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Parasitengeflüster: Fiese SF-Storys
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Parasitengeflüster: Fiese SF-Storys
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Parasitengeflüster: Fiese SF-Storys

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About this ebook

Jeder weiß, was ein Parasit ist. Wir hassen es, von Stechmücken gequält zu werden, und finden Blutegel oder Bandwürmer ekelig. Was wäre, wenn die Natur vorgesehen hat, dass diese elenden Schmarotzer mit uns kommunizieren? Und wie würden wir reagieren?
Genau diesen Fragen gehen die Autoren dieses Buches nach.
Hier liest man von Parasiten im All, im Wasser, in den GPS-Daten, ... wobei nicht alle sichtbar sind. Eine Stimme haben sie allerdings alle.
Mal ist diese Stimme einschmeichelnd und behauptet, die Invasion diene nur dem Schutz des Wirtes, ein anderes Mal droht sie und dann wieder erteilt sie Befehle.
Es sind spannende, humorvolle, überraschende Geschichten dabei. Eins ist auf jeden Fall gewiss: Langeweile kommt keine auf.
LanguageDeutsch
Publisherp.machinery
Release dateOct 20, 2017
ISBN9783957659477
Parasitengeflüster: Fiese SF-Storys

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    Parasitengeflüster - p.machinery

    9

    Wer nichts wird, wird Wirt! – Vorwort

    Das Wort »Parasit« weckt spätestens seit dem Mittelalter vorwiegend negative Assoziationen. Hitler sprach fatalerweise vom »jüdischen Parasit«, die Menschen des Hochmittelalters verstanden darunter jemanden, der arbeitsscheu ist und sich »irgendwie« durchschlägt.

    Dabei begann die Etymologie dieses Begriffs ganz anders. Denn in der Antike wurde als Parasit jemand bezeichnet, der mit Priestern und Göttern ein kultisches Opfermahl einnimmt. In dieser Zeit war der Parasit ein hoch geachteter religiöser Beamter. Wie kam die plötzliche Wendung zustande?

    Nun, das Wort bedeutet »mit« oder »neben jemandem essen« (griech. »para sitos«). Im Zuge von Hungersnöten und Nahrungsmittelknappheit entlehnten die Menschen späterer Zeitalter diese Bedeutung aber nur in groben Zügen und verwendeten das Wort seither für einen »Schnorrer, der anderen das Essen wegnimmt«.

    So schnell kann’s gehen: vom hoch geachteten Beamten zum nervenden Schnorrer und – schlimmer noch – zum Tier, das sich in anderen Lebewesen einnistet, um sich von deren Körpern zu ernähren. Denn das bedeutet »Parasit« heutzutage. Viele haben nun diese moderne (Be-) Deutung des Begriffes im Sinn, wenn sie aufs Cover dieses Buches schauen. Wenn man das Wort googelt, erscheinen Ergebnisse wie »Invasion der Körperfresser«, »gefährliche Parasiten« und Ähnliches.

    Diese Anthologie versucht nun, dem Begriff »Parasit« einen Teil seiner ursprünglichen Bedeutung zurückzugeben. Es war nämlich ausdrücklich erwünscht, dass Parasit und Wirt miteinander kommunizieren. Auf diese Weise müssen sich verschiedenste Protagonisten damit auseinandersetzen, welche Motive die von uns so gescholtenen Parasiten verfolgen. Es gibt nämlich nicht bloß gefährliche, sondern auch durchaus nützliche. So verhindern manche Würmer z. B. Darmentzündungen, andere Parasiten sind hilfreich bei Autoimmunerkrankungen und so weiter.

    Die Autoren dieser Zusammenstellung beleuchten das Verhältnis zwischen (menschlichem) Wirt und (außerirdischem) Parasit auf eine Weise, die dem Leser ermöglicht, zu schmunzeln, Vorurteile zu überdenken, aber auch, sich zu Tode zu fürchten. Denn natürlich wollten wir die Splatterfans nicht enttäuschen!

