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Die tote Schriftstellerin
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Ebook213 pages

Die tote Schriftstellerin

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About this ebook

Anna ist eine Schriftstellerin in mittleren Jahren, die ihre Tochter Berta allein großgezogen hat. Berta ist mittlerweile erwachsen und zerbricht sich den Kopf darüber, ob sie ihren Vater, den sie bisher nur auf einem Foto gesehen hat, kennenlernen möchte. Diese Frage wird umso essentieller für sie, je mehr es in der Beziehung zu ihrem Freund Hans kriselt. Hans arbeitet in einer Fabrik und hat eine jüngere Schwester, Clara, ein Mädchen, das sich von niemandem verstanden fühlt und hoffnungslos in einen Jungen mit einem gelben Motorrad verliebt ist.

Aber vor allem wird die Geschichte von Anna Flieder erzählt, die, als sie sich an ihren ersten autobiographischen Roman wagt, Besuch von der Inspiration höchstpersönlich erhält und zwar in der Form jenes Mannes, den sie vor etlichen Jahren verlassen hat.

“Der Roman beobachtet eine Autorin während des Schreibprozesses. […] Ein Buch für die, die das Lesen lieben und das viel Raum für eigene Interpretationen lässt.” –La Mañana

„Der Roman Die tote Schriftstellerin richtet sich an Leser, die es zu schätzen wissen, wenn sich die Literatur selbst in einem literarischen Werk reflektiert. Darüber hinaus lässt der Roman den Leser in die Charaktere, ihre Gefühle und Lebenssituationen eintauchen, wodurch sich unweigerlich ein Gefühl der Identifikation entwickelt. […] Es handelt sich um einen literarischen Text, der für höchstes Lesevergnügen sorgt, der sich durch eine metaphorische Sprache auszeichnet und mit Bildern spielt, die Szenen des Alltags beleuchten, die das Leben mit all seinen unzähligen Möglichkeiten uns oft nicht wahrnehmen lässt.” –Dr. Alexandra Santos Pinheiro, Resonancias literarias, Nr. 153

„Dieser Roman erzählt die Geschichte der Schriftstellerin Anna und beschreibt zugleich die Welt und das Leben der ihr nahestehenden Personen. Für Anna stellt ihr literarisches Dasein das reale Leben dar und als die Romancharaktere durch ihre Sehnsucht nach mehr Lebendigkeit plötzlich mit ihrer Realität kollidieren, entwickelt sie eine Art Schizophrenie.” –Debbie Garrick, Übersetzerin

Die tote Schriftstellerin ist ein Werk, das nicht nur das Talent der Autorin zeigt, sondern auch belegt, dass diese das Werkzeug jedes Schriftstellers – die Sprache – beherrscht. […] Dieser Roman ist ein scharfsinniges literarisches Artefakt und trifft sicherlich den vielseitigen Geschmack des modernen Lesers.” –Letralia

„Die Autorin Núria Añó entwickelt ihre Erzählung mit Bravour und taucht dabei tief in das Innere des modernen Individuums ein.” –Noury Bakrim, Übersetzer

„Der Roman Die tote Schriftstellerin befasst sich mit dem literarischen Schöpfungsprozess und schildert auf poetisch-düstere Weise die innere Zerrissenheit der Hauptperson Anna, einer Schriftstellerin, die sich an ihren ersten autobiographischen Roman wagt – und sich dabei immer mehr in Erinnerungen und bislang unterdrückten Sehnsüchten verstrickt. Die tote Schriftstellerin ist ein sehr lebenskluges Buch, das von Núria Añós außergewöhnlicher Beobachtungsgabe zeugt und den Leser dazu animiert, eigene Antworten zu finden.” –Sarah Raabe, Übersetzerin

LanguageDeutsch
PublisherBadPress
Release dateSep 17, 2021
ISBN9781071521731
Die tote Schriftstellerin
Author

