem Papier, ein Klima wissenschaftlichen Eifers, das er sich seit den letzten Ferien gewünscht hatte.

    Er konzentrierte sich auf Professor Winke, der zur großen Tafel vorging und Titel von Lehrwerken anschrieb; noch hatte das Studium nicht richtig begonnen, noch glich es dem verheißungsvollen Vorwort eines Buches, aber Marc vertraute Professor Winke schon jetzt, weil sie beide sich, schien ihm, mit absoluter Hingabe für dieselbe Sache begeisterten. Er notierte die Titel auf seinem karierten Block, während Professor Winke, der etwa fünfzig sein mochte und dennoch eine jugendliche Energie ausstrahlte, sich von der Tafel entfernte, um einen Stapel Übungsblätter, zur Einstimmung, wie er unaufgeregt, doch nicht ohne eine gewisse Autorität sagte, in die erste Bankreihe hineinzureichen.

    Die letzte Aufgabe, ergänzte er schmunzelnd, stammt aus der Zahlentheorie, hat also nichts mit unserem Themengebiet zu tun, aber ich hoffe, Sie werden ihre Komplexität zu schätzen wissen. Ein bisschen Fleiß gehört natürlich auch dazu.

    Ob Professor Winke an den Wochenenden allein oder mit seiner Familie – war er verheiratet? hatte er Kinder? – die Waldwege entlangwanderte, um seinen Kopf von überflüssigen Gedanken zu befreien? Oder ob er sich lieber tage- und nächtelang, in Pfeifenrauch eingehüllt, in seinem Arbeitszimmer mit mathematischen Fragestellungen beschäftigte?

    Als die restlichen Blätter in den hinteren Reihen ankamen, hatte Professor Winke schon hinzugefügt: Als Hausaufgabe, versuchen Sie’s mal, und Marc sah sofort, dass er die auf dem Blatt stehenden Begriffe nicht kannte und die komplizierten Formeln nichts mehr mit den Aufgaben der Abiturstufe zu tun hatten. Die letzte Aufgabe würde er zu Hause in Ruhe durchlesen.

    Auf dem Gang sammelte sich ein zur Tür strömender Pulk von Kommilitonen. Hinter Marc diskutierten zwei Jungen über mögliche Lösungen der Übungsaufgaben und verwendeten dabei die Begriffe auf dem Blatt, als seien es Wörter, die man in alltäglichen Gesprächen benutzt. Ihre Stimmen klangen hoch und aufgeregt, doch sprachen sie ohne Hektik und artikulierten ihre Sätze überdeutlich und frei von jeglichem regionalen Dialekt, so dass er nicht herausfinden konnte, woher sie kamen.

    Vor dem Hörsaal löste sich die Menge auf; manche blieben in Grüppchen zusammen, um sich länger über die Aufgaben auszutauschen oder mit kargen Worten erste Bekanntschaften zu schließen, andere eilten über die steinerne Treppe davon. Marc stand einen Moment unschlüssig abseits, bis er allein zum Ausgang ging.

    Den Nachmittag verbrachte er im Wohnheimzimmer über seinen Übungen. Er erschloss sich die Bedeutungen der Begriffe, indem er in verschiedenen Lexika und Fachbüchern nachschlug, und arbeitete sich mit zäher Geduld durch die Aufgaben.

    Jedes Mal, wenn er zwischendurch aus dem Fenster blickte, hatte sich wieder etwas mehr Grau über die dunkelgrünen Hügel gelegt, und schließlich erkannte er nur noch die sich in der Scheibe spiegelnden Gegenstände, Schreibtischlampe, Bücher und Arbeitsblätter, und sein Gesicht.

    Stück für Stück arbeitete er sich voran, nun, da die Begriffe geklärt waren, lediglich mit der Kraft seines eigenen Denkens, was er genoss wie eine Bergwanderung, auf der man sich Meter um Meter dem Gipfel nähert. Sein Gesicht glühte, er saß gerade und wippte rhythmisch mit den Füßen; wenn jedoch eine Hürde auftauchte, hielt er inne und spannte seinen Körper an. Nach einer Weile löste sich die Spannung, das Wippen setzte wieder ein und sein Denken begann erneut zu fließen. Den Kopf voller Zeichen, empfand er es als leicht, nichts störte, lenkte ab, er atmete die Bergluft, dachte mühelos komplexe Zusammenhänge, schritt leichtfüßig aus, wanderte höher und höher, ein Lächeln um die Lippen.

    Dann wurde die Luft dünner, die Vegetation geringer, ihm schwindelte. Er hielt seinen Kopf fest zwischen den Händen, drückte gegen die Schläfen, von innen hämmerte es gegen seine Stirn. Noch einmal las er die letzte Aufgabe:

    Es gibt drei ganze Zahlen 0 < x < y < z ≤ 16. Die Summe dieser Zahlen wird dem Mathematiker A gegeben und das Produkt dem Mathematiker B. Diese Bedingungen sind A und B bekannt, und ihre Aufgabe ist es, die drei Zahlen zu ermitteln. Sie führen das folgende Gespräch:

    A: Ich kann die Zahlen nicht finden, und ich weiß, dass du sie auch nicht bestimmen kannst.

    B: Das ist eine hilfreiche Information, die aber für mich noch nicht ausreicht, um die Zahlen zu ermitteln.

    A: Jetzt kann ich die Zahlen finden.

    Welche Zahlen sind das?

    Irritiert lehnte Marc sich zurück und dachte über das Rätsel nach. Er notierte Beispiele, testete im Kopf ein paar der nötigen Zerlegungsvarianten durch und erahnte die immense Mühe, die mit der Auflistung aller Möglichkeiten verbunden wäre.