    So ergibt sich hier also eine bunte Mischung von SF-Storys, die das Thema Parasitengeflüster höchst unterhaltsam umsetzen und gleichzeitig die theoretische Auseinandersetzung mit Parasiten beleben.

    Wir wünschen gute Unterhaltung beim Lesen dieser einzigartigen Geschichten!

    Marianne Labisch & Sven Klöpping

    Die Herausgeber

    im September 2017

    Tom Turtschi: Turnaround

    Ich weiß: Ich spiele mit dem Feuer. Beim letzten Mal endete der Weg vor einer Fußgängerpassage und ich rammte beim Zurücksetzen ein Fahrrad. Ein Geparktes, ohne Fahrer – aber trotzdem: Ich schwor mir, künftig die kürzeste Route tunlichst zu vermeiden.

    Wenn Sie sich auf die angezeigte Straße begeben, beginnt die Routenführung.

    Die kürzeste Route verspricht sechsunddreißig Minuten weniger als die schnellste Route – ich kann nicht widerstehen. So könnte ich es gerade noch schaffen, ohne den Führerschein zu riskieren. Ich kann mir nicht erlauben, zu spät zu erscheinen. Ich geb mir alle Mühe, täglich in der Pole Position in den Tag zu starten, aber heute Morgen kam ich einfach nicht los. Bereits den Startschuss überhörte ich, vermutlich wischte meine Rechte das Klingelzeichen im Halbschlaf unwirsch zur Seite, nicht mal unter der Dusche kam ich auf Touren, schließlich schüttete ich schlaftrunken Kaffee über das weiße Hemd. Es war mein letztes im Schrank – aber lassen wir’s.

    Zweigen Sie rechts ab.

    Die Scheinwerfer schneiden Lichtkegel in einzelne Nebelschwaden, die sich aus den Vorgärten auf die Quartierstrasse wälzen. Es riecht nach Schnee. Das Display zeigt eine Temperatur von einem Grad Celsius. Es könnte zu Bodenfrost gekommen sein.

    Es wäre mehr als peinlich – es wäre eine Katastrophe, wenn ich den Termin nicht schaffe. Ein Start-up, das zu spät kommt – nicht auszudenken! Wirklich genau die Message, die ich dem Finanzier vermitteln möchte – nein, da könnte ich die Übung gleich abblasen. Allerdings ist das keine Option. Dieser Bohringer ist die letzte Chance. Ich bin wild entschlossen, sie zu packen.

    Fahren Sie im Kreisverkehr gerade aus. Nehmen Sie die dritte Ausfahrt.

    Ich greife in der Jackentasche nach der Vape und inhaliere einige Züge. Unverzüglich beginnt das Ding zu kokeln und ein Dryburn verätzt und vergällt mir Lunge und Laune. Ich hätte das Liquid gestern nachfüllen sollen. Ich werd’s auch ohne Nikotin schaffen. Ich kann mir den Adrenalinstoß durch das Gaspedal verpassen – ich verstehe nicht, warum immer ich in die Rücklichter von landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen starren muss! Die Mittellinie ist durchgezogen, aber auf der Gegenspur provoziert gähnende Leere. No risk, no fun. Blinken, beschleunigen – also denn! Nur mutig drauflos.

    Halten Sie sich rechts. Nehmen Sie die erste Autobahnauffahrt.

    Das Problem mit den Strohballendealern und Frischmilchfördertechnikern wird sich erübrigen: Auch die kürzeste Route kennt die Autobahn. Der Verkehr ist dicht, aber flüssig. Ich fahre gleich auf die Überholspur und werde diese bis auf Weiteres nicht mehr verlassen.

    Fahren Sie neun Kilometer geradeaus.