Núria Añó

NÚRIA AÑÓ is a Catalan/Spanish writer, translator and at international conferences she usually talks about literary creation, cinema, cities or authors. She has shown her work at the University of Lleida, Tunis University, University of Jaén, International University of Andalucia, Spanish National Research Council, The Sysmän Kirjasto Library in Finland, The Shanghai Writers’ Association, Fudan University, The East China Normal University, Sinan Mansion, The Instituto Cervantes in Shanghai, the Conrad Festival, Massolit Books, Bar Baza and the Instituto Cervantes in Krakow. Her works have been translated into Spanish, French, English, Italian, German, Polish, Chinese, Latvian, Portuguese, Dutch and Greek. Her first novel Els nens de l’Elisa (2006) was awarded third prize in the 24th Ramon Llull Novel Award. L’escriptora morta [The Dead Writer] (2008); Núvols baixos [Lowering Clouds] (2009); La mirada del fill (2012) and the biography on Salka Viertel, El salón de los artistas exiliados en California [The Salon of Exiled Artists in California] (2020). Her writing centres around the characters’ psychology, often through the use of anti-heroes. The characters are what stands out most about her work; they are more relevant than the topic itself. With an introspection, a reflection, not sentimental, but feminine, she finds a unique balance between the marginal worlds of parallels. Her novels are open to a wide variety of topics, they deal with important social and current themes like injustice or lack of communication between individuals. The basic plot of her novels does not tell you everything there is to know. By using this method, Añó attempts to involve the reader so that they ask their own questions to discover the deeper meaning of the content. Núria won the 18th Joan Fuster Prize for Fiction, fourth place for international writing at the 2018 Shanghai get-Together and has been awarded with prestigious grants: NVL (Finland, 2016), SWP (China, 2016), BCWT (Sweden, 2017), IWTCR (Greece, 2017), UNESCO City of Literature (Poland, 2018), IWTH (Latvia, 2019) and IWP (China, 2020). For a more detailed background of the author, visit her webpage www.nuriaanyo.com.

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    Die tote Schriftstellerin - Núria Añó

    Núria Añó

    Die tote Schriftstellerin

    übersetzt von Sarah Raabe

    Die tote Schriftstellerin

    von Núria Añó

    Copyright © 2019 Núria Añó

    Die Originalausgabe ercheint unter dem Titel L'escriptora morta © 2008

    www.nuriaanyo.com

    Alle Rechte vorbehalten

    Herausgegeben von Babelcube, Inc.

    www.babelcube.com

    Übersetzt von Sarah Raabe

    www.sarahraabe.com

    Einband Design © 2019 Núria Añó. Foto von Yerson Retamal. Zeichnung von Gordon Johnson

    Babelcube Books und Babelcube sind Schutzmarken der Babelcube Inc.

