Der Käpt'n – Jenseits der See: Ein Spionage-Krimi
By Jörg Rönnau
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Johannes Wilhelm Kröger, geboren im April 1849, wurde Seemann und ist es geblieben, bis er am Vorabend des Ersten Weltkriegs endgültig abmustert. Jetzt soll sein wohlverdienter Ruhestand beginnen, aber von Ruhe kann keine Rede sein. Ganz in der Nähe seines Kapitänshäuschens hat sich eine rätselhafte Frau niedergelassen, die ihn ebenso fasziniert wie das lebensgefährliche Geheimnis, das sie umgibt.
Und während er Wiebke Schritt für Schritt näherkommt, lässt er in seinen Mußestunden noch einmal die Begegnungen mit den großen Literaten seiner Zeit aufleben: Von Arthur Conan Doyle über Theodor Storm und Mark Twain bis Thomas Mann. Sie alle lernte er auf seinen Fahrten als Käpt'n der Northern Clipper kennen, und seine Erinnerungen sind ein Panoptikum der internationalen Abenteuerliteratur in ihrer vielleicht größten Epoche.
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Der Käpt'n – Jenseits der See - Jörg Rönnau
Zum Buch
»Beim Klabautermann, der Bengel wird sein Leben auf dem Meer verbringen«, hatte sein Vater bei seiner Geburt prophezeit. Johannes Wilhelm Kröger, geboren im April 1849, wurde Seemann und ist es geblieben, bis er am Vorabend des Ersten Weltkriegs endgültig abmustert. Jetzt soll sein wohlverdienter Ruhestand beginnen, aber von Ruhe kann keine Rede sein. Ganz in der Nähe seines Kapitänshäuschens hat sich eine rätselhafte Frau niedergelassen, die ihn ebenso fasziniert wie das lebensgefährliche Geheimnis, das sie umgibt. Und während er Wiebke Schritt für Schritt näherkommt, lässt er in seinen Mußestunden noch einmal die Begegnungen mit den großen Literaten seiner Zeit aufleben: Von Arthur Conan Doyle über Theodor Storm und Mark Twain bis Thomas Mann. Sie alle lernte er auf seinen Fahrten als Käpt’n der Northern Clipper kennen, und seine Erinnerungen sind ein Panoptikum der internationalen Abenteuerliteratur in ihrer vielleicht größten Epoche.
Impressum
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.
Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.
Copyright © 2019 by Maximum Verlags GmbH
Hauptstraße 33
27299 Langwedel
www.maximum-verlag.de
1. Auflage 2019
Lektorat: Dr. Rainer Schöttle
Korrektorat: Angelika Wiedmaier
Satz/Layout: Alin Mattfeldt
Covergestaltung: Alin Mattfeldt
E-Book: Mirjam Hecht
Druck: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Made in Germany
ISBN PRINT 978-3-948346-00-3
ISBN EPUB/MOBI 978-3-948346-01-0
Widmung
Für Iris, Annelie und Justus
Zitat
»Das Flüstern des Windes, das Rauschen der See
schenken einem das Glück, einfach zu existieren.«
Unbekannt
Heimkehr
Der alte Mann schloss die schwere, gusseiserne Gartenpforte hinter sich und stellte seinen Seesack auf den Boden. Gedankenverloren schaute er auf sein Haus. Vor über sechzig Jahren war er darin geboren worden, doch seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte er nie länger als drei Monate an einem Stück darin gewohnt. Er nannte diesen Ort Heimat. Zuhause. Aber war seine Heimat, sein Zuhause, nicht eigentlich das Meer, auf dem er all die Jahrzehnte verbracht hatte?
Sein Blick fiel auf die verwilderten Rosenstöcke. Er musste sie unbedingt schneiden. Elisabeth hatte sie angepflanzt; das war über dreißig Jahre her. Vor einer Stunde erst hatte er Elli besucht. Auf ihrem Grab stand ein sehr schöner Stein, den das Relief des Vollschiffes Northern Clipper zierte. Das imposante Schiff trotzte darauf Wind und Wellen. Irgendwann würde auch sein Name dort stehen.
Kapitän Johannes Wilhelm Kröger.
