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Roman und Julia am See: Starnberger See Krimi
Roman und Julia am See: Starnberger See Krimi
Roman und Julia am See: Starnberger See Krimi
Ebook264 pages3 hours

Roman und Julia am See: Starnberger See Krimi

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About this ebook

Moritz Wellendorf, ein weltbekannter Filmemacher, wurde vor Jahren wegen Vergewaltigung angeklagt, jedoch freigesprochen. Ein Fehlurteil, wie Staatsanwalt Roman Seethaler seit jeher angenommen hatte. Das Opfer, die junge Schauspielerin Julia, die er hoffnungslos liebte, nimmt sich deshalb das Leben. Als er davon erfährt, will er sich in gewaltsamer Selbsthilfe rächen, wird aber zuvor selbst als Leiche am Steg 1 aus dem Starnberger See geborgen. Wenig später kommt der Filmemacher in seiner nahen Villa ums Leben. Kriminalhauptkommissar Maximilian Wagner steht vor den kompliziertesten Ermittlungen seiner Laufbahn. Werden sie am Ende mit einem gerechten Urteil abgeschlossen?

LanguageDeutsch
Release dateNov 15, 2019
ISBN9783961522316
Roman und Julia am See: Starnberger See Krimi

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    Roman und Julia am See - Günter Reiß

    1

    Es war Mitte Mai am frühen Morgen, und die Nebelschwaden lagen noch über dem See, als sich Kriminalhauptkommissar Maximilian Wagner vom Parkplatz kommend dem Steg Nummer 1 näherte. Eine kühle Brise blies ihm entgegen. Aufgeregte Möwen kreischten in der Stille, und irgendwo weit draußen tuckerte ein Fischerboot durch das sich kräuselnde Wasser.

    Noch bis gestern Abend wehte ein lebhafter, doch frühlingshafter Westwind über den See. Dann drehte das Wetter, und mit dem steifen Ostwind kam die Kälte. Obgleich Wagner eine gefütterte Lederjacke trug, dazu vorsorglich einen Rollkragenpullover angezogen und um den Hals einen Wollschal gewickelt hatte, spürte er schon nach wenigen Schritten die Kälte, die durch seine Kleidung drang. Er spürte ein leichtes Frösteln. Für einen Augenblick ließ er sich durch den Kopf gehen, wie mollig warm es jetzt im Ehebett wäre. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihn, aber er verwarf den Gedanken, während er zum See hinabeilte.

    „Eine Leiche für Sie, Herr Kriminalhauptkommissar, männlich, im Paradies am Steg Nummer 1, im Freizeitgelände am Westufer des Starnberger Sees", war ihm vor einer Dreiviertelstunde gemeldet worden.

    „Was ist?", hatte Gabriele schlaftrunken gefragt, nachdem der Anruf sie beide aus dem Schlaf gerissen hatte.

    „Eine Leiche im Starnberger See, schlaf ruhig weiter", flüsterte er, um nicht auch noch die Zwillinge zu wecken, die wie jede Nacht zwischen ihnen schliefen.

    „Wie viel Uhr haben wir denn?", murmelte sie.

    „Zwanzig vor sechs, mein Täubchen."

    „Max, um Himmels willen, muss das denn sein?, seufzte sie und maulte, nachdem sie ihm den Rücken zugewandt hatte. „Nimmst du dich nicht zu wichtig? Du hast doch weit Jüngere in deinem Team, die das für dich erledigen können.

    „Ja, stimmt, da hast du eigentlich recht, aber wie du weißt, habe ich nun mal die größere Erfahrung."

    „Aber um diese Zeit, im Morgengrauen! Das ist doch wirklich nur etwas für die Jugend."

    Maximilian Wagner wollte ihr noch erklären, wie wichtig der erste Eindruck am Fundort ist, aber da hatte Gabi sich bereits die Decke über den Kopf gezogen. Und als er aus dem Bad zurückkam, um sich zu verabschieden, war sie bereits eingeschlafen, und neben ihr schnauften die Zwillinge Nina und Bella im Duett. Er musste lächeln. Auf Zehenspitzen war er aus dem Schlafzimmer geschlichen.