    Ich atme durch – ich bin auf Kurs. Magisch zieht das Navi meinen Blick auf sich, und mit jeder Minute, um die sich die Ankunftszeit verringert, steigt meine Laune. Seeblick drei, Altistaad: keine Ahnung, wo das liegt. An irgendeinem See, wobei See zu viel gesagt sein dürfte: Die Karte zeigt einen verschwindend kleinen blauen Fleck am Rande einer Siedlung, bevor das Gelände in straßenloses Niemandsland übergeht. Eine winzige Pfütze in den Voralpen, ein Wochenendidyll für gut betuchte Städter. Ich meine das nicht despektierlich, immerhin erwartet mich an den Gestaden dieses Gewässers eine schicksalhafte Begegnung, und Seeblick drei tönt nach Noblesse, Weite, Erhabenheit. Bohringer trug mir auf, seine Mail auszudrucken, um sie dem Pförtner am Eingang der Gated Community vorzuzeigen.

    Die Mail liegt auf dem Nebensitz, zuoberst auf meinem Dossier. Daran soll es nicht scheitern. Ich habe mich vorbereitet, allerdings – ein taktisches Handicap – konnte ich über Bohringer kaum etwas in Erfahrung bringen. Ein Finanzier mit Neigung für ausgefallene Ideen, sein Risikokapital steckte in den absonderlichsten Unternehmungen. Er hatte sein Geld mit der Trust SA gemacht, nur blieb mir auch nach einer zweistündigen Recherche schleierhaft, was genau die Trust SA sein soll. Ein diffuses Konglomerat mit Dienstleistungen und Beratungstätigkeiten im Finanzsektor, reichlich abstrakt. Mit der Gameindustrie scheint er nichts zu tun zu haben. Ich kenne grundsätzlich gerne mein Gegenüber – im Fall Bohringer muss ich mich mit seiner Bereitschaft begnügen, mich zu empfangen. Nach den demütigen Erfahrungen der letzten Wochen ist das mehr, als ich hoffen durfte.

    Den Speech hab ich grob skizziert. Zu einer finalen Präsentation konnte ich mich in den vergangenen Tagen nicht durchringen – was sollte ich betonen, wie vorgehen, um Bohringer ins Boot zu holen? Ich werde einnehmend lächeln, ich werde unsere Entwicklung mit dem Brustton tiefster Überzeugung vorstellen. Das fällt mir nicht schwer, ich glaube an die Potenz unserer Innovation. Selbstverständlich, Herr Bohringer, unsere Software ist ein Knaller, ein absoluter Game Changer. Evolsoft wird die Games verändern, intelligente Charaktere, völlig offene Spielverläufe, aber unsere Innovation ist nicht nur für die Spieleindustrie interessant, der Ansatz der Programmierung ist im Kern revolutionär. Ein Meilenstein in der KI, Googles Deep Learning verhält sich dazu wie ein Affengehirn zu Einstein. Die Einsatzmöglichkeiten sind unbegrenzt. Wir liefern die Grundlagenforschung, Sie tragen die Geschäftsideen bei – und Ihr Geld wird sich vermehren wie Kaninchen. Im Grunde ist mir klar, was ich sagen muss, aber in dieser saloppen Art kann ich das natürlich nicht an den Mann bringen. Easy – ich habe noch über vier Stunden, um an der Wortwahl zu feilen.

    In einem Kilometer halten Sie sich rechts.

    Ankunft elf Uhr dreißig – ha, ich habe zwölf Minuten gutgemacht!

    Ich fühle, heute wird das Bangen ein Ende finden. Ist auch an der Zeit. Meine Mittel sind aufgebraucht, der Restbetrag vom Crowdfunding reicht kaum für die nächsten Löhne. Die Jungs sind angefixt und zu vielem bereit, aber längst nicht so leidensfähig wie Uma. Wenn die Kohle fehlt, springt mir die meuternde Horde von Bord. Uma würde ein Paddel packen und versuchen, den schlingernden Kahn in den nächsten Hafen zu rudern, wie aussichtslos die Situation auch ist, Uma würde kämpfen.

    Halten Sie sich rechts. Fahren Sie auf die A sieben.