    Vom Flur her drangen Stimmen, metallisches Klappern, weiche Schritte, und im Nebenzimmer lachte jemand so laut, dass er am liebsten angeklopft und sich dazugesellt hätte.

    Wenige Tage später betrat er zum ersten Mal den Uniturm, in dem unzählige Fakultäten untergebracht waren und mehrere mathematische Seminare stattfanden. Inzwischen hatte er mit zwei Jungen aus seiner Studiengruppe Bekanntschaft geschlossen, mit Christoph, der nach dem Besuch der Spezialschule noch bei seinen Eltern wohnte, und Hendryk aus Hermsdorf, dessen Zimmer auf dem gleichen Gang wie Marcs lag.

    Er ging an der Mensa vorüber und wartete auf einen der grauen Fahrstühle.

    Kommse rein, rief laut und fröhlich ein Handwerker in tintenblauem Anzug, wir fahren erst in den Keller und dann rauf, damit ihr schön studieren könnt, nicht wahr?

    Grinsend blickte er sich im vollen Fahrstuhl um. Marc bat eine junge Frau am Rand, einen der Knöpfe zu drücken, woraufhin der Handwerker fortfuhr: Ein Mathematiker, oho, ein ganz Schlauer. Er stieg im Keller aus und tippte zum Gruß kurz mit seinen Fingerspitzen gegen die Schläfe.

    Als Marc sich im Seminarraum neben Hendryk niederließ und ihn fragte, ob er alle Aufgaben gelöst habe, schüttelte Hendryk den Kopf, zeichnete mit dem Finger Figuren auf das hölzerne Schreibpult und sagte: Fand sie insgesamt ziemlich leicht, nur die letzte hab ich nicht mehr geschafft.

    Auch Marc war vergangene Nacht über der letzten Aufgabe eingeschlafen. Während er den Kopf wandte, um zu sehen, ob die Studenten hinter ihnen ebenfalls so weit vorn wie möglich Platz nahmen, lief Professor Winke mit festen Schritten, ein schwungvolles Guten Morgen! in die Runde werfend, auf einen Schreibtisch zu, der offenbar das Pult ersetzte. Unwillkürlich prüfte Marc, ob er alle Arbeitsmaterialien, Hefter, Papier und Stifte, ausgepackt hatte.

    Professor Winke stand im hellen Vormittagslicht am Fenster und deutete mit angewinkeltem Arm auf das gegenüberliegende Zeisswerk: Nicht wenige von Ihnen werden einmal dort arbeiten – Sie kennen doch sicher die Geschichte des Werkes?

    Fragend schaute er in die Runde, und Marc bemerkte, wie wenig er in seinem eleganten dunkelgrauen Anzug äußerlich dem Klischee des Mathematikprofessors entsprach.

    Zunächst gründete Carl Zeiss 1846 nur eine kleine Werkstatt in der Neugasse – der Professor schwenkte seinen Arm um neunzig Grad und zeigte in Richtung der seitlichen Fensterfront –, und experimentierte zwei Jahrzehnte lang, bis er mit dem jungen Physiker Abbe in Verbindung trat und Handwerk um Wissenschaft ergänzte. Heute ist das Zeisswerk der bedeutendste volkseigene Betrieb für optische Geräte in unserem Land.

    Ich gehe davon aus, dass Sie sich selbst genauer informieren werden, fügte er hinzu, aber es sei Ihnen noch gesagt, dass jeder, der dort arbeitet, egal ob Dreher, Schleifer, Mechaniker, ob Physiker, Mathematiker oder Astronom, stolz darauf sein kann. Kommen wir nun zu Ihren Hausaufgaben. Herr Weber, können Sie uns einmal den Lösungsweg der ersten Aufgabe demonstrieren?

    Marc schlug das Herz bis zum Hals hinauf, und er wischte seine vor Aufregung schweißnassen Hände unauffällig an der Jeans ab. Mit dem Bogen Papier, auf dem er seinen Lösungsweg notiert hatte, ging er zur Tafel, doch ehe er die Kreide ansetzen konnte, sagte Professor Winke:

    Das können Sie auch ohne Blatt, da bin ich mir sicher. Legen Sie es einfach auf meinen Tisch, und falls Sie einmal nicht weiterwissen, können Sie ja einen Blick darauf werfen.

    Marc überflog panisch seine Notizen, ehe er widerspruchslos ausführte, was der Professor angewiesen hatte. Indem er die nötigen Formeln an die Tafel schrieb, erklärte er dann seine im Wohnheim entwickelten Gedankengänge.

    Als er fertig war, sah er Christophs leichtes Kopfnicken und hörte Professor Winke nüchtern, ohne besondere Anerkennung, sagen: Alles korrekt, Herr Weber, Sie können sich wieder setzen.

    An seinen Platz zurückgekehrt, wurde er langsam ruhiger. Während vorn ein Kommilitone seine Lösung der zweiten Aufgabe zu erklären begann, betrat ein Student, den Marc bisher noch nicht gesehen hatte, den Raum und setzte sich in eine der hinteren Reihen. Er sah ungewöhnlich aus, auffällig dick und langhaarig, mit dichtem Bart und fleischigen Armen, trug eine abgewetzte dunkelblaue Schultertasche, und sein Alter ließ sich schwer einschätzen, er konnte achtzehn oder dreißig sein. Möglicherweise war er gar kein Student.

    Einen Moment lang verlor Professor Winke die Fassung, zwinkerte nervös und reagierte auf die Frage eines anderen Studenten mit einem abwesenden Wie bitte?, ohne den Mann, der sonderbar lächelte, aus den Augen zu lassen. Plötzlich ging er zügigen Schrittes zu ihm hin

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