    Wagner sah jetzt, dass der weit in den See ragende Steg wie auch der Uferbereich weiträumig bis zu den Holzbänken der Beach Bar durch weiß-rote Bänder abgesperrt war und davor zwei uniformierte Polizisten patrouillierten. Vorne auf der breiten Plattform des Steges, wo zwei Holztreppen nach links und nach rechts ins Wasser führten, waren die Kollegen von der Spurensicherung zu sehen. In weißen Einweganzügen gingen sie lautlos ihrer Arbeit nach. Sie suchten auf den Holzbrettern nach allen kriminalistisch brauchbaren Spuren: nach Blutflecken, Haaren, nach Hautschuppen und sonstigen Erbgutsubstanzen. Selbst der Schmutz war vor ihnen nicht sicher. Diese „stummen Zeugen" sollten helfen, die immergleichen Fragen zu beantworten, die schon tausendmal vor ihm gestellt worden waren: Wer ist das Opfer, wer der Täter, wie, wann, wo und warum fand die Tat statt.

    Am Steg angekommen, watschelte ihm der dicke Josef Wachtveitl von der Spurensicherung entgegen, den Wagner schon seit ewigen Zeiten kannte. Er war groß und schnauzbärtig, bereits in den Sechzigern, und glich dem fülligen Polizisten in der Vorabendkrimiserie im bayerischen Fernsehen. „Servus, griaß di, Max", brummte er langgezogen im bairischen Dialekt.

    „Servus Sepp, erwiderte Wagner und gab ihm herzlich die Hand. „Wie geht’s da denn so?

    „Dieser Scheißostwind, stöhnte Wachtveitl. „Mi friert’s wie’d Sau.

    „Du sagst es, bemerkte Wagner und fragte: „Wie schaut’s aus?

    „A Leich, unbekannt, männlich."

    „Wer hat sie entdeckt?"

    „Der da, antwortete Wachtveitl und deutete mit dem Kinn zu einem jungen Mann, der in Trainingsanzug und mit Kopfhörern um den Hals am Ufer stand. „A Jogger, wennst mi fragst.

    „Sonst noch was?"

    „No nix, und wieʼs ausschaut, finden wir a nix mehr."

    Verdammter Mist, warum nicht einmal ein einfacher Fall?, dachte Wagner. Eine Leiche mit einer Beschreibung des Täters samt Anschrift und Telefonnummer, das wär’s doch. Er fragte aber nur: „Wo liegt die Leiche?"

    „Dort. Wachtveitl zeigte zu der Stelle auf der Plattform, wo Jürgen Jürgensen, der Polizeifotograf mit blondgefärbten Haaren stand und aus verschiedenen Blickwinkeln Fotos schoss. „Die Leich hamma so lassn, wo’s g’legn is. Für di und den Professor Silbernagel von der Gerichtsmedizin.

    „Hast was dagegen, Sepp, wenn ich gleich einen Blick auf sie werfe? So wie ich bin, mit Straßenschuhen und ohne eure Plastikpantoffeln?"

    „Passt scho, Max. Wir sind ja eh fast fertig. Nur die Taucher suchen noch den Seegrund ab."

    „Danke, Sepp. Also bis später."

    „Alles klar, Max."

    Auf dem halben Weg dorthin stand seine Assistentin Magdalena Angerer, die zwei Taucher in schwarzen Neoprenanzügen mit Sauerstoffflaschen auf dem Rücken gestikulierend anwies, in welchem Umkreis sie den Seegrund absuchen sollten. Daraufhin setzten sie die Masken auf, steckten die Schläuche in den Mund und tauchten unter.

    Obgleich sie sportlich gekleidet war – sie trug einen Trainingsanzug, dazu pinkfarbene Laufschuhe –, bewegte sie sich gewohnt elegant auf ihn zu. Ihre dunklen Augen strahlten, so dass Wagner das erste Mal an diesem Morgen so etwas wie eine sanfte Wärme in sich verspürte.

    „Wie geht’s, Magdalena?", fragte er lächelnd.