    Ich könnte Bohringer von Uma erzählen. Es ist immer gut, eine Geschichte mit dem Anfang zu beginnen – und immerhin hatte Uma alles angeschoben. Ohne Uma gäbe es kein Evolsoft, sie ist Herz und Hirn von unserem Projekt. Gerne wüsste ich sie jetzt neben mir, aber sie verabscheut nichts so sehr wie Elevator Pitches. Zudem war sie in den letzten Tagen wieder verstockt, in sich gekehrt.

    Uma – die kleine Tamilin mit dem Pagenschnitt und verdrückten Gesicht sprach leise, stockend, als sie im Seminar zum ersten Mal ihre Ideen des »Evolution Programming« skizzierte. Rasch wandten sich die Studenten von ihren abstrakten Ausführungen ab und ihren Tablets zu. Auch der Professor ging nicht auf sie ein, er bedankte sich mit einem konsternierten Blick, einem knappen Nicken, dann reichte er das Wort an den nächsten Studenten weiter.

    Fahren Sie neununddreißig Kilometer auf dieser Autobahn.

    Ich suchte Uma nach dem Seminar in der Cafeteria auf. Sie saß alleine vor einem Pappbecher und rührte mit abwesendem Blick endlos im dünnen Kaffee. Ich setzte mich und sie rührte und rührte und starrte. Erst nach meinem dritten Hallo nahm sie mich wahr. Sie dankte mir meine Aufmerksamkeit mit einem leisen Lächeln und bald mit einem sprudelnden Redeschwall. Offenbar war sie nicht gewohnt, dass ihr jemand zuhörte, und sie nutzte die Situation, indem sie alles gleichzeitig loszuwerden versuchte. Mehrheitlich verstand ich Bahnhof. Ihren argumentativen Ketten, mit denen sie die These untermauerte, Code müsse wachsen, nicht geschrieben werden, konnte ich nur der Spur nach folgen. Das Feuer in ihren Ausführungen und die Originalität ihrer Gedankengänge faszinierten mich aber umgehend.

    Wir trafen uns öfter. Verdünnisierten uns in den Vorlesungen und verbrachten gemeinsame Stunden in der Cafeteria, im Park, oder abends in Harper’s Bar. Nach und nach tauchte ich in ihre Gedankenwelt ein. Die Idee, Programmcode aus sequenzierten DNS-Strängen zu züchten, war faszinierend. Uma hatte einige Semester in Biologie und organischer Chemie absolviert, aber mir fehlten die Grundlagen. Ich versuchte mich einzuarbeiten, recherchierte. Es gab kaum Material, das ihre Theorie stützte, aber das schien sie nicht im Mindesten zu kümmern.

    An einem Sonntag im März erhielt ich eine SMS. »Hab’s geschafft!!! Um 20 h bei mir – du wirst staunen!«

    Der Anfang und der Schritt von der Theorie in die Praxis war berauschend.

    Genau zu dieser Zeit verstarb eine entfernte Verwandte – so entfernt, dass ich mich ungebrochen über die ansehnliche Erbschaft freuen konnte. Neben dem Geld steckte ich alle Energie in das Projekt, mietete Räume, beschaffte die Hardware und rekrutierte ein Dutzend Studenten. Wir gründeten Evolsoft. Meine Aufgabe beschränkte sich darauf, Uma genügend Respekt zu verschaffen und die Jungs zu coachen, die in ihrem Schlepptau die Basisarbeiten verrichteten. Ich entdeckte meine Skills in Sachen Innovationsmanagement und Prozesssteuerung. Es lief wie am Schnürchen: Ein Team fütterte die Datenbanken mit den sequenzierten Bakterien, ein Zweites modulierte die Umweltbedingungen in den Brutsimulatoren. Uma traf die Auswahl, setzte die Kulturen an und initiierte die Evolutionsprozesse. Ein wahrer Geniestreich Umas bestand in den virtuellen Filtern, den Bots, die bei jeder Generation die Strings mit den gewünschten Eigenschaften aussortierten und in die nächste Runde schickten. Von Generation zu Generation entstand ein Code, der immer stringenter unseren Vorstellungen entsprach. Das alles hätte wenig genutzt, wäre es Uma nicht gelungen, den Biocompiler von Transtec derart zu modifizieren, dass er die genetische Source in Echtzeit in binären Code transkribierte. Der Compiler spuckte Plix aus, damit konnten wir arbeiten.

