Malwida von Meysenbug - Wegbereiterin der Emanzipation im 19. Jahrhundert: Leben, Werk und Wirkung
By Regina Timm
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About this ebook
Das vorliegende Buch zeichnet ihre Biographie nach, geht auf ihr literarisches Werk ein und erläutert Meysenbugs Wirkung. Ihre Persönlichkeit und speziell ihren Idealismus betrachtet die Autorin unter anderem im Lichte der psychologischen Theorien von Alfred Adler und Karen Horney. So entsteht ein differenziertes Bild dieser eigenwilligen Wegbereiterin weiblicher Emanzipation im 19. Jahrhundert.
Regina Timm
Regina Timm, Dr. phil., geb. 1955, Psychologische Psychotherapeutin, Diplom-Berufspädagogin. Langjährige Lehrtätigkeit an Berliner Berufsschulen, seit 2000 niedergelassen in eigener Psychotherapeutischer Praxis. Ausbildung und Mitarbeit am ITGG-Berlin. Dozentin, Lehrtherapeutin und Supervisorin in der Psychotherapeutenausbildung.
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Book preview
Malwida von Meysenbug - Wegbereiterin der Emanzipation im 19. Jahrhundert - Regina Timm
Jedes tüchtige Streben
wendet sich von innen heraus auf die Welt.
Johann Wolfgang von Goethe
Inhalt
Einleitung
Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Einige Aspekte der Kulturgeschichte
Anmerkungen zur historischen Entwicklung
Die Anfänge eines deutschen Nationalismus
Der Wiener Kongress und der Deutsche Bund
Das Kurfürstentum Hessen
Malwida von Meysenbugs Lebensgeschichte
Kindheit und Jugend
Es gibt soviel zu entdecken! – Die frühen Jahre in Kassel 1816-1830
Ein Ende mit Schrecken und der Beginn einer neuer Ära − Jugendzeit (1830−1837)
Finde ich als Frau meinen Platz in der Welt? (1837−1845)
Exkurs I: Kindheitserinnerungen (Alfred Adler)
Kindheitserinnerungen als Schlüssel zum Lebensentwurf Malwida von Meysenbugs
Auf dem Weg zur Emanzipation
Aufbruch
Die Revolution 1848
An der Hamburger Hochschule für das weibliche Geschlecht 1850−1852
Flucht
Exil in London (1852−1862)
Allein in einem fremden Land
Alexander Herzen (1812−1870)
Die Familie der freien Wahl
Erste Konflikte
Neue Freundschaften
Exkurs II: Charakter und Lebensstil (A. Adler)
Das Minderwertigkeitsgefühl
Kompensation und Geltungsstreben
Das Gemeinschaftsgefühl
Charakter und Lebensstil
Charakter- und Lebensstilinterpretation einiger Situationen im Leben Malwida von Meysenbugs
Eigene Wege
Die Jahre 1859−1861
Richard Wagner (1813−1883)
Abschied von London
Wanderjahre (ca. 1862–1873)
Familienleben und Zwistigkeiten
Tauwetter in der Beziehung zwischen Meysenbug und Herzen
Gabriel Monod (1844−1912)
Die „Memoiren einer Idealistin"
Ein Winter in Sorrent
Zuhause in der Via Polveriera
Meta von Salis-Marschlins (1855−1929)
Lou Andreas Salomé (1861−1937)
Nietzsche und Lou Salomé
Exkurs III: Malwida von Meysenbug im Spiegel von Karen Horneys Theorie
Die Kindheitsbedingungen Malwida von Meysenbugs
Selbstidealisierung – ein Prozess der Selbstentfremdung
Der Charaktertyp − drei Neurosenstrukturen
Bezug von Horneys Theorie auf die Gedankenwelt Meysenbugs
Der Lebensabend einer Idealistin
Abschiede und neue Hoffnung
Romain Rolland (1866−1944)
Die letzten Jahre
Die Beziehung zwischen Malwida von Meysenbug und Friedrich Nietzsche (1844−1900), dargestellt anhand des Briefwechsels
Kennenlernen und frühe Freundschaft
Gemeinsamkeiten und gegenseitige Achtung
Der vierte Brief Nietzsches an Meysenbug und eine vorwurfsvolle Antwort
Das gleiche Ziel: Wagner und Bayreuth
Vertiefung der Freundschaft
Nietzsche und die Idealistin
Die neue Mütterlichkeit
Eine ideale Gemeinschaft
Erste Risse – oder: Wie bleibt man einem Freund treu?