    Eigentlich hieß sie mit Vornamen Maria Magdalena, aber sie bestand darauf, nur mit Magdalena angesprochen zu werden, nicht mit Lena, und fuchsteufelswild wurde sie, wenn jemand sie Magda nannte. Wagner war kein einziges Mal von Magdalena abgewichen. „Fachlich weit überdurchschnittlich, rasche Auffassungsgabe, vertritt mit Nachdruck ihre Meinung. Ist für die Mordkommission in einer Großstadt geeignet", so stand es in ihrer letzten dienstlichen Beurteilung. Aber was Wagner an ihr am meisten schätzte: Sie konnte aufmerksam zuhören, bevor sie ihre eigene Meinung vertrat.

    „Schau mich nicht so an, antwortete sie. „Ich weiß, ich bin nicht frisiert und noch ungeschminkt, und wie zur Entschuldigung fügte sie rasch hinzu: „War wieder mal in aller Früh beim Joggen. Ich lief die Isar entlang und war bei der Reichenbachbrücke, als der Anruf kam. Ohne mich umzuziehen und stinkig wie ich war, bin ich sofort hierher gerast. Lachend ergänzte sie: „Bestimmt schneller als die Kollegen von der Streife erlauben.

    „Was soll’s, Magdalena, du bist ja nicht in die Oper eingeladen worden", lachte Wagner.

    „Du willst bestimmt wissen, was ich bis jetzt herausgefunden habe."

    „Und?"

    „Nichts, Maximilian, absolut nichts. Ich habe den Jogger vernommen, der mit der Polizeinotrufnummer einen Leichenfund hier am Steg gemeldet hatte. Sonst hat er niemanden gesehen und auch keinen Schuss gehört."

    „Wann hat er die Leiche gefunden?"

    „Vor einer Stunde. Willst du ihn noch sprechen? Seine Personalien habe ich notiert."

    „Nein."

    „Gut, dann schicke ich ihn nach Hause."

    „Sonst noch was?"

    „Ach ja, den Leichenwagen habe ich noch angefordert."

    „Sehr gut. Noch etwas?"

    „Ja, rein vorsorglich für den Fall, dass die Tat hier auf dem Steg passiert ist."

    „Ja?"

    „Die zwei Taucher suchen den Seegrund in einem Umkreis ab, in dem ein Täter oder eine Täterin die Waffe und auch die Hülsen und eventuell auch die Projektile ins Wasser hätte werfen können."

    Wie umsichtig, dachte Wagner und lobte: „Sehr schön, Magdalena. Wenn du hier fertig bist, sehen wir uns in meinem Büro. Ich schau mir jetzt mal die Leiche an. Bist ein Engel. Also bis später."

    Die Kollegen von der Spurensicherung, die auf den Brettern der Plattform jeden Quadratzentimeter absuchten, quittierten Wagners Ankunft mit einem Nicken, und Wagner begrüßte sie mit einem gemurmelten „Morgen zusammen, lasst euch nicht stören."

    Im Wasser, quer auf der dritten Stufe der Holztreppe zu seiner Linken, sah er den Körper eines dunkel gekleideten Mannes, der durch den Wellengang gegen die Treppe gedrückt wurde und sich dort offensichtlich verfangen hatte. Er lag auf dem Rücken, schaukelte mit den Wellen auf und ab. Das rechte Bein hing nach unten, der linke Arm lag auf der nächsthöheren Stufe, das Gesicht ragte halb aus dem Wasser – und Wagner sah über dem weit aufgerissenen Mund Augen, die zu ihm nach oben starrten. Die leeren Augen eines Toten.

    Es heißt, im Leben begegnet man sich immer zweimal, was an sich schon nicht selbstverständlich ist. Umso merkwürdiger ist es dann, dachte Wagner, wenn der andere bei der ersten Begegnung noch gelebt hat, und dann, wenn man ihn wiedersieht, einen mit toten Augen anstarrt. Bereits auf den ersten Blick war der Tote dem Staatsanwalt Roman Seethaler zum Verwechseln ähnlich, zumindest so ähnlich, wie es eine starre Leiche sein konnte. Der Mann unterhalb von ihm war kleingewachsen, schon im fortgeschrittenen Alter, hatte volles graues Haar, das nur wegen der Nässe dunkler erschien.

    Wagner stieg zwei Stufen hinab.