    In einer zweiten Phase implementierte Uma mit einem Team rekursive Schlaufen: Neue Anforderungen und Bedürfnisse wurden direkt in die Ranges geleitet und lösten eine weitere Generationenfolge aus. Das heißt, die Software wurde lernfähig. Intelligent! Einer von der Crew schrieb eine Schnittstelle zu Far Cry: So ließ sich Colonel Sloan mit seiner Cyborgarmee Omega Force direkt mit Plix steuern und mit unseren Ranges koppeln. Ich war baff, mit welcher Cleverness der Bösewicht plötzlich reagierte, wie scharfsinnig und strategisch klug er alle meine Aktionen parierte. Die Sache mit dem Game begann als Spielerei: So konnten wir das Verhalten der Software recht einfach in einer offenen Welt testen. Rasch erfasste ich aber die Potenz der Sache. In der Gameindustrie liegen Milliarden bereit und wir waren auf dem besten Weg, in vernünftiger Zeit aus unserer Grundlagenforschung eine erste ernsthafte Anwendung zu zimmern.

    In einem Kilometer folgt die Ausfahrt.

    Ja – genau so werde ich Bohringer packen. Was könnte für einen Finanzier fesselnder sein, als der Prozess, wie aus einer genialen Idee eine marktfähige Anwendung entsteht?

    Selbstverständlich gibt es auch Knacknüsse, das gehört zu jeder Entwicklung. Der Code ist mäßig stabil. Die Kulturen mutieren und verlieren in wenigen Generationen die gewünschten Eigenschaften. Es ist tricky, in den Teras von Daten, die der Just-in-time-Compiler ausspuckt, die für die Zucht geeigneten Stellen zu extrahieren. Der Code ist nicht nur dynamisch, zuweilen gebärdet er sich recht eigenwillig – vor einigen Tagen entwischte wieder eine ganze Range in die Cloud. Uma tobte (ich habe sie noch nie so erlebt!), verlangte nach neuen Proxyfiltern und Firewalls. Ich messe dem nicht weiter Bedeutung zu, das lässt sich lösen – wir brauchen nur etwas Zeit. Im Klartext: Wir benötigen finanzielle Mittel.

    In fünfhundert Metern folgt die Ausfahrt.

    Ubisoft, ZeniMax Media, Activision Blizzard, Electronic Arts, Take-Two Interactive, Egosoft, Crytec – ich habe sie alle abgeklappert. Die Vorzimmerdamen haben mich abgewimmelt wie eine lästige Fliege. Die Mails wurden nie beantwortet. Bohringers Zeilen schlugen wie der Blitz aus heiterem Himmel ein. Er berief sich auf unseren Treuhänder, der hätte ihm von unseren Forschungen berichtet und er wäre interessiert, die Sache näher kennenzulernen.

    Fahren Sie von der Autobahn.

    Gut kann ich hier raus. Der Frühverkehr wird sich auf dem städtischen Ring stauen. Die Ankunftszeit ist auf elf Uhr zwanzig gefallen, ich bin bestens unterwegs.

    Natürlich werde ich Bohringer die Komplikationen nicht unter die Nase reiben. Ich muss eh auf der Hut sein, mich nicht in technischen Details zu verlieren. Für Laien ist das ermüdend, für einen Geldgeber nicht von Belang. Der User will, dass es funktioniert, wie ist egal, den Investor interessieren die potenzielle Anwendung und der Markt.

    Fahren Sie im Kreisverkehr rechts. Nehmen Sie die erste Ausfahrt.