    Inhaltsverzeichnis

    Title page

    Copyright

    Die tote Schriftstellerin

    Über die Autorin

    Weitere Titel der Autorin

    Der Blick des Sohnes

    Tiefe Wolken

    Der Salon der Exilkünstler in Kalifornien

    Über die Übersetzerin

    Núria Añó

    Die tote Schriftstellerin

    Hans verlässt um halb fünf das Haus. Er trägt eine seiner neuesten Jeans und eine Wildlederjacke, die ihm noch gut passt. Mit grundlos hängendem Kopf und den Händen in den Hosentaschen nähert sich der junge Mann der Wohnsiedlung. Seine Silhouette wird aus einem der Fenster erahnt. Anna springt auf und eilt unverzüglich zur Eingangstür. Hans hat nicht einmal genug Zeit, die Klingel zu betätigen; die Frau war schneller. Nun fordert sie ihn auf, im bequemsten Sessel Platz zu nehmen und ist eifrig darum bemüht, dass er sich wohlfühlt. Sie erklärt, dass Berta sich die Haare trocknet. Während sie spricht, reicht sie ihm ein Glas mit dem Likör, den sie im Grunde genommen nur für diesen jungen Mann kauft. Immerhin werden sie bald Schwiegermutter und Schwiegersohn sein, auch wenn Hans sich noch nicht entschieden hat. Er würde mit diesem wichtigen Schritt gern noch warten, bis er zumindest ein eigenes Auto besitzt, aber die Kosten sind höher, als er dachte. Auch Berta kann sich noch nicht entscheiden. Langer oder kurzer Rock. Mit Wollpullover oder Bluse. Da ist die Schwiegermutter, diese Frau, die Berta ähnelt, nur 26 Jahre älter, und die Hans so viel Aufmerksamkeit entgegenbringt. Danke, Anna, sagt er. Einer dieser Sätze, die ihn besonders wohlerzogen wirken lassen. Aber nicht unverzichtbar. Berta könnte sich auch auf einen anderen einlassen. Dann wäre es vorbei mit den Aufmerksamkeiten, dem Likör, den guten Manieren und dieser Warteszene. Einem unendlichen Warten, das er als einen weiteren Teil dessen akzeptiert, was man Liebe nennt. Zunächst müsste man jedoch begreifen, was Berta zu bieten hat, um zu verstehen, warum Hans diesen Weg ein ums andere Mal zurücklegt. Vielleicht fällt ihm keine bessere Alternative ein und deshalb kehrt er stets zurück, anstatt sein Glück anderswo zu probieren. Hier wird er gut behandelt. Als wäre er hier zu Hause. Was nicht bedeutet, dass man ihn zu Hause gut behandeln würde. Anna schiebt ihm ein Tablett mit Keksen zu. All diese kleinen Aufmerksamkeiten, die sie für den jungen Mann bereithält, könnten den Eindruck entstehen lassen, dass sie selbst es auf Hans abgesehen hat. Vor allem in Momenten wie diesem, als sie ihm einen langen Blick unter einer Schicht flüssigen Eyeliner zuwirft. Eine Situation, die durchaus denkbar wäre, wenn sie nicht in diesem Dorf, sondern in einer anonymen Stadt leben würden.

    Scheinbar wird hier alles durch Berge, Bauernhöfe und den Tratsch, der von Straße zu Straße getragen wird, begrenzt. Großes Straßenfest im Mai. Markttag jeden Montag. Und jeden Morgen mit Espadrilles und dem Korb unter dem Arm spazieren gehen. Manchmal kaufen sie nichts. Sie durchwühlen die Kleidung an einem Stand, als ob sie etwas suchten und nicht fänden. Und alles scheint teurer zu sein, als sie für ein solches Kleidungsstück ausgeben würden. Denn später findet sich irgendein Makel, ein kleiner Schönheitsfehler, der den Wert mindert und auf den sie den Verkäufer lautstark hinweisen. Dennoch gibt es immer jemanden, der ohne Murren kauft. Brünettes, gewelltes Haar, Hände, die einer Schriftstellerin gehören oder zu einem anderen Beruf passen, der nichts mit Feldarbeit zu tun hat. Jemand, der mit großen Scheinen bezahlt. Menschen, die von überallher kommen und sich in einem dieser leerstehenden Häuser verbergen, die dort zur Auswahl stehen. Eins der Häuser benötigt eine Renovierung. Ein anderes müsste umgebaut werden. Vielleicht möchte die Dame, wie hieß sie noch gleich, lieber das Musterhaus für die Reihenhäuser besichtigen. Es liegt in einer erstklassigen Umgebung. Frau Anna Flieder, hier hatten wir bereits die Ehre, einen Dichter unterzubringen, der unsere Landschaft und diese Berge als eine Verlängerung der Erde, die unsere Bewohner mit Gott verbindet, bezeichnete. Er sagte, dass unsere Bewohner mit ihrem Tod den kürzesten und zugleich leidenschaftlichsten Weg ihres ganzen Lebens zurücklegten. Leider war sein Werk nicht besonders umfangreich. Man hört das Rascheln der trockenen Blätter, zahlreiche Blätter, die der Verkäufer und Anna vor langer Zeit auf diesem Weg aufwirbelten. Und hier sehen Sie eine der modernsten Siedlungen, die unsere Agentur zu bieten hat. Ausgezeichnete Verarbeitung. Vorsicht, Stufe. Hier befindet sich das Esszimmer mit zwei Bereichen. Zwei mittelgroße Schlafzimmer. Ein Badezimmer mit Dusche und Türen aus Eichenholz. Was halten Sie davon? Die Fenster sind aus Edelstahl mit Doppelverglasung. Schallisolierte Wände. Derzeit werden Materialien von höchster Qualität verwendet. Ich persönlich sehe Sie schon schreibend an dieser Fensterseite, von der aus Sie den Sonnenuntergang hinter den Bergen betrachten können. Oder hier, in dieser etwas versteckten Nische, die einen Blick auf die Straße und die Nachbarn bietet. Was sagen Sie? Und das Beste haben Sie noch nicht gesehen, ein geräumiges Schlafzimmer, in dem Sie und Ihr Mann, nun ja, Sie verstehen mich schon.