Die große Stille
Wiederannäherung
Die Entstehung von Zarathustra
Ende der Freundschaft
Zusammenfassung
Abschließende Betrachtung
Bewundern und Verehren
Malwida von Meysenbug – Leben zwischen Hingabe und Selbstbewahrung
Literaturverzeichnis
Archivalien
Internetquellen
Über die Autorin
Danksagung
Bilder
Einleitung
Malwida von Meysenbug (1816−1903) war zu Lebzeiten eine bedeutende Schriftstellerin, ihr literarisches Werk war für eine Frau der damaligen Zeit sehr umfangreich. Insbesondere durch ihre Autobiografie Memoiren einer Idealistin (1869/1876) wurde sie über Nacht in ganz Europa und darüber hinaus bekannt.
Das Besondere dieser Lebensbeschreibung liegt in der Schilderung, wie sie sich aus den engen Fesseln der Familie befreit und ihren eigenen Weg geht. Obwohl privilegiert zwischen Adel und Bürgertum aufgewachsen, war sie für die Nöte der unteren Klassen empfänglich. Malwida von Meysenbug hat bewusst das Leben um sich herum wahrgenommen, sie hat die sozialen Missstände gesehen und sich schließlich mit den demokratischen Bewegungen des Vormärz und der Revolution von 1848 solidarisiert. In den Konflikten, denen sie dadurch mit ihrer Familie ausgesetzt war, stand sie entschieden zu ihrer Haltung und nahm darüber hinaus in Kauf, als politisch Verfolgte emigrieren zu müssen. Mittellos und allein im Exil in England begann sie als junge Frau, völlig auf sich selbst gestellt, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Da sie gebildet, an vielem interessiert und weltoffen war, hatte sie als Lehrerin und Erzieherin bald Erfolg. Neben Deutsch sprach Meysenbug fließend Englisch und Französisch, durch den Kontakt mit Alexander Herzen fand sie Zugang zur russischen Sprache, und später, als sie in Italien lebte, eignete sie sich Italienisch an. In diesen Sprachen schrieb sie ihre Briefe und Zeitungsartikel, je nachdem, wer ihre Ansprechpartner waren.
Malwida von Meysenbugs autobiografische Beschreibung ihres Lebenswegs und die Hürden, die sie zu überwinden hatte, lösten insbesondere bei vielen Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert Hoffnungen aus, auch der Enge und Bevormundung entfliehen und sich selbst verwirklichen zu können. Für Meysenbug war es eine große Freude, zu sehen, welche Zuversicht sie mit ihren Memoiren bei der Jugend erweckte. Viele Frauen schrieben ihr voller Begeisterung und zu vielen von ihnen entwickelte sich ein persönlicher Kontakt. Es war für sie beglückend, nicht nur ihre Erfahrungen weitergeben zu können, sondern sie bot sich auch selbst als Mentorin an.
Durch die intellektuelle Förderung im Elternhaus hatte sie früh den Wert einer guten Bildung und aufgeschlossenen Erziehung für die Persönlichkeitsentwicklung erkannt. Daher sah sie eine Lebensaufgabe darin, ihren Beitrag dafür zu leisten, allen Menschen die Möglichkeit guter Bildung zu eröffnen. Insbesondere für die Frauen sah Malwida von Meysenbug darin eine Chance, sich den Männern gegenüber gleichwertig und dem Leben gewachsen zu fühlen. Als Person und Mitmensch imponierte Malwida von Meysenbug insbesondere dadurch, dass sie vorurteilsfrei auf Menschen zugehen, Freundschaften aufbauen und diese über Jahre pflegen konnte. Viele berühmte Zeitgenossen (z. B. Gottfried Kinkel, Alexander Herzen, Giuseppe Mazzini, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Romain Rolland) wussten sie zu schätzen und suchten ihre Nähe. Je älter sie wurde, umso mehr legte man Wert auf ihr Urteil und schätzte ihre Lebenserfahrung. Ellen Key, die schwedische Reformpädagogin, die im Herbst 1900 Meysenbug in Rom aufsuchte, beschrieb die inzwischen 84-jährige Dame so:
Die verblasste, zerbrechliche alte Frau hat wahrscheinlich in jüngeren Jahren einen sanften, blonden Reiz besessen, aber damals wie jetzt und in jedem Alter hat sie ganz gewiss am meisten durch ihren Ausdruck von Seele und Güte gefesselt. Ein paar freundlich prüfende, graue Augen, ein fein verstehendes Lächeln, eine ruhige Stimme, eine vornehme Einfachheit im Wesen, im Sprechen, in der Kleidung erwecken den Eindruck der Edeldame [...]. Über die offene Art, wie sie ihre reiche Lebenserfahrung, ihre freie Lebensanschauung mitteilt, macht den Eindruck der von Autorität und Tradition ganz befreiten Persönlichkeit, deren harmonisches Wesen das Resultat einer langen, zielbewussten und einheitlichen Selbstgestaltung ist. (Key, 1902, S. 152)
Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Lebensgeschichte von Malwida von Meysenbug. Neben dem umfangreichen Briefwechsel Meysenbugs und der Sekundärliteratur wird insbesondere auf die Autobiografien Memoiren einer Idealistin und Der Lebensabend einer Idealistin verwiesen. Anhand dieses vorhandenen Materials soll aufgezeigt werden, wie es Meysenbug gelungen ist, sich aus den engen Familienstrukturen zu lösen, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, um schließlich zu dieser besonderen Persönlichkeit zu reifen. Welche spezifischen Entwicklungen und Charakterzüge haben sie geprägt? Und wie konnte es ihr als Frau gelingen, aus den gesellschaftlich-patriarchalen Strukturen des 19. Jahrhunderts auszubrechen, den für Frauen vorbestimmten Weg zu verlassen und die eigene Selbstwerdung anzustreben?
Die Aktualität der Thematik und die damit einhergehende Bedeutung für unsere heutige Zeit sind darin begründet, dass der Blick auf Meysenbug ein psychologisch-anthropologischer ist. Deshalb wird es neben der „Geschichte" an bestimmten Stellen Einfügungen geben; mithilfe psychologischer Theorieansätze soll eine Annäherung an die individuelle Persönlichkeit Meysenbugs versucht werden. Da sie uns in ihrer Autobiografie neben ihrer Lebensbewegung und ihrem Wertehorizont auch viele sehr eindrückliche Kindheitserinnerungen präsentiert, bietet es sich an, Alfred Adlers Ganzheitstheorie diesbezüglich zu befragen (Exkurs I und II).
Kritisch angemerkt werden muss, dass Meysenbug durch ihre idealistische Sichtweise vieles verklärt gesehen hat und ihr manches Mal der Blick fürs Reale abhandengekommen ist. Hierbei bietet sich die Theorie Karen Horneys an, die mit ihrem Konzept vom idealisierten, realen und wahren Selbst einen weiteren Deutungsansatz ermöglicht (Exkurs III). Im Schlusskapitel soll das Problem der Idealisierung nochmals aufgegriffen werden. Seinen Sinn bezieht dieser pathologisierende Begriff, wenn man ihn vor seinen anthropologischen Hintergrund stellt: Erst im Kontext der Hingabethematik, wozu das Bewundern und das Verehren zählen, wird das Idealisieren in seiner Defizitform transparent. Mit dieser Einordnung soll schließlich der Bogen zur Verstehenden Tiefenpsychologie Josef Rattners als personalistische Betrachtung geschlagen werden.
Meysenbug war eine leidenschaftliche Briefeschreiberin und hielt mithilfe dieses Mediums Kontakt zu zahlreichen Freunden und Bekannten. Deshalb wird im Text immer wieder ihr umfangreiches Briefmaterial herangezogen. In einem Extrakapitel wird exemplarisch der Briefwechsel zwischen Malwida von Meysenbug und Friedrich Nietzsche dargestellt. Er dient als Zeugnis dieser außergewöhnlichen Beziehung und liefert uns einen weiteren Einblick in Meysenbugs Persönlichkeit.
Dem biografischen Teil vorangestellt werden einige Aspekte der Situation Deutschlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts, um aufzuzeigen, in welche Zeit Malwida von Meysenbug hineingeboren wurde.