    Der orangefarbene Schimmer in den Wolken am Ende der Straße kündet nicht die Dämmerung an: Nach den Autohändlern, Entsorgungsstellen und Billiganbietern taucht über einem mächtigen Flachdach eine strahlend gelbrote Muschel auf. Ich blicke auf die Armatur. Ich bin gut dran, es dürfte angezeigt sein, meine Tanks zu füllen, wer weiß, wann sich die nächste Gelegenheit dazu bietet. Ich blinke und fahre raus.

    Im Handschuhfach finde ich eine 55/35/10-%-Mischung, X-tra-Blend. Ich befülle den Clearomizer, inhaliere einige Züge, steige aus. Es ist bitterkalt, der Himmel grau verhangen. Einzelne Schneeflocken rieseln zu Boden. Hoffentlich spielt mir das Wetter keinen Streich.

    Ich tanke; ärgerlicherweise akzeptiert die Zapfsäule keine meiner Kreditkarten, so entrichte ich den Betrag im Shop bei einer übellaunigen Blondine in bar.

    Wenn Sie sich auf die angezeigte Straße begeben, wird die Routenführung fortgesetzt.

    Fahren Sie auf dieser Straße weiter.

    Kaum hab ich die letzten architektonischen Scheußlichkeiten des Shopping- und Industriegürtels hinter mir, setzt Schneefall ein.

    Die Überlandstraße zieht an Weilern und einzelnen Höfen vorbei, mündet in ein breites Tal und führt am Ufer eines Flüsschens den Berg hinan. Mit jedem Höhenmeter, den ich steige, nimmt das Schneegestöber zu. Die Scheibenwischer schalten in den schnellsten Modus, trotzdem wird die Sicht immer kritischer.

    In der Ferne reflektiert die weiße Suppe ein auratisches rotes Pulsieren. Kurz darauf fahre ich auf den lichten Herzschlag eines Räumungsfahrzeugs auf. An Überholen ist nicht zu denken – glücklicherweise schwenkt das Fahrzeug vom Gemeindedienst nach einigen Kilometern in eine Seitenstraße ein.

    Biegen Sie in zweihundert Metern links ab.

    Ich behalte die Distanzanzeige im Auge.

    So muss sich ein schwer kurzsichtiger Mensch fühlen, dem seine Sehhilfe abhanden gekommen ist: Viel weiter als über die Motorhaube reicht das Blickfeld nicht. Einige Meter Leitplanken, ab und zu ein Baum, der mir aus dem weißen Rauschen entgegenspringt – im Übrigen beziehe ich alle Informationen über die Gegend von den abstrakten Linien und Zahlen, die mein Navi auf die Scheibe projiziert.

    Biegen Sie links ab.

    Langsam werde ich nervös.

    Ich fahre hinauf, soviel ist klar, aber genauso steigt die Ankunftszeit. Ich hoffe, Bohringer wird Nachsicht zeigen. Bei diesen Bedingungen ist eine kleine Verspätung kaum zu vermeiden.

    Am Straßenrand taucht eine Gestalt auf.

    Er mümmelt sich in einen altertümlichen, dunklen Filzmantel, der nackte Kopf guckt schutzlos wie ein Ei im Becher über den hochgeschlagenen Kragen. Zu Fuß unterwegs bei diesem Sauwetter – der hat Nerven!

    Er schält eine Hand aus dem Ärmel.

    Sucht offenbar eine Mitfahrgelegenheit. Er winkt. Stellt sich mitten auf die Straße.

    Ich verlangsame, stoppe.

    Ich öffne beim Beifahrersitz die Scheibe eine Handbreit. Bitterkalte Luft dringt durch den Spalt, vermengt mit Schneegestöber. Bevor ich realisiere, was passiert, reißt der Kerl die Tür auf und streckt den triefenden Kopf herein.