Geboren am 5. April 1849. Schmunzelnd erinnerte er sich an seinen Vater, der ein paar Tage, nachdem Hannes zur Welt gekommen war, gebrummt haben sollte: »Erblickt der Bengel doch das Licht der Welt am gleichen Tag, als in der Eckernförder Bucht die Seeschlacht gegen die Dänen ausgetragen wurde. Wenn das kein Zeichen vom Klabautermann ist. Der Bengel wird sein Leben auf dem Meer verbringen, oder die verdammte See soll mich holen!«
Das tat sie auch, von einer seiner vielen Fahrten kehrte er nicht mehr heim. Verschollen im Nordatlantik. Der Alte sollte auch mit seiner Vorsehung recht behalten. Sein Sohn verbrachte ein Leben auf See.
Einen Strauß wilder Margeriten hatte er auf Ellis Grab gelegt. Auch wenn er Elisabeth nur selten zu sehen bekommen hatte, so liebte er sie doch sehr. Immer noch, obwohl der Herrgott sie bereits vor zehn Jahren zu sich geholt hatte.
Verdammte See. Geliebte See. Wie viele Männer sah der alte Käpt’n sterben. Gute und Schlechte, Fromme und Hurensöhne, die See holte sie alle. Nur ihn nicht.
Von Nordwesten her vernahm er die Brandung des Meeres. Sein geliebtes Meer. Sein gehasstes Meer. Die Wellen der Ostsee brausten seit unendlichen Zeiten an den Strand. Aber hasste er das Meer wirklich, war es nicht eigentlich seine größte Leidenschaft, seine allergrößte Liebe?!
Nun gehörte er zum sogenannten alten Eisen. Die letzten Jahre sollte er nun hier verbringen, denn die Reederei schickte ihn in den wohlverdienten Ruhestand. Unwiederbringlich! Kapitän Hannes Kröger. Über fünfzig Jahre auf dem Meer lagen hinter ihm. Er kannte jeden Hafen auf dieser gottverdammten Welt. Von Helsinki bis Yokohama. Von Hamburg bis San Francisco. Jeden Hafen. Jedes Meer hatte er befahren. Jedes. Insgesamt mussten es Millionen von Seemeilen gewesen sein. Nun machte man ihn zur Landratte. Er hatte allen Stürmen und Gefahren getrotzt, mit seinem Probsteier sturen Kopp.
Die Haustür wurde geöffnet, und das holte ihn augenblicklich aus seinen Gedanken. Als er sah, wer ihm dort entgegenkam, musste er lächeln. Schlagartig verflogen die trübsinnigen Gedanken.
»Hannes, mien Jung, da bist du ja endlich.«
Die quirlige Frau wischte ihre Hände an der Kittelschürze ab und stürmte mit offenen Armen auf ihn zu. In ihren Augen sah er Freudentränen. Seine Schwester Mathilde achtete während seiner Abwesenheit auf das Haus. Sie war mit einem Kaufmann verheiratet und wohnte im gleichen Dorf.
»Komm rin, du pensionierter Weltenbummler. Ich hab uns ’ne schöne Tasse Bohnenkaffee gekocht.«
Obwohl klein und pummelig, war sie eine große Menschenseele. Er liebte seine zwei Jahre jüngere Schwester sehr. Insgesamt waren sie einmal neun Geschwister gewesen, von denen nur noch sie beide lebten. Eine Schwester starb bereits im Kindesalter an einer Lungenentzündung. Dazu noch sechs Brüder. Alle fuhren zur See. Alle Kapitäne, wie ihr Vater. Das Meer holte sie sich, einen nach dem anderen.
Mathilde erreichte ihren Bruder, nahm ihn in die Arme und hielt ihn lange fest. Sie weinte vor Glück. Diesen Bruder würde ihr das Meer nicht mehr wegnehmen. Den nicht!
Nach der Begrüßung holte Kröger seinen Seesack und folgte Mathilde ins Haus. Er dachte daran, wie schön es jetzt wäre, wenn Elli aus dem Wohnzimmer auf ihn zukommen würde. Wie oft, und wie lange, sie wohl auf ihn gewartet hatte, all die Jahre, in denen er zur See fuhr.