Auf einige Aspekte der Rezeptionsgeschichte ihres Werks soll hierbei noch hingewiesen werden. Wie bereits erwähnt, war Malwida von Meysenbugs literarisches Werk für eine Frau der damaligen Zeit sehr umfangreich und erfuhr eine vorwiegend positive Rezeption. Ihr erster Artikel mit dem Titel „Ein Frauenschwur von 1849 wurde 1850 veröffentlicht (s. Jahrbuch 1996, Malwida-von-Meysenbug-Gesellschaft, S. 164−166). „Die Reise nach Ostende
von 1849 wurde erst 1905, also nach ihrem Tod, von Gabriel Monod herausgebracht. Im Exil in England wurde sie bald journalistisch tätig und fertigte Übersetzungsarbeiten an. Insbesondere nach der Veröffentlichung ihrer Memoiren (1869/1876) galt sie als Schriftstellerin, wurde gelesen und es wurde über sie geschrieben. Nachdem sie sich in Italien niedergelassen hatte, begann sie auch hier, journalistisch tätig zu werden (s. hierzu die Aufstellung von J. Le Rider, [2005], S. 556−567). 1879 erschien der Band Stimmungsbilder mit Aufsätzen, in denen Meysenbug verschiedene Themen wie Ehe und Familie, Kunst, Politik und Religion reflektierte. Andere Werke, vor allem Kurzgeschichten, die sie in diesen Jahren verfasst hatte, fanden keine Verleger (s. Gaertringen 2003). Erst 1885 erschienen der Erzählband Gesammelte Erzählungen und der Roman Phädra. Während die Memoiren in den folgenden Jahren immer wieder neu aufgelegt und ins Italienische, Französische und Englische übersetzt wurden, fanden der Roman und die Erzählungen weit weniger Anklang und waren im 20. Jahrhundert fast völlig verschwunden. Nach Meysenbugs Tod veröffentlichte Gabriel Monod erstmals Meysenbugs Briefe an ihre Mutter.
Zu Meysenbugs 100. Geburtstag erschienen zahlreiche Artikel und Bücher, in denen die Verehrung ihrer Autorinnen und Autoren für Meysenbug zum Ausdruck kam (s. Whittle, 2003, S. 34). Auch Berta Schleicher begann zu dieser Zeit, sich mit dem Nachlass von Malwida von Meysenbug zu beschäftigen, und erstellte eine Gesamtausgabe ihrer Werke (1922). Im Vorwort zum fünften Band begründete sie ihre Motivation:
Es gibt in Deutschland, und anderswo, viele Gemüter, die sich in der Öde des heutigen materiellen Strebens und Interessenwesens nach dem alten oder wenigstens einem ihm verwandten Idealismus zurücksehnen. Und für diese haben Malwidas Schriften mit ihrer rührenden Aufrichtigkeit, ihrer wahrhaftigen Gefühlswärme und ihrer poetischen Hingebung an das Edle, Große und Schöne einen unwiderstehlichen Zauber (Schleicher, 1922, S. 9, 10).
In den folgenden Jahren veröffentlichte Schleicher weitere Teile aus dem Nachlass, zum Beispiel einen gekürzten Briefwechsel zwischen Romain Rolland und Meysenbug (1932), Im Anfang war die Liebe. Briefe an ihre Pflegetochter (1926) u. a.
Die Popularität Meysenbugs zeigte sich in den 1920er- und zu Beginn der 1930er-Jahre auch in der Wissenschaft. Insbesondere Frauen, für die Meysenbug ein emanzipatorisches Vorbild war, verfassten wissenschaftliche Arbeiten über ihr Leben und Werk, zum Beispiel Else Binder (1917), Dora Wegele (1927) und Anni Piorreck (1932). Selbst 1938 erschien noch eine wissenschaftliche Arbeit von Wilhelm Treiber über Malwida von Meysenbug und das Erziehungsproblem. Inzwischen hatte man sogar ein Mädchenlyzeum in Kassel nach Malwida von Meysenbug benannt (1930). Erst Ende der 1930er-Jahre befassten sich die Behörden näher mit der Person Meysenbug, was 1940 zwangsläufig zur Änderung des Namens führen musste (Heinrich-Schütz-Schule)¹. In einem Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung entschuldigt sich dieser, dass der Namenswechsel nicht schon früher stattgefunden habe; dies hätte aber nur geschehen können, „wenn die Eigenart der Malwida von Meysenbug bekannt gewesen wäre (Matthäus, 1988, S. 56). Man habe sich an den Namen gewöhnt und niemand habe nachgefragt. Meysenbug gehörte jedoch „einer Geistesrichtung an, die der heutige Staat grundsätzlich ablehnen muss
(ebd., S. 57). Sie habe zeitlebens eine liberale, demokratische Auffassung vertreten „und war eine begeisterte Verehrerin der Anstifter und Führer aller Revolutionen, die von 1830 bis 1848 Europa erschütterten" (ebd.).