    Anna hatte es eilig, sehr eilig. Eine Eigenschaft, die Berta nicht geerbt hat. Vielleicht war die Unentschlossenheit der Tochter auf die väterlichen Gene zurückzuführen. Anna wusste es auch nicht. Sie hatte ihn doch kaum gekannt. Genauso wenig wie es ihr gelingt, Hans kennenzulernen. Sie weiß, dass er sich für die Jagd interessiert, für Berta, dass er den Haselnusslikör und die Kekse mag, die Anna kauft. Aber wenn dieser junge Mann bei ihnen zu Hause ist, wird nur wenig gesprochen. Anna schaltet den Fernseher ein und ruft nach kurzer Zeit: Unglaublich, wie schnell dieser Leopard rennt! Hans antwortet: Leoparden sind die schnellsten Tiere.

    Nun erscheint Berta, sie durchquert den Raum und setzt sich auf Hans' Schoß, wie Eisen, das von einem Magneten angezogen wird. Erst ein Begrüßungskuss und dann wird sein Hemd begutachtet, obgleich es dasselbe wie letzte Woche ist. Letztendlich spielt das keine Rolle. Denn nun umarmt sie ihn und denkt nicht mehr daran, sondern möchte endlich aufbrechen. Plötzlich streckt Hans eine Hand in Richtung des Tisches aus und Anna reicht ihm sofort die Fernbedienung. Nein, das war es nicht. Anna schiebt ihm das Likörglas zu. Nein, das ist es auch nicht. Hans möchte nur sein Portemonnaie haben, um die zwei Eintrittskarten fürs Kino zu zeigen. Berta wiederum springt auf und holt ihren Mantel. Hans trinkt den letzten Schluck Likör und knöpft seine Jacke zu.

    Der Platzanweiser öffnet den Vorhang und weist ihnen mit einer Taschenlampe den Weg. Sie sehen sich einen dieser Filme an, zu denen sie immer etwas zu spät kommen, was sich nun einmal nicht vermeiden lässt, wenn man hier lebt und kein Auto hat. Außerdem gehört dieser nicht zu den typischen Filmen, die Berta gefallen, so dass sie sich bereits ein Auge zuhält und zu ihrer Linken schielt. Flüsternd fragt sie Hans, aber da zuckt er schon auf seinem Sitz zusammen. Nun kann Berta wieder auf die Leinwand schauen.

    Ein Horrorfilm. Das hat nichts mit Clara zu tun, die unter einer selbstauferlegten Strafe leidet. Venen, die im Licht der Schreibtischlampe schaurig schimmern. Blaue und grüne Blutgefäße, bedeckt von zarter Haut. So zart, dass es ein Leichtes wäre, sie mit einem schnellen Schnitt zu öffnen. Clara hat es nun jedoch nicht mehr so eilig wie noch vor einigen Sekunden, als sie die Schere an der scharfen Seite nahm und sich anschickte, den Akt zu vollbringen. Vielleicht müsste sie vielmehr zu jenem Moment zurückkehren, als sie mit ihrem geliebten Paul sprach, diesem Namen, für den sie Tag und Nacht lebt, während er anscheinend nur zwei Fragen zustande brachte: Clara? Welche Clara?