Kröger ging ins Wohnzimmer. Im ganzen Haus duftete es nach Kaffee und Kuchen. Auf der Fensterbank stand ein Vogelkäfig, in dem ein Kanarienvogel piepste. Elisabeth hatte den Vogel kurz vor ihrem Tod auf dem Markt in Schönberg erworben. Kaum zu glauben, dass der lütte Piepmatz immer noch lebte. Er hieß Tüünbüddel. Elli nannte ihn so, sie hatte ihren Humor niemals verloren. In der Ecke, neben dem Kamin, schlug die große Standuhr einen gleichmäßigen Takt. Das Pendel schwang langsam hin und her. Heimatliche Geräusche. Kröger öffnete das Fenster. Eine Brise zog herein und bewegte die Gardine. Nun konnte er auch wieder das Meer und den Wind hören. Seine Lieblingssinfonie, ohne Takt und Noten.
Neben seinem gemütlichen Lesesessel aus Leder stand ein massiver Holzglobus. Gern drehte Kröger die Erdkugel, ließ sie laufen und tippte blind irgendwo drauf. Er liebte dieses Spiel und ließ ihn auch diesmal kreisen. Sein Finger stoppte den Globus und er landete an der schwedischen Ostküste, direkt neben Gotland. Dort musste die Hafenstadt Oskarshamn liegen, dachte der Käpt’n. Die ganze Welt hatte er auf seinen Reisen gesehen, dort war er allerdings noch nie gewesen.
Den gedeckten Stubentisch zierte ein blau-weißes Meißner Porzellan. Sogar ein Strauß wilder Feldblumen stand dort.
Bedächtig zog er die Taschenuhr aus der Weste, verglich die Zeit mit der Standuhr. Sie ging einige Minuten nach. Egal, das Meer besaß keine Zeit und er benötigte sie nun auch nicht mehr. Sie waren eben beide alt, das Meer und er. Das Meer vielleicht ein wenig älter, dachte Kröger und musste lächeln. Dabei kramte er seine Pfeife aus der Hosentasche, begann sie mit dem wohlriechenden kubanischen Tabak zu stopfen und paffte schon bald blaue Rauchschwaden in den stillen Raum. Mathilde kam herein, stellte eine Kaffeekanne auf den Tisch. Bohnenkaffee, zur Feier des Tages gab es keinen Muckefuck, sondern richtigen Kaffee. Außerdem hatte sie Marmorkuchen gebacken.
Es klopfte und Friedrich kam herein. Friedrich Stoltenberg, Mathildes Ehemann. Ein kugelrunder Mann, mit stets rotem Gesicht, der immerzu lächelte. Eine hol- steinische Frohnatur, mit einem unerschöpflichen Repertoire an Witzen und Anekdoten. Die beiden betrieben einen kleinen Kolonialwarenladen im Dorf, einen sogenannten Tante-Emma-Laden. Während des Kaffeetrinkens erzählten sie Hannes den neusten Dorftratsch. Kröger hörte amüsiert zu. Im Nachbardorf hatte es am vergangenen Samstag eine wüste Schlägerei zwischen Handwerksburschen gegeben. Prügelnde Wandergesellen. Sogar die Büttel aus Schönberg mussten ausrücken. Radelten schnurstracks dorthin, um die Streithähne auseinanderzubringen. Außerdem hatte der alte Schuhmacher Göttsch aus Bendfeld das Zeitliche gesegnet, mit dreiundneunzig, welch biblisches Alter. Mathilde redete und redete. Dorftratsch eben, aber Kröger freute sich darüber.
Als es dunkel wurde, verließen ihn Mathilde und Friedrich. Beide wohnten nur ein paar Häuser weiter die Dorfstraße hinunter. Am nächsten Tag sollte er zum Mittagessen zu ihnen kommen. Mathilde wollte sein Lieblingsgericht kochen. Labskaus, mit allem Drum und Dran.
Nun wurde es still im Haus. Nur Tüünbüddel piepste unermüdlich. Kröger packte seine Tasche aus und machte einen Rundgang durch alle Räume und inspizierte den Garten. Alles in Ordnung. Zufrieden setzte er sich auf die weiße Gartenbank und rauchte.
Ik bün to huus, dachte Kröger. Hannes, du büst to huus!