Malwida von Meysenbugs Bücher verschwanden nicht nur aus den Bibliotheken, sondern auch aus dem Bewusstsein in Deutschland und weitestgehend auch in Europa.² Nach dem 2. Weltkrieg gab es vereinzelt wieder Interesse an Meysenbug. Beispielsweise erschien 1950 an der Marburger Universität eine Dissertation von Helmut Schneider über die Beziehung zwischen Alexander Herzen und Malwida von Meysenbug. 1953 wurde eine neue Edition der Memoiren veröffentlicht, und zwar in der DDR, bearbeitet von Dr. Arno Sachse.³ In Westdeutschland setzte erst in den 1980er-Jahren eine intensivere Forschungstätigkeit ein. Den Beginn dafür lieferte die kritische Edition der Briefe an Johanna und Gottfried Kinkel 1849-1855⁴, denn diese „Briefausgabe differenziert [...] das Bild, das sich der Leser seit der ersten Ausgabe der Memoiren von deren Heldin machen konnte" (Whittle, 2003, S. 41).
Weitere Arbeiten dieser Zeit versuchten, Meysenbug differenzierter und in ihrer Bedeutung für die heutige Zeit darzustellen. 1984 kam es in Kassel eigentlich mehr aus lokalem Interesse zur Gründung der Malwida-von-Meysenbug-Gesellschaft. Gründungsmitglieder waren zum Beispiel Christiane Brückner (1921−1996) und Anni Piorreck (1907−1995). Die Gesellschaft hat sich zum Ziel gesetzt, „die Erforschung ihres Lebens [Meysenbugs, R. T.] und Werkes anzuregen und zu fördern" (Heise, 1998, S. 184). Dementsprechend wurden Forschungsaufträge vergeben, und in unregelmäßigen Abständen sind bisher neun Jahrbücher und einige Bücher erschienen.
Etwa zur gleichen Zeit, nämlich seit 1986, begann man im Staatsarchiv Detmold, den umfangreichen Nachlass von Malwida von Meysenbug zusammenzutragen und zu erfassen. 1965 hatte Berta Schleicher ihre „Malwida-Sammlung" dem Archiv vermacht; weitere Unterlagen stellten in den folgenden Jahren Familienangehörige Meysenbugs zur Verfügung. Der Nachlass hatte inzwischen einen Umfang von ca. 500 Originalbriefen von und an Meysenbug und ca. 800 Briefen aus dem Familiennachlass erreicht, sodass mithilfe von Arbeitsamtsmaßnahmen begonnen wurde, die zahlreiche Korrespondenz in Regesten zusammenzufassen. Eine Kooperation mit dem Goethe-Schiller-Archiv in Weimar ermöglichte eine weitere Recherche (ca. 2000 Briefe). Hinzu kamen 242 Briefe aus dem Nationalarchiv und der Richard-Wagner-Gedenkstätte in Bayreuth, 118 Briefe vom Richard-Wagner-Museum in Tribschen sowie 166 Schreiben von der Nationalbibliothek Paris und einigen anderen Einrichtungen (s. Hollmann, o. D., S. 19ff.). Im Laufe von ca. 15 Jahren wurde somit eine umfangreiche Regestensammlung erstellt, die in dreibändiger Ausgabe vorliegt.
Die Entwicklung der letzten 30 Jahre lässt sich auch im Zitationsnachweis⁵ feststellen. Beispielsweise gab es 1984 erst neun Angaben, 1985 bereits 18 und 1997 27 Einträge. 1998 gab es bereits 53 Einträge und 69 im Jahr 2005. Bis 2012/2013 stieg die Zahl auf über 90. Im Jahr 2016, dem 200. Geburtstag von Malwida von Meysenbug, erschienen 81 Angaben − darunter ist allerdings kein einziges Werk über/von Meysenbug. Vielmehr wird sie immer wieder in Arbeiten über Friedrich Nietzsche und Romain Rolland zitiert. Seit 2009 sind verschiedene Neuauflagen der Memoiren von Malwida von Meysenbug erschienen, und es existiert eine Kindl-Edition. Obwohl in weiten Kreisen immer noch unbekannt, liegt inzwischen enorm viel Material zu Malwida von Meysenbug vor, das durchaus eine Anregung für weitere Forschungsarbeiten darstellt.