    Solche Dinge verärgern die Fünfzehnjährige, obgleich die Hand, die nach der Schere greift, nicht besonders entschieden wirkt. Es mangelt ihr noch an Übung und Hartnäckigkeit. Außerdem könnte sie sich zu geschickt anstellen und bei ihrem Versuch sterben. Paul, Paul, Paul, Paul, Paul. Allerdings, wenn er sich noch nicht einmal an sie erinnert – wozu soll das Ganze dann gut sein? So gesehen. Es spielt keine Rolle, aus welcher Perspektive man es betrachtet, sie umrahmt sich weiterhin die Augen, putzt sich die Zähne, benutzt ein Desodorant, wechselt ihr T-Shirt und sucht wieder und wieder den einzigen Ort des Hauses auf, der eine gewisse vertraute Atmosphäre verbreitet, wo sich das Tageslicht hineinschleicht und die Ecken in der Nähe der großen Fenster erhellt. Mit der Dämmerung zieht sich das Licht zurück, während Anna in ihrer Abgeschiedenheit einen Krug mit Wasser füllt und die Pflanzen gießt.

    Berta und Hans betreten soeben die einzige Diskothek des Ortes. War es im Kino schon kaum möglich zu sprechen, würden sie sich nun, auch wenn sie wollten, nicht verstehen. Sie sagt: Irgendetwas mit Cola. Und Hans ruft dem Kellner zu: Nein, nein, ich habe gesagt, mit Cola! Kurz darauf schiebt er ihr das Getränk hin und fragt: Was machen wir, Berta? Und sie, beleuchtet von einem roten Scheinwerfer, antwortet: Wenn du meinst! Ein paar Freunde kommen näher. Es folgt eine Begrüßungsprozedur, Küsse, Umarmungen, danach schütteln die Männer sich die Hände und bleiben zusammen am Tresen. Sie sprechen über dies und jenes, aber die Jagd ist ihr Lieblingsthema. Übrigens, vom 1. Oktober bis zum 15. Dezember. Die Mädchen haben Lust zu tanzen. Berta folgt ihnen. Nach der Art und Weise zu urteilen, wie sie tanzen, scheinen sie in Flirtlaune zu sein. Später laufen sie in einer Reihe zu den Toiletten. Eine zieht einen Lippenstift heraus, schminkt sich nach und fragt dann, während sie sich im Profil betrachtet, die zwei anderen, ob ihr BH durchscheint. Ein anderes Mädchen überprüft sich von der einen, dann von der anderen Seite und stellt fest, dass ihre Strumpfhose eine Laufmasche hat. Früher oder später schaut auch Berta in den Spiegel und hat im ersten Moment nicht das Gefühl, dass das Spiegelbild und sie die gleiche Person sind. Berta macht eine resignierte Geste und der Spiegel antwortet mit der gleichen Grimasse. Sie signalisiert mit der Hand, dass sie den Lippenstift haben möchte. Wenn doch jemand Hans, der sich mit dem Ellbogen am Tresen abstützt und dem Kellner Zeichen gibt, erklären könnte, warum er das Gefühl hat, dass seine Freundin mehr Zeit mit ihren Freundinnen verbringt als mit ihm. Ist der Alkohol schuld daran? Die Musik? Übrigens, wo ist Berta? Hat jemand Berta gesehen?

    Clara, die im gespenstischen Licht einer Laterne steht, welche die Straße kaum erhellt, sieht keine Berta. Sie kann kaum ihren eigenen Schatten erkennen. Ein Schatten, der zunächst hinter ihr liegt und sich, je näher sie der Laterne kommt, langsam vor sie schleicht. Ah, nun wechselt er wieder. Sie bezahlt den Eintritt und bahnt sich zielstrebig ihren Weg. Sie baut sich vor Hans auf und bittet ihn um einen Wodka Lemon, weil sie meint, dass man ihren Bruder schneller bedient. Währenddessen wirft sie einen Blick auf die Tanzfläche und die Sitzbereiche. Paul ist nicht gekommen. Schade um das Geld, das sie soeben für diese Erkenntnis bezahlt hat. Clara sieht ihren Bruder an und obwohl sie ein eigenes Licht zu besitzen scheint, ist da, als er ihr das Getränk zuschiebt, nur noch Finsternis. Hans ist abhängig von Berta, seiner großen Sonne. Berta ist immer noch abhängig von ihrer Mutter. Und Clara hat in diesem Spiel überhaupt keine Bedeutung.