    »Fahren Sie in die Stadt?«

    Ich rette meine Papiere, packe das Dossier und werfe es auf die Rückbank. Er versteht das als Aufforderung, und eher ich realisiere, was vor sich geht, sitzt er im Auto und schlägt die Türe zu. Er beginnt, sich den Schnee aus dem Mantel zu klopfen.

    »Ich fürchte, Sie irren sich: Ich bin in die Berge unterwegs. Bitte verlassen Sie mein Auto – ich bin in Eile.«

    »Dann wenden Sie.«

    Ich meine, mich verhört zu haben.

    Fassungslos stiere ich auf den nassen, dampfenden Kerl. Er streicht eine grüne Haarsträhne aus dem Gesicht über den Glatzkopf – ein lächerliches, klägliches Überbleibsel eines stolzen Schönwetterirokesen. Der Junge ist keine zwanzig. Reglos starrt er in das Schneetreiben. Er macht keine Anstalten, den Wagen zu verlassen.

    »Haben Sie verstanden: Ich habe Sie gebeten, auszusteigen! Ich fahre in die andere Richtung.«

    »Ist auch gut.« Langsam dreht er den Kopf und fixiert mich aus übernächtigten Augen. Er streckt mir seine Hand hin. »Immerhin ist es warm hier drin. Angenehm – ich bin Plinky.«

    Und ich perplex.

    Vermutlich ist der ungebetene Fahrgast das kleinere Übel, als ein Handgemenge zu riskieren. Vor allen Dingen darf ich nicht tändeln; ich muss los. Die Räder greifen nicht, erst beim zweiten Anlauf setzt sich der Wagen schlingernd in Bewegung.

    »Damit das klar ist: An der nächsten Bushaltestelle steigst du aus.«

    Der Junge schweigt. Ein kurzer Seitenblick zeigt mir die Andeutung eines Nickens. Das reicht mir nicht.

    »An der nächsten Haltestelle oder Bahnhof ziehst du Leine, verstanden!«

    »Okay. Aber dazu müssen Sie wenden: Hier lang kommt keine Haltestelle mehr.«

    Verärgert schweige ich.

    Ich werde versuchen, mich auf das Treffen mit Bohringer zu konzentrieren und ihn übergehen, bis ich ihn rauswerfen kann. Überdies fordert die Straße meine Aufmerksamkeit, das schwarze Band vor mir verschwindet und beginnt mit der weißen Landschaft zu verschmelzen.

    Verblüffenderweise ist die Straße stark befahren, immer wieder erschrecken mich entgegenkommende Fahrzeuge, hinter mir staut eine ansehnliche Kolonne. Nicht, dass sie drängeln – trotzdem bemühe ich mich, etwas zügiger zu fahren.

    Biegen Sie in hundert Metern rechts ab.

    »Das würde ich tunlichst unterlassen.«

    Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie dieser Plinky verstört auf das Navi starrt. Ich drossle die Geschwindigkeit, rolle auf die Abzweigung zu. Keine Schilder weisen auf die Verzweigung hin, unvermittelt biegen einige Reifenspuren in einen Feldweg ein.

    Zweigen Sie rechts ab.

    Ich zögere.

    Stoppe.

    Das sieht mir verdächtig nach einer Gemeinheit der kürzesten Route aus, einem arithmetisch korrekten Weg, der dann abrupt vor einem Bach, an einem Fußgängersteg oder einer Privatstraße endet.

    »Bist du ortskundig?«

    Plinky schweigt. Trotzig wie eine beleidigte Diva presst er die Lippen zusammen und ziert sich, mir zu antworten.

    Mir gefällt die Vorstellung nicht, in einem Schneewall stecken zu bleiben. Der Zeitbonus ist aufgebraucht, jetzt liegen keine Experimente mehr drin. Langsam fahre ich an.

    Bitte wenden.

    Ich lasse mich nicht beirren. Auch geradeaus wird die Landstraße nach Altistaad führen. Im Rückspiegel bemerke ich durch den weißen Vorhang, wie der Wagen hinter uns den Blinker setzt und rechts abzweigt.