*
Am Abend aß Kröger den Marmorkuchen. Danach entzündete er den Kamin im Wohnzimmer. Obwohl es in diesem Mai durch die Sonne tagsüber bereits relativ warm wurde, breitete sich abends eine empfindliche Kühle aus. Schnell wärmte das knisternde Feuer den Raum. Kröger setzte sich in den uralten Sessel und legte die Füße auf einen Schemel. Lächelnd bemerkte er, dass sein großer Zeh aus dem Strumpf herausschaute, er musste ihn wohl stopfen. Auf dem Tisch stand eine Flasche Pilsener der Kieler Eiche-Brauerei, die Pfeife qualmte und er öffnete ein Buch.
Die Memoiren des Sherlock Holmes. Ein Sammelband aus dem Jahr 1893, der sogar eine eigenhändige Widmung von Arthur Conan Doyle enthielt. Kröger schmunzelte, als er auf die eigenwillige Handschrift des Schriftstellers blickte. Sofort erinnerte er sich an die Begebenheit, bei der er Doyle kennengelernt hatte. Im Laufe der Jahre waren sie Freunde geworden. Jedes Mal, wenn Kröger in England weilte, besuchte er Arthur in dessen Haus in Crowborough. Leider viel zu selten, denn er schätzte den eigenwilligen Briten sehr, was auf Gegenseitigkeit beruhte.
Unter abenteuerlichen Umständen waren sie sich das erste Mal begegnet. Damals, 1888 in London. Nur mit Schaudern dachte der alte Käpt’n an dieses Ereignis.
1888 – Der Mörder
»Das Leben ist unendlich viel seltsamer als irgendetwas, das der menschliche Geist erfinden könnte. Wir würden nicht wagen, die Dinge auszudenken, die in Wirklichkeit bloße Selbstverständlichkeiten unseres Lebens sind.«
Sir Arthur Conan Doyle, 1859–1930, englischer Romanschriftsteller
Im Herbst 1888 war ich Kapitän einer Dreimastbark mit dem schönen Namen Dagmar Grån. Seit etwa zwei Jahren fuhr ich für eine schwedische Reederei, deren Stammhaus in Malmö lag. Insgesamt segelte ich fünf Jahre auf der Dagmar Grån, einem robusten und schnellen Schiff, das zwanzig Jahre zuvor in Kopenhagen gebaut worden war.
Die Dagmar Grån lag seit knapp einer Woche im Hafen von London, an den sogenannten Docklands wurde sie mit Maschinenteilen für eine Spinnerei in Amsterdam beladen. Höchstwahrscheinlich würden wir in ein bis zwei Tagen die Hauptstadt des britischen Imperiums verlassen und uns auf den Weg über die Nordsee machen, was nun im Herbst manchmal ziemlich ungemütlich sein konnte.
Ich kann mich noch sehr gut an diesen Abend erinnern, den ich bei einem befreundeten Schiffsoffizier in der Buxton Street verbrachte. Er hieß James Taylor. Wir hatten vor einigen Jahren eine Reise nach Singapur zusammen unternommen. Ein prüder Brite durch und durch, aber einer der besten Nautiker, die ich jemals kennenlernte. Vor einem Jahr war er sesshaft geworden, arbeitete nun bei Lloyd’s of London, heiratete seine geliebte Jenny und mittlerweile wirbelte ein zweijähriger Spross namens Henry durch die viktorianisch eingerichtete Wohnstube.
Jennys Kochkünste entpuppten sich als vorzüglich. Die Konversation entwickelte sich kurzweilig und der schottische Whiskey tat sein Bestes dazu. Erst weit nach Mitternacht machte ich mich auf den Weg zurück zum Schiff.
Wieder einmal drang der für London so berühmte Nebel in jede Ritze der Straßen und die Sicht betrug höchstens ein Dutzend Schritte. Von der Themse her wehte ein leichter Wind den Klang von Big Ben Richtung Norden und teilte mit, dass es zwei Uhr in der Nacht schlug. Leider entdeckte ich nirgendwo eine Mietdroschke, also musste ich wohl oder übel zu Fuß gehen und machte mich auf den Weg zur Tower Bridge. Von dort aus wollte ich mir einen der kleinen Kähne nehmen, die rund um die Uhr Fahrgäste beförderten, um mich zur Dagmar Grån bringen zu lassen.