    Eine Entenschar zog schnatternd an ihm vorbei. Ein Schwanenpaar schien sich für den Toten zu interessieren. Vier Augen über den langen Hälsen beäugten neugierig, wie Wagner in die Hocke ging und mehr als eine Minute vollkommen reglos auf die Leiche blickte.

    „Es kann kein anderer sein, murmelte er. „Staatsanwalt Seethaler! Wie viele Jahre ist das jetzt her? Er hatte ihn vergessen. Aber jetzt erinnerte er sich mehr und mehr an eine Szene in einem Gerichtssaal.

    Er musste als Zeuge in einer Erpressungsgeschichte aussagen – war an sich keine große Sache. Der Angeklagte hatte zwar in seinem Strafregister mehr Vorstrafen stehen, als Tattoos auf seinem rechten Unterarm gestochen waren. Aber im Grunde war er nur ein kleiner Gauner. Staatsanwalt Seethaler saß in einer schwarzen Robe an der Fensterseite, er, Wagner, stand vor dem Richterstuhl, und der Angeklagte saß zerknirscht und wie ein Häufchen Elend rechts neben ihm. Der Richter thronte etwas erhöht auf einem Stuhl mit hoher Lehne, halb verdeckt durch einen Stapel roter Akten. Es war der letzte Fall, der an jenem Vormittag abzuurteilen war. Nach Wagners Aussage war die Sache glasklar, die Erpressung bewiesen. Bereits als Seethaler mit seinem Plädoyer begann, machte sich der Richter kaum die Mühe, ihm zuzuhören. Als Seethaler nicht enden wollte, zog der Richter die Brauen hoch. Doch Seethaler redete weiter und wollte nicht akzeptieren, dass jedes Wort von ihm zu viel war, weil der Richter allem Anschein nach sein Urteil bereits gefällt hatte. Er wartete nur noch auf Seethalers Strafantrag. Da der kleine Erpresser behauptet hatte, er habe sich inzwischen verlobt, was man glauben konnte oder nicht, kam für den Richter ganz offensichtlich nur eine kleine Freiheitsstrafe mit Bewährung in Betracht. Wagner erinnerte sich lebhaft an die folgende Szene. Seethaler stemmte sich weiter mit eindringlichen Worten gegen das drohende Urteil, das für ihn ein Fehlurteil wäre. Der Gauner war von der Bewährungsstrafe noch mehr verblüfft als Staatsanwalt Seethaler. Er grinste übers ganze Gesicht, erklärte sofort: „Ich nehme den Freispruch … äh, das Urteil an", und grinste weiter wie ein Idiot. Mit finsterem Blick schaute Seethaler vor sich hin und …

    Mitten in diese Erinnerung hinein hörte Wagner von oben eine Stimme, die er seit seiner Schulzeit kannte. „Hallo, alter Knabe. Bei einem Wiedersehen sagte Eddi das immer, statt „Hallo, Max.

    Wagner drehte sich um. Oben auf der Plattform stand Professor Eduard Silbernagel, der Leiter der Gerichtsmedizin, hager, hochgewachsen, in einem Lodenmantel, den er nicht zugeknöpft hatte. Darunter trug er einen zu großen, verwaschenen Pullover und eine braune Cordhose. Aber das Auffälligste an ihm waren seine schneeweißen Haare. Sie hingen so wirr um seinen Kopf, als ob der Ostwind sie verwirbelt hätte. Etwas steif stellte er seine Tasche ab. Dann reichte er die Hand nach unten und zog Wagner hoch.

    Eduard Silbernagel lachte leise. „Und?, fragte er, „schon die ersten Erkenntnisse?

    „Was ist denn so lustig, Eddi?"

    „Als ich dich gebeugt über der Leiche sah, dachte ich, der Max hat bestimmt von ihr erfahren, wer der Mörder ist."

    „Sehr komisch."

    „Habʼs neulich in einem Krimi gelesen und …"

    „Ach was. Ich dachte, du verbringst deine Zeit nur mit den Leichen", neckte Wagner. Aber es klang nicht höhnisch, es war nur die übliche Frotzelei unter alten Freunden.

    Auf Silbernagels Gesicht machte sich ein amüsierter Blick breit.