¹ http://www.heinrich-schuetz-schule.de/page3/Schulchronik/Schulchronik.html (21.03.2017) Auch in Berlin gab es von 1945 bis 1964 eine Malwida-von-Meysenbug-Schule; vgl. http://siemens-gymnasium-berlin.de/ geschichtlicher-überblick (21.03.2017) und http://www.siemens-gymnasium-berlin.de/malwida-von-meysenbug-und-werner-von-siemens (21.03.2017).
² In den Zitationslisten finden sich im Zeitraum von 1940 bis 1945 acht Einträge − vorwiegend in Arbeiten über Friedrich Nietzsche oder Romain Rolland.
https://scholar.google.de/scholar?q=Malwida+von+Meysenbug&hl=de&as_sdt=0%2C5&as_ylo=1940&as_yhi=1945 (19.03.2017)
³ Malwida von Meysenbug. „Ein Leben für die Anderen", Verlag der Nationen, Berlin 1953.
⁴ Hrsg. von Stefania Rossi und Yoko Kikuchi, Bonn, Röhrscheid Verlag 1982.
⁵ https://scholar.google.de (21.03.2017).
Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Einige Aspekte der Kulturgeschichte
Um 1800 befand sich Deutschland noch in einer Hochphase kultureller und geistiger Bewegungen. Politisch waren die zahllosen Kleinstaaten im Vergleich zum zentralisierten Frankreich ausgesprochen rückständig, auch wirtschaftlich hinkte man nicht nur dem aufblühenden Kapitalismus der Briten weit hinterher; doch Kunst und Literatur sowie Philosophie und Wissenschaften standen rechts des Rheines in beeindruckender Blüte. Über die eigentümliche Nation auf der anderen Rheinseite belehrte Heinrich Heine (1797−1856) im Pariser Exil seine französischen Zeitgenossen, dass man sich dort nicht mit einem Sturm auf die Bastille begnüge (Vgl. Heinrich Heine (1834), Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland). Man verfüge über schärfere Waffen. Aufklärung beschränke sich in Deutschland nicht auf die Beschneidung gesellschaftlicher Auswüchse, sondern renoviere das geistige Waffenarsenal selbst. Was Kant 1781 mit seiner Schrift Kritik der reinen Vernunft geleistet habe, bilde hierbei ein Fundament für umwälzende Entwicklungen, sowohl in der Philosophie als auch in den Wissenschaften. Die Erkenntniskritik des Königsberger Denkers habe den schlichten Empirismus sowie Rationalismus der Franzosen und Angelsachsen ins zweite Glied verwiesen.
Doch das überaus optimistische Vertrauen der Aufklärer in die Erziehbarkeit des Menschen, wie es nicht nur die Pädagogik Immanuel Kants propagiert hatte, begann um 1800 bereits zu bröckeln. Insbesondere die Literatur zeigte, dass die geplante Erziehung des Menschengeschlechts ein langwieriges und schwieriges Projekt ist. Neben der Vernunft waren Kräfte am Werk, die noch auf wissenschaftliche Bearbeitung warteten. Empfindsamkeit und Sturm und Drang hießen die geistigen Strömungen der Aufklärungszeit, in denen die Emotionalität des Menschen in den Vordergrund rückte. Die Weimarer Klassik, als deren Protagonisten Goethe (1749−1832) und Schiller (1759−1805) zu nennen sind, versuchte, die Vernunftseite der Aufklärung mit der des Gefühls zu verbinden. Nicht nur die Vernunft, auch die Leidenschaften sollten in das Menschenbild integriert werden. Die Idee, dass der Mensch dazu bestimmt ist, eine die Widersprüche harmonisierende Gesamtpersönlichkeit auszubilden, stand im Mittelpunkt. Die Vorstellungen der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren noch lebendig, jedoch beunruhigten die aufkommenden Massenbewegungen und ihre Gewaltbereitschaft so manche Intellektuellen. Insbesondere der konservative Goethe, aber auch Schiller, dessen Dramatik ihm den Titel eines Ehrenbürgers der Revolution eingebracht hatte, erschraken vor den neuen Mächten „der Straße". Gegen die politische Macht einer Gleichheitsideologie, mit welcher der Dritte Stand so erfolgreich die feudale Ordnung unterhöhlte, versuchte die Weimarer Klassik einen evolutionären Weg: Nach dem von Johann Joachim Winckelmann (1717−1768) propagierten Bild der antiken Griechen formulierte sie das Ideal von Menschlichkeit und Toleranz bzw. der Harmonie vom geistigen und natürlichen Menschen. Das war ein der Ästhetik abgelauschtes Ideal. Insbesondere in der griechischen Plastik sahen die Klassiker die Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen.