    Wenden Sie, wenn möglich.

    Seltsam – ob die Landstraße gesperrt ist? Ein Unfall, vielleicht war das eine Umleitung?

    Fahren Sie auf dieser Straße weiter.

    Entspannt sinke ich in den Sitz – das Navi hat den Kurs neu berechnet, die Ankunftszeit ist bloß um drei Minuten gestiegen.

    Die Dämmerung ist längst vorbei, aber heute will es nicht richtig hell werden. Immerhin lässt der Schneefall etwas nach. Schweigend fokussiere ich die Straße. Ein Schniefen von dem Jungen fährt in das rhythmische Quietschen und Schmatzen der Scheibenwischer; er niest, putzt sich die Nase. Reibt die Hände, streckt sie in den warmen Luftstrom neben dem Handschuhfach. Er sieht mitgenommen aus, verschüchtert. Die Seidenhühner im Park des Campus fallen mir ein, deren Federpracht der Regen jeweils erbärmlich an die schlotternden, mageren Glieder pappte.

    »Du bist also Plinky. Unterwegs in die Schule?«

    »Ich muss in die Stadt. Sie werden mich in die Stadt fahren.«

    »Hey – du bist ganz schön anmaßend!«

    Meine emphatische Regung ist rasch verflogen. Ich sollte den Kerl auf die Straße stellen. Nur will ich hier nicht halten, die Route führt bergauf, wer weiß, ob ich wieder anfahren kann.

    Auf der Gegenfahrbahn tauchen drei Wagen auf. Einer steckt im Straßengraben, zwei sind ineinander verkeilt. Also doch ein Unfall. Blechschaden, die Männer stehen diskutierend im Scheinwerferlicht. Keiner scheint verletzt. Ich drossle, fahre langsam vorbei. Nein, da braucht es mich nicht, sollen sie auf den Pannendienst warten.

    »Die drei werden erfrieren. Wenn Sie nicht bald wenden, wird es uns gleich ergehen. Schalten Sie das Navi aus.«

    Mein Missmut kippt in Ärger. Der Junge nervt. Er ist nicht anmaßend, sondern rotzfrech. Ich stoppe.

    »Für wen hältst du dich eigentlich? Warum sollte ich mir solche Bemerkungen von einem ungebetenen Eindringling anhören? Zum allerletzten Mal: Jetzt steigst du aus, aber subito!«

    »Der Leberegel«, grummelt Plinky, »wissen Sie, wie es der kleine Leberegel macht? Wie er in seinen Wirt, in das Schaf eindringt?«

    »Aussteigen!«

    Ich remple ihn an die Schulter, stoße heftiger, aber er weicht aus und weigert sich beharrlich, meiner Aufforderung nachzukommen. Er drückt sich an die Tür und beginnt zu dozieren: »Mit dem Kot der Schafe werden die Eier des Leberegels ausgeschieden … Schnecken verschlingen die Eier des Parasiten … sie entwickeln sich zum Larvenstadium, den Cercarien, die die Schnecken ausscheiden, umgarnt von einer Schleimhülle …«

    Hinter mir beginnt ein Hupkonzert. Ich schalte in den zweiten Gang und rolle vorsichtig an. Die Reifen greifen.

    »Die roten Waldameisen fahren auf diese Schleimballen ab, verschlingen sie und werden von den Cercarien befallen. Die Cercarien wachsen im Hinterleib der Ameisen heran und wandern in ihren Kopf. Dort dringen sie in das Nervensystem und beginnen die Ameisen zu steuern. Sie übernehmen die Kontrolle über die Beine, die Beißzangen, über ihren Willen.«

    »Was soll dieser Quatsch? Halte den Mund!«

    Plinky lässt sich nicht unterbrechen. Unbeirrt fährt er fort: »Abends, wenn die Ameisen in das Nest zurückkehren sollten, torkeln sie wie Zombies auf die Wiese, klettern auf Gräser und schlagen ihre Beißer in die

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