    „Da stand, dass Tote sprechen, wenn sie das erste Mal mit einem Lebenden zusammenkommen. ‚Man muss nur genau hinhören, was sie einem zuflüstern‘, meinte dein literarischer Kollege, dieser smarte Kommissar Cross. Und genau so hat es ausgeschaut, als du vor der Leiche gehockt bist."

    „Das klingt wie ein Groschenroman. Oder willst du mich auf den Arm nehmen, Eddi?"

    „Iwo. Steht in Oskar Maria Grandes Krimi ,Zwei Tote im See‘."

    „Trotzdem ein Schmarrn. Tatsächlich ist es so, dass ich den Toten erkannt habe."

    „Wer ist es?"

    „Staatsanwalt Seethaler."

    Silbernagel pfiff durch die Zähne. „Habe die Ehre. Ein Staatsanwalt voll bekleidet im Wasser und dazu noch tot, ist doch mal was ganz anderes, sagte er in der saloppen Art eines Gerichtsmediziners. „Ließ übrigens bei mir noch nicht arbeiten, hatte also nichts mit Mordfällen zu tun. Nicht, dass Professor Silbernagel ein kauziger, versponnener Pathologe war. Er hatte nur eine seltsame Art von Humor, und ein Tötungsdelikt hatte für ihn nie etwas mit Trauer zu tun. Er nahm es mehr sportlich. „Zeugen können sich täuschen, selbst wenn sie alle dasselbe gesehen haben, pflegte er zu sagen und meinte: „Wie gut ist es, dass wir Rechtsmediziner naturwissenschaftlich gesicherte Sachbeweise für euch Kriminaler liefern.

    „Na, dann wollen wir mal, brummte Silbernagel, trat zur Holztreppe und spähte nach unten, drei, fünf, zehn Sekunden lang. „Sieht aus, als ob er schon viele Stunden im Wasser gelegen ist, war sein erster Kommentar. „Wenn ihr mir den armen Teufel nach oben schafft, könnte ich euch Näheres sagen."

    Wagner zog Einmalhandschuhe an. Zusammen mit Wachtveitl zog er den Staatsanwalt aus dem Wasser. Vorsichtig legten sie ihn auf den Rücken.

    „Drei Einschüsse im Brustbereich", murmelte Silbernagel nach dem ersten Blick. Dann holte er aus seiner Tasche Einmalhandschuhe, streifte sie über und kniete sich neben den Toten.

    Wagner stand nur da und beobachtete, wie Silbernagel, um sicher zu gehen, beim Toten erst den Mantel, dann das Sakko und das Hemd öffnete und zuletzt das Unterhemd nach oben schob. „Siehst du das?, fragte er. „Drei Einschusslöcher nahe am Herzen. Noch Fragen? Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Silbernagel die Leiche in die Bauchlage, nickte diesmal.

    Wagner kniete sich neben ihn.

    Stumm zeigte Silbernagel auf den Rücken. „Max, siehst du eine Ausschussstelle?"

    Wagner schüttelte den Kopf.

    „Ich auch nicht. Noch Fragen?"

    „Nein."

    „Armer Teufel", seufzte Silbernagel, während er den Toten wieder auf den Rücken legte. Dann schloss er mit seiner rechten Hand behutsam dessen Augen und stand auf. Er holte nun aus seiner Tasche ein Aufnahmegerät und diktierte schnell, was er gesehen hatte.

    „Übrigens, Max, sagte er daraufhin unvermittelt, während er die Einmalhandschuhe abstreifte, „ich habe gehört, du bist Vater von Zwillingen geworden. Stimmt das?

    „Stimmt. Zwei süße Mädchen. Bella und Nina heißen sie. Obgleich erst drei Monate alt, bekomme ich schon jetzt Komplimente von allen Seiten."

    „Herzlichen Glückwunsch, alter Knabe. Klingt wirklich schön. Bella Nina könnte man sogar singen. Bestimmt müssen sie Gabi wie aus dem Gesicht geschnitten sein. Hoffe ich wenigstens."

    „Du sagst es, Eddi. Dein Kompliment gebe ich an Gabi weiter, aber warum grinst du?"

    „Max, du gehst auf die fünfzig zu …"

    „Du Schuft, du elendiger. Ich hatte schon befürchtet, dass du das sagen würdest."