Ich ging die Brick Lane hinunter und wollte durch Whitechapel, Londons Elendsquartiere, hinunter zum Fluss. Angst kannte ich nicht. Mit meinen neununddreißig Lenzen fühlte ich mich, durch die harte Arbeit auf See gestählt, stark wie ein Bulle. Jeden Angreifer würde ich mit meinen Fäusten niederstrecken. Außerdem steckte in meiner dicken Seemannsjacke ein 73er US-Kavallerie-Revolver Marke Colt, den ich mir vor zehn Jahren in San Francisco von einem Chinesen gekauft hatte.
Der Nebel wurde immer dichter. Die Gaslaternen beleuchteten das regennasse Kopfsteinpflaster. Gerade als ich von der Brick Lane in die Hanbury Street abbiegen wollte, drang ein markerschütternder Schrei an mein Ohr. Eine Frau rief um Hilfe, dann wurde es plötzlich mucksmäuschenstill. Ich sah mich um, konnte aber absolut nichts erkennen. Der Schrei kam von rechts, also lief ich los. Jemand brauchte Hilfe und Käpt’n Hannes Kröger war nicht gewillt, sie zu verweigern. Als ich um die Straßenecke lief, prallte ich mit einem Mann zusammen. Er trug einen feinen, karierten Anzug und auf seinem Kopf prangte eine Deerstalker Mütze. Seine dunklen Haare lagen eng am Kopf an, die Oberlippe zierte ein prächtiger Schnauzbart. Ich schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre.
Beim Zusammenstoß verlor der Mann seinen Gehstock und hob ihn nun wieder auf. Er entschuldigte sich für die Kollision, stellte sich als Arthur Conan Doyle vor und fragte mich gleichzeitig, ob ich auch diesen furchtbaren Schrei gehört hätte. Ich bejahte und nannte ihm meinen Namen. Doyle zog erstaunt die Augenbraue hoch, ein Lächeln huschte über sein Gesicht und ihm entfuhr ein »Well, a German!«
Wenn zwei Männer vom gleichen Schlag und von gleicher Ehre sich zum ersten Mal in die Augen blicken, erkennen sie ihre übereinstimmende Gesinnung sofort. So verhielt es sich auch mit Doyle. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und er machte auf mich den Eindruck eines souveränen englischen Gentlemans.
Wir grinsten uns an und beschlossen, der Sache gemeinsam nachzugehen, wollten wissen, was dieser nächtliche Schrei bedeutete, und liefen die Hanbury Street hinunter.
Als wir vor dem Gebäude mit der Nummer 29, einem dreistöckigen Backsteinhaus, verschnauften, hörten wir ein verdächtiges Geräusch aus dem Hinterhof. Es schepperte, als sei ein Blecheimer umgekippt. Zu meinem Erstaunen zog Doyle am Griff seines Stocks. Zum Vorschein kam ein schmaler Dolch, eher ein Stilett von nicht unbeträchtlicher Länge. Ich wiederum zog meinen Revolver, woraufhin der Brite anerkennend durch die Zähne pfiff und abenteuerlustig schmunzelte.
Vorsichtig gingen wir einen schmalen Gang zwischen den Häusern hindurch und kamen in einen verdreckten Hinterhof. Was wir dort im dämmrigen Licht einer Gaslaterne, die nur wenig Licht spendete, erblickten, ließ uns das Blut in den Adern gefrieren. Zwischen mehreren Abfalltonnen lag eine weibliche Person auf den Pflastersteinen. Eine riesige Blutlache umgab die Frau. Die Kehle dieser armseligen Lady war mit einem sauberen Schnitt durchtrennt. Ihre leeren Augen stierten uns an. Wir sahen in ihnen das absolute Grauen, das Gesicht im Todeskampf zu einer Grimasse erstarrt.
Doyle wies auf ihren entkleideten Unterkörper. Der Bauch war aufgeschlitzt. Die Organe lagen über ihrer rechten Schulter. Ich dachte immer, dass ich eigentlich ein abgebrühter Seemann sei, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte, aber was ich hier sah, das erwies sich als furchtbarer, als alle meine Erinnerungen es hergaben. Auch Doyles Blick klebte förmlich mit absolutem Entsetzen auf der Frau.