    Könnte jemand Hans darauf aufmerksam machen, dass ihm, während er von seinem zweiten Burger abbeißt, ein Zwiebelstreifen aufs Kinn fällt? Berta greift unter dem Tisch nach seiner Hand. Bald nähert sich der Moment, in dem die drei Paare sich in ein einziges Auto quetschen müssen. So ist es nun einmal, wahre Freunde zu haben. Freunde ohne Geheimnisse, die sich immer mehr ähneln, sobald sie sich der Kleidung entledigen. Egal ob Hans isst, trinkt, zuhört oder spricht, Berta weiß, dass sie später wieder einen kleinen Streit haben werden, so wie jeden Sonntag. Und während Berta ihren heißen Kaffee in der Bar trinkt, fühlt sie vermutlich, wie Hans unter dem Tisch ihre Hand hält. Sie beobachtet ihre Freundinnen, wie diese mit ihren Partnern beschäftigt sind. Mit welcher Ungezwungenheit! Und dann schließt sie die Augen halb, gerade genug, um zu wissen, dass sie lieber nach Hause zurückkehren würde. Einfach den Deckel des Klaviers öffnen und um elf Uhr nachts ein Stück spielen, das sie auswendig beherrscht, ohne nach den Noten suchen zu müssen und ohne ihre Mutter sagen zu hören: Deinetwegen ist mir ein Satz abhandengekommen. Weißt du eigentlich, was es bedeutet, wenn ich in einem solchen Moment den Faden verliere? Und Hans? Hat Hans dich nicht nach Hause begleitet? Aber der junge Mann sitzt noch immer hier, schaut auf seine Armbanduhr und gähnt. Bertas Finger bewegen sich nervös in seiner Hand und scheinbar sind beide verbunden durch eine Melodie, die nicht zum Klingen kommt.

    Typisch für Clara ist, dass – was sie auch tut – niemand auf sie achtet. Sie kann die Diskothek betreten oder wieder verlassen. Noch einmal rein- und wieder rausgehen. Oder zeigen, wie ihre blassen Handgelenke beinahe eine Verletzung erlitten hätten. Eine schlimme Verletzung! Aber abgesehen davon ist alles in Ordnung mit ihr. Weil sie sich ja nicht tatsächlich verletzt hat. Kein Grund zur Sorge, dieses Mädchen sucht nur nach ein bisschen Aufmerksamkeit. Clara gehört zu jenen Menschen, die, wenn sie in der Stadt leben würden, überhaupt nicht auffallen würden. Mit dem einzigen Unterschied, dass, wenn sie dann tatsächlich etwas tun würde, selbst wenn es mitten auf der Straße oder an einer Ampel wäre, die Menschen einfach weiter an ihr vorbeigehen würden. Auf dem Heimweg reibt sie ihre Fingerknöchel an allen Stuckwänden, an denen sie vorbeikommt. Und bevor sie das Licht in ihrem Zimmer löscht, sieht sie nichts als: Kratzer auf der Hand, ein Zimmer voller Poster und diverse Kleidungsstücke, die zusammengelegt werden müssen.