    „Außerdem habe ich mir schon die ganze Zeit überlegt, warum du so übernächtigt ausschaust. So kenne ich dich doch nicht. Na ja, Windeln wechseln raubt einem halt den Schlaf", frotzelte Silbernagel weiter.

    „Lässt sich nicht vermeiden. Aber du kannst dir nicht vorstellen, was man von den Kleinen zurückerhält, wenn man sie wieder in den Schlaf wiegt oder die Windeln wechseln muss."

    „Was, wirklich? Du am Wickeltisch?"

    „Aber sicher. Man bekommt dabei eine Ahnung, dass das Leben einen Sinn hat. Für Kinder lebt man doch."

    „Na ja, wenn du das sagst. Hauptsache, du bist glücklich dabei. Lass uns deswegen mal ein paar Bierchen trinken."

    „Gegenvorschlag, Eddi: Komm doch mal bei uns vorbei. Wir fünf würden uns freuen."

    „Aber gern. Ruf mich an."

    „Mach ich."

    Inzwischen hatte der dicke Wachtveitl ein Tuch über den toten Staatsanwalt gelegt.

    „Aber jetzt sag mir endlich, Eddi, was du meinst."

    Statt zu antworten, fragte Silbernagel Wachtveitl: „Sind drei Patronenhülsen schon gefunden worden?"

    „Nein, danach wird getaucht. Hier oben fanden wir sie jedenfalls nicht."

    „Eine Schusswaffe?"

    „Auch nicht."

    „Getrocknete Blutflecken?"

    „Nicht einen."

    „Hm", meinte daraufhin Silbernagel und überlegte.

    Wagner ahnte, über was sein Freund nachdachte. Wie er wusste auch Eduard, was Wachtveitls Auskünfte bedeuteten. Der Fall könnte eine Wendung nehmen, an die er vor wenigen Minuten noch nicht gedacht hatte. Sollte nicht mindestens eine Hülse von den Tauchern gefunden werden, wäre Seethaler wahrscheinlich nicht hier auf der Plattform, sondern irgendwo anders erschossen worden.

    „Der Fundort könnte also nicht der Tatort sein", sagte er zu Silbernagel.

    „Höre ich, dass du es kapiert hast, alter Knabe?, neckte der. „Damit liegst du verdammt richtig. Seine Augen blitzten wie damals vor einer halben Ewigkeit – Silbernagel war in seiner Jugend wie Wagner ein anerkannt guter Windsurfer –, als sie beide an einem Strand im Süden Europas lagen und er vorschlug, wie man zwei Beachgirls überzeugen könnte, dass eine Party zu viert in den Dünen ganz lauschig sein würde.

    „Wenn du mich fragst, fuhr Silbernagel fort, „bei dieser geringen Durchschlagskraft der Projektile war sein Tod nicht von langer Hand geplant. Sonst hätte der Täter bestimmt eine andere Waffe verwendet.

    „So sehe ich das im Augenblick auch, stimmte Wagner zu. „Aber jetzt sag mir, wann ist sein Tod eingetreten?

    „Du hast ja gesehen, dass die Totenstarre bereits voll ausgeprägt ist und die Verwesung noch nicht begonnen hat, antwortete Silbernagel und fügte hinzu, während er auf seine Armbanduhr schaute: „Jetzt haben wir halb acht. Grob geschätzt und ohne Garantie würde ich sagen: vor sechs bis zwölf Stunden. Genaueres wie immer nach der Obduktion.

    „Also wann?"

    Silbernagel zuckte die Achseln und hob seine Tasche auf.

    „Also bis wann, Eddi?"

    „Max, wie immer halt. So schnell wie möglich, aber rechne nicht damit. Ciao, bis später."

    Noch während sie sich die Hände schüttelten, sah Wagner Oberstaatsanwältin Carmen Martinez eilig den Steg betreten, sah, wie sie mit langen Schritten zwei Männer überholte, die eine Stahlbahre trugen, in der sie den Staatsanwalt Seethaler abholen wollten, und dachte: Trotz ihrer Größe schwebt sie mehr, als dass sie geht. Ihr um den Hals geschlagener Seidenschal in Regenbogenfarben flattert im Ostwind wie eine Fahne hinter ihr her. Eines

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