Ein weiteres Geräusch ließ uns zusammenfahren. Was dann geschah, das passierte so schnell, dass ich kaum noch reagieren konnte. Plötzlich sah ich eine der Mülltonnen auf mich zufliegen. Ich konnte gerade noch meinen Arm hochreißen, um mich zu schützen, aber das Ding traf mich trotzdem mit aller Wucht am Kopf. Mir wurde schwarz vor Augen und ich ließ meinen Colt fallen. Halb benommen ging ich zu Boden, sah zuerst Sterne und Sekunden später dunkle Schatten an mir vorbeihuschen. Ich versuchte, mein Bewusstsein wiederzuerlangen und schüttelte den Kopf. Schwindel und Übelkeit umgaben mich. Schreie, Kampfgeräusche, englische Flüche und auf einmal zwei Schüsse. Nur einen Augenblick später davoneilende Schritte.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dahockte, aber irgendwann drang das schrille Geräusch von Alarmpfeifen an mein Ohr. Englischen Polizisten, die sogenannten Bobbys oder Peelers. Sie riefen sich auf der Hanbury Street aufgeregte Befehle zu.
Jemand berührte mich an der Schulter. Ich blickte auf und sah in Doyles besorgtes Gesicht. Als er bemerkte, dass es mir langsam besser ging, fluchte er und berichtete, dass es ihm beinahe gelungen wäre, den Mörder zu erwischen. Er verfolgte ihn die Hanbury Street hinunter, doch irgendwann entkam dieser Schweinehund in den verwinkelten Gassen von Whitechapel. Doyle meinte, dass er bis auf nur wenige Meter an diesen Teufel in Menschengestalt herangekommen sei, aber dieser löste sich plötzlich in Luft auf, war spurlos verschwunden.
Als nur wenige Augenblicke die ersten Bobbys in den Hinterhof kamen, rissen sie vor Entsetzen die Augen auf. Einer von ihnen musste sich an die Wand stützen, sonst wäre er in Ohnmacht gefallen. Nur Sekunden später erbrach sich der zweite Peeler.
Der Tatort wurde von weiteren Polizisten weiträumig abgesperrt. Einer der Beamten bat uns, mit aufs Polizeirevier zu kommen, um dort unsere Aussagen zu Protokoll zu geben. Dort versorgte uns ein dicker Sergeant mit heißem Tee und einem kräftigen Schnaps. Wir wärmten uns am Ofen, bevor wir dem Polizisten unsere Geschichte erzählten.
Als wir unseren Bericht beendeten, kam ein gut gekleideter, schlanker Mann Mitte vierzig in das Office, dessen Gesicht ein gepflegter Mutton-Chops-Bart zierte. Er stellte sich als Frederick Abberline vor, der Chefinspektor im neu gegründeten Bereich »Ripper Crimes«.
Er bedankte sich für die Hilfe und erklärte Doyle und mir, dass es sich bei der Toten um eine Frau namens Anni Chapman handelte, eine siebenundvierzigjährige Prostituierte und Trinkerin aus dem Elendsviertel Whitechapel. Wahrscheinlich hatte sie in der Nacht nach Freiern Ausschau gehalten und war dabei dem Mörder in die Hände gefallen. Im Laufe des Jahres hatte es bereits mehrere brutale Morde gegeben, die dem an Anni Chapman durch ihre extreme Brutalität glichen. Mittlerweile würde man in ganz London vom Mörder sprechen, der inzwischen als Jack the Ripper bekannt sei. Allerdings verliefen bisher alle Spuren im Sand und die Beamten der Metropolitan Police in Scotland Yard standen vor einer ihrer schwierigsten Aufgaben. Sie mussten diesen Wahnsinnigen dingfest machen; dass es sich dabei um einen Einzeltäter handelte, stand inzwischen fest. Doyle und mir war es fast gelungen, diesen Teufel zu fassen, aber leider entkam er in den nebligen Straßen Londons. Wie sich später herausstellte, mordete Jack the Ripper weiter, wurde aber, trotz intensiver Ermittlungsarbeit durch Frederick Abberline und seinen Beamten, niemals gefasst. Insgesamt gingen fünf gesicherte, höchstwahrscheinlich sogar zehn bestialische Tötungen auf sein Konto. Meistens Prostituierte aus Whitechapel. Bis heute blieb und bleibt Jack the Ripper ein gespenstisches Ungeheuer.
*
Als wir uns von Mr. Abberline verabschiedeten und die Metropolitan Police verließen, schlug Big