    Noch ein Auto, das in Richtung der Berge davonfährt, sagt einer aus der Siedlung und verfolgt die Strecke mit einem Fernglas. Als das Auto hält, bleiben Berta und Hans sitzen und richten ihren starren Blick auf die Vordersitze. Wenn sie schon selbst nichts tun wollen, könnten sie ihre Plätze zumindest dem Paar überlassen, das rausgehen muss. Aber da ist Berta, die keine Lust hat und der nicht danach zumute ist. Ihr geht es gut auf ihrem Platz. Sitzend und mit Hans an ihrer Seite, der es nun schafft, ihr eine Hand unter den Pullover zu schieben. Nein, sie hält seine Hand fest. Draußen wird der Hintern eines anderen Jungen gegen die Autotür gedrückt, als das Mädchen vor ihm auf die Knie geht. Hans, sagt Berta, als sie sieht, wie der Vordersitz zurückgelehnt wird. Wir hätten nicht mitkommen sollen. Nein?, fragt Hans. Berta möchte nicht. Seltsam, dass sie und ihr Freund einen Platz belegen, den sie nicht verdient haben. Ist da vielleicht jemand, der es gut mit diesen zwei jungen Menschen meint, die einen vortrefflichen Platz geschenkt bekommen haben und sich nun vor dem Frieren fürchten? Berta und Hans verlassen das Auto durch die andere Tür.

    Sie klammert sich an Hans' Hand fest. Auch wenn alles darauf hindeutet, dass das nicht genug ist. Sie verlassen den Weg und nähern sich der Haustür. Berta verabschiedet sich mit einem Kuss und signalisiert: Es tut mir leid, es tut mir wirklich leid. Nun, ihm tut es noch mehr leid, aber er geht dennoch weiter die Straße hinunter. Kurz darauf legt Hans die Schlüssel auf den Tisch im Eingangsbereich. Von dort aus tappt er blind zu seinem Zimmer. Er öffnet und schließt die Tür. Geht ins Bad und kommt wieder heraus. Er stellt den Wecker auf sechs Uhr.

    Es ist Montag. Markttag! An den Ständen werden immer mehr Waren ausgebreitet. Hans, bekleidet mit seiner Arbeitsuniform, mustert das Angebot schon in den frühen Morgenstunden. Später auch Berta, die an der Bushaltestelle wartet und beschließt, einen weiteren Pullover zu kaufen, den sie nie tragen wird. Und Clara, beladen mit ihrer Tasche voller Bücher und Aufzeichnungen, die darauf wartet, dass der zweite Bus sie auf diese unendliche Abfolge von Tagen mitnimmt, während sie die Pullover begutachtet, die immer noch mehr kosten, als sie es sich leisten kann. Dann fällt ihr Blick auf ein Messer. Sie fragt den Verkäufer, ob es schneidet. Der Verkäufer fragt zurück: Ob es schneidet? Wie soll denn ein Messer nicht schneiden! Natürlich kommt es darauf an, was es schneiden soll. Was möchten Sie denn schneiden, junge Dame? Clara gibt keine Antwort. Ihr einziges Transportmittel hat soeben angehalten. Später kommt Anna und fragt, warum der Verkäufer der antiquarischen Bücher schon wieder nicht da ist. Wo er doch sonst immer kam!

    Anna, diese Silhouette, die im Profil betrachtet eine Marmor- oder Steinbüste darstellen könnte, die von einem Künstler aus dem Dorf mit viel Geduld erschaffen wurde. Anna, diese Erscheinung, die auf einer der Bänke in der Siedlung sitzt und in ihrem Büchlein voller Notizen blättert. Heute jedoch streicht sie nur Textpassagen und zerreißt Papier. Sie zeichnet ein M, das sie in der Nähe der Parkbank liegen lässt, auf der sie saß. Dann ein N, das sie auf der Bordsteinkante vor ihrem Haus platziert. Gleich darauf kehrt sie zur Bank zurück. Sie betrachtet eine Wolke, die einen Teil des Bergpanoramas verdeckt. Dann blickt sie zum Dach ihres Hauses. Ein Auto fährt vorbei. Mehrere graue Wolken nähern sich. Anna gähnt und fühlt plötzlich einen Schauder. Sie öffnet ihren Regenschirm und beobachtet, wie beide Papiere, M und N, durchnässt werden. M bewegt sich langsam, einen Moment lang scheint es, als würde der

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