Ab ca. 1799 erstarkte eine andere Kunstanschauung in Deutschland: die Romantik. Zu ihren ersten Vertretern können die Brüder August Wilhelm (1767−1845) und Friedrich Schlegel (1772−1829) gezählt werden. Gemeinsam mit Ludwig Tieck (1773−1853), Clemens Brentano (1778−1842), Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772−1801) u. a. bildeten sie den Jenaer Kreis. Was sich bald zur neuen Lebensbewegung entwickeln sollte, war ursprünglich nicht gegen die Klassik gerichtet. Auch diese Strömung kann als ein Resultat der bewegten Zeiten gesehen werden: Die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege und die politischen Bedrückungen der „Ära Metternich, mit der das Rad der Zeit zurückgedreht werden sollte, und nicht zuletzt die wirtschaftlichen Veränderungen (Landflucht und beginnende Industrialisierung) beförderten in den empfindsamen Seelen der intellektuellen Jugend Rückzugswünsche in eine apolitische Innerlichkeit. Sie bevorzugte das irrationale Dunkle der menschlichen Seele und begann, das Licht der Aufklärung zu scheuen. Literatur und Kunst wurden zum Mittel der Verzauberung des Alltäglichen. Man wandte sich einer germanischen Vergangenheit zu. Die „deutsche Seele
sah ihre Heimat nicht mehr im klassischen Griechenland, sondern in der germanischen Götterwelt. Überhaupt fand eine Hinwendung zur Vergangenheit statt, die insbesondere das Mittelalter verklärte. Goethe hatte schon früh die gotische Baukunst gewürdigt; von den Romantikern wurde jene Zeit als Gipfelpunkt der menschlichen Kultur imaginiert. Es begann die Phase des Historismus, dessen Vorläufer die Gebrüder Wilhelm (1786−1859) und Jakob Grimm (1785−1863) waren. Sagen und Märchen wurden gesammelt und auch als Kunstmärchen neu verfasst. Die Entdeckung des Unbewussten, die der Psychoanalyse voranging, ist ein Kind der Romantik.
Auch in der Philosophie war es der romantische Geist, der mit G. W. F. Hegel (1770−1831), Schelling (1775−1854) und Fichte (1762−1814) das Denken des frühen 19. Jahrhunderts prägte. Auch Hegel hatte sich einige Jahre von den Idealen der Französischen Revolution beeinflussen lassen und fand die fortschrittlichen Gedanken inspirierend.⁶ 1801 folgte er der Einladung seines Freundes Schelling nach Jena, der dort bereits seit 1798 eine Professur innehatte. Das intellektuelle Klima der Stadt stimulierte Hegel, sodass er noch im selben Jahr seine Habilitation abschloss. Jena galt um die Jahrhundertwende und bis ca. 1806 als das Zentrum deutscher Kultur: Hegel, Schelling, Fichte, die Gebrüder Schlegel und auch Schiller lehrten an dieser Universität. 1807, nach seinem Weggang aus Jena, veröffentlichte Hegel sein erstes Hauptwerk, die Phänomenologie des Geistes, das einige Beachtung fand und das ihm weitere Möglichkeiten beruflicher Betätigung eröffnete. Von 1808 bis 1816 war er Leiter eines Gymnasiums in Nürnberg und 1816 erhielt er einen Lehrstuhl in Heidelberg. 1818 schließlich erfolgte der Ruf nach Berlin, wo er 1831 starb.
In der Phänomenologie des Geistes geht Hegel einen epochemachenden Schritt über die idealistische Position Kants hinaus. Für den sogenannten objektiven Idealismus der Phänomenologie hat der Geist nicht mehr im Subjekt, im Menschen selbst seinen Ursprung. Hegels objektiver Geist verfügt über eine eigene Seinsform gewissermaßen oberhalb des Menschen. Das erinnert stark an religiöse Vorstellungen, denen Hegels Lehren nicht unverwandt sind. Doch seine Theorie des Geistes bahnt einem hermeneutischphänomenologischen Denken den Weg: Geist ist nichts Mysteriöses. Er persistiert in der Sprache, in den Formen unseres Zusammenlebens, in Kunst, Wissenschaft, Technik etc. Jeder einzelne Mensch hat Anteil an ihm; er trägt ihn als subjektiven Geist von einer Generation zur nächsten weiter.
Zwischen dem objektiven Geist einer Gesellschaft und dem Einzelwesen besteht eine dialektische Bewegung, die nach Hegel die eigentliche Geschichte der Menschen ausmacht. Die Griechen entdeckten diese Dialektik in der Form ihres Debattierens (durch das wiederholte Gegenüberstellen von These und Antithese tritt allmählich die Wahrheit zutage), Hegel erhob die Dialektik zu einer Wesenseigenheit der Wirklichkeit selbst. Sie findet sich überall: Gegensätze und Polaritäten bestimmen unser Leben und fordern zu ihrer Überwindung auf. In seinem Werk untersucht Hegel nicht nur die Entwicklung des Geistes auf dialektische Qualitäten, sondern auch seine Entwicklung in weiten Bereichen der Kultur, im Aufbau der Natur, im Prozess der Aufklärung, in Gewissen, Sitte und Recht und zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt. In letzteren zeige sich immer eine Thematik von Herr und Knecht, die nur im Modus des Liebens zu überwinden sei.
Hegels Gedanken über die Dialektik wurden von Karl Marx (1818−1883) weitergeführt. Er entwickelte daraus seine Idee des dialektischen Materialismus. Marx gehörte zur Gruppe der Linkshegelianer, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts an die Positionen des frühen kritischen, von Aufklärung und Humanität durchdrungenen Hegels anknüpften. Im Gegensatz dazu haben sich die Rechtshegelianer auf den späten Hegel bezogen und seine Lehre konservativ ausgelegt.
Anmerkungen zur historischen Entwicklung
Die ersten 20 Jahre des 19. Jahrhunderts waren geprägt von den Napoleonischen Kriegen, von dem Versuch erster politischer Reformen als Folge der Französischen Revolution und in diesem Zusammenhang von dem Aufkommen nationalistischer Ideen bezogen auf einen deutschen Einheitsstaat. Um 1800 war Deutschland ein Vielvölkerstaat (unter dem Titel Heiliges Römisches Reich deutscher Nation), aufgeteilt in zahlreiche Herzogtümer, Kurfürstentümer, Fürstentümer, Grafschaften etc., jeweils mit eigener Rechtsordnung und einem eigenen Geld- und Münzwesen, oft sogar mit eigenen Maßen und Gewichten oder eigener Uhrzeit. Was diese zum Teil recht kleinen Einheiten verband, war lediglich die deutsche Sprache. Es wurde absolutistisch regiert von Fürsten, Kurfürsten und anderen, das heißt, die Geschicke der Länder lagen noch vorwiegend in den Händen von Klerus und Adel. Nach dem Sieg Frankreichs über Österreich im Dritten Koalitionskrieg 1805 baute Napoleon seinen Einfluss in den deutschen Gebieten aus. Er sorgte dafür, dass die Herrscher von Baden, Württemberg und Bayern für ihre Unterstützung im Krieg gegen Österreich belohnt wurden. So wurden die Fürsten von Bayern und Württemberg in den Königstand erhoben, der Markgraf von Baden wurde Großherzog. Zudem erhielten sie neue Ländereien. Dadurch waren die deutschen Herrscher Napoleon zur Treue verpflichtet; so sollten sie ihm zukünftig Soldaten zur Verfügung stellen und aus dem deutschen Reich austreten. 1806 erklärten sie gemeinsam mit weiteren 13 Fürstentümern ihren Austritt und schlossen sich zum Rheinbund⁷ zusammen, einer Konföderation deutscher Staaten, allerdings unter dem Protektorat Napoleons. Damit war das Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation besiegelt. Dass Napoleon in Deutschland z. T. hoffnungsvoll begegnet wurde, hing mit dem Wunsch zusammen, „den ursprünglichen Ideen von 1789 [...] in ganz Europa in einer Weise zum Durchbruch zu verhelfen, und zwar nicht in Form „eines radikalen Bruchs mit der Vergangenheit
, sondern als einer „evolutionäre[n] Weiterentwicklung" (Winkler, 2014, S. 53). Neben der Einführung des Code Civil⁸ (Napoleons Bürgerliches Gesetzbuch) in einigen deutschen Staaten wurden viele kleinere Staaten von