Der Schrei der Amsel
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Wenn ein Familienidyll zum Alptraum wird …
Ein Kind wird im Supermarkt aus dem Kinderwagen entführt. Der Polizei fehlt auch nach der groß angelegten Suche jede Spur. Hannes und seiner Frau Leonie bleiben nichts als Schuldgefühle, ihre Wut und grenzenlose Trauer. Doch während Hannes Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um seine Tochter aufzuspüren, notfalls mit illegalen Mitteln, zieht sich Leonie immer mehr zurück. Hannes weiß, dass die Grauen ihrer Vergangenheit sie noch immer heimsuchen. Aber warum verhält sie sich so merkwürdig? Und warum erzählt ihr kleiner Sohn Jakob auf einmal Dinge, die keinen Sinn ergeben?
Cordula Hamann
Cordula Hamann, geboren 1959, lebt mit ihrer Familie in Berlin und in Spanien. Nach einer juristischen Ausbildung ist sie im Bereich der Immobiliensanierung und -beratung selbständig tätig. Seit 2006 hat sie das Schreiben zum Beruf gemacht. Ihre literarischen Schwerpunkte sind Thriller und Familiendramen. Cordula Hamann ist im Vorstand des Vereins „42erAutoren – gemeinnütziger Verein zur Förderung der Literatur e.V. und Mitglied der „Mörderischen Schwestern“. Homepage von Cordula Hamann (www.cordulahamann.de)
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Der Schrei der Amsel - Cordula Hamann
IMPRESSUM
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Copyright © 2018 by books2read in der
HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Umschlagmotiv: shutterstock_psychocy
Umschlaggestaltung: Deborah Kuschel
Veröffentlicht im ePub Format im 01/2018
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733711689
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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1. KAPITEL
Langsam kam ich zu mir. Ein Infusionsschlauch steckte in meiner Hand, und Conny saß auf einem Stuhl neben meinem Bett. Ich sah mich suchend um. Augenblicklich raste mein Puls. Kurz dachte ich, nicht mehr atmen zu können, als hätte die Wahrheit nur darauf gewartet, mich mit einem harten Schlag auf die Brust aufzuwecken. Ich versuchte, meinen Oberkörper aufzurichten. »Carla«, schrie ich mehrmals.
Conny schnellte hoch und drückte mich sanft zurück in die Kissen. Mitfühlend sah sie mich an und streichelte meine Wange. »Sie werden Carla finden. Sicher war es nur eine verwirrte, harmlose Person. Die Polizei bringt dir dein Baby bestimmt zurück – noch heute Abend.« Sie nahm mich in ihre Arme, und unwillkürlich versteifte ich mich.
Ich verdiente die Fürsorge meiner Freundin nicht, denn ich war nicht einmal in der Lage gewesen, auf mein eigenes Kind aufzupassen.
Mühsam erinnerte ich mich daran, wie ich in unserem Wohnzimmer gestanden hatte. Um mich herum mehrere Polizisten, Hannes, Conny und ihr Mann Robert. Dann war mir schwindlig geworden, und alle hatten plötzlich auf mich eingeredet. Gesichter schauten von oben auf mich herab. Stimmen forderten mich dazu auf, etwas zu sagen.
Ja, was hätte ich sagen sollen?
Mein Baby war nicht mehr bei mir. Es gab nichts mehr zu sagen.
Dann hatte ich meine Umwelt ausgeblendet, hatte nichts mehr gefühlt – und das war eine Erleichterung gewesen. An meine Einlieferung in das Krankenhaus konnte ich mich nicht mehr erinnern.
»Wo ist Hannes?«, brachte ich heraus.
»Die Polizei hat ihn gebeten, zuhause zu warten, falls sich der Entführer meldet.« Conny griff meine Hand und drückte sie sanft. »Aber ich habe gerade mit ihm telefoniert und ihm gesagt, dass es dir besser geht.«
Es ging mir nicht besser. Aber ich wusste, dass sie meinen körperlichen Zustand meinte, und nickte.
Am nächsten Tag schickten mich die Ärzte nach Hause. Ich fürchtete mich. Ich wusste nicht, wie ich weiterleben sollte, aber gleichzeitig nahm mir aber vor, von nun an zu funktionieren. Für Hannes wollte ich das, aber vor allem für Jakob.
Erstaunlicherweise funktionierte ich in den Tagen darauf wirklich, selbst wenn jedes Erwachen mit dem gleichen dumpfen Schlag begann wie im Krankenhaus nach der Ohnmacht. Selbst wenn sich jeder Tag anfühlte wie eine endlose Wanderung im dichten Nebel.
Die Kriminalpolizei kontaktierte uns immer seltener. Meist war es Hannes, der den Kommissar anrief und sich nach den Neuigkeiten erkundigte. Manchmal meldete sich der Kommissar, der unseren Fall bearbeitete, aber auch tagsüber und stellte mir Fragen, bei denen ich mir sicher war, sie bereits mindestens zehn Mal beantwortet zu haben. Schattkowski hieß er und wurde von seinen engsten Kollegen Schatti genannt, wie ich zufällig mitbekommen hatte. Nach ein paar Tagen verstand ich seinen Spitznamen. Obwohl der Kommissar leise und zurückhaltend agierte, war er trotzdem irgendwie ständig präsent. Eben wie ein Schatten. Wie die meisten der Polizisten, die in den ersten Tagen zu ständigen Gästen in unserem Haus wurden, stellte er seine Fragen mitfühlend, vorsichtig und höflich. Dennoch hatte ich jedes Mal das Gefühl, entblößt zu werden, denn es gab nichts, was Hannes und ich nicht vor ihm ausbreiten mussten. Unsere Ehe, das Verhältnis zu unseren Eltern, unseren Freunden, und vor allem unsere Vergangenheit, die jeweils eigene sowie die gemeinsame. Er musste es tun – uns durchleuchten, denn die meisten Verbrechen an kleinen Kindern geschahen im familiären Umfeld.
Aber bei uns gab es keine Schatten, jedenfalls keine, die etwas mit Carla zu tun hatten. Es gab keinen Perversen, keinen Pädophilen, der bei uns verkehrte, keinen Hass untereinander. Hannes war Carla der liebevollste Vater, den ich mir hatte wünschen können. Nach anfänglichen Schwierigkeiten war er das jetzt auch für Jakob, obwohl er nicht sein biologischer Vater war.
Ich konnte dem Kommissar keine anderen Antworten liefern als ich ihm schon gegeben hatte. In meinem Kopf kreisen meine Erzählungen, wie sie der Kommissar und seine Kollegen schon so oft von mir gehört haben.
Es ist früher Vormittag und ich versorge meinen Haushalt, wasche Wäsche, putze … Zwischendurch spiele ich mit Jakob, denn es sind Osterferien und die Kita hat geschlossen. Carla schläft ruhig in ihrem Bettchen.
Plötzlich hören wir Eric, den Nachbarjungen, aufgeregt aus dem Garten rufen.
»Jakob, guck mal, was ich gefunden habe! Komm schnell! Ein Amselküken!«
Jakob sieht mich fragend an, und ich nicke ihm zu, dass er gehen könne. Eric wohnt in der Parallelstraße, und unsere Gärten grenzen aneinander. Er ist Jakobs bester Freund und ich wiederum bin mit seiner Mutter Conny befreundet.
Über das Babyfon höre ich schließlich, dass Carla wach geworden ist und laufe in ihr Zimmer. Ich nehme sie aus dem Bett und lege sie auf den Wickeltisch.
Nach dem Wickeln füttere ich Carla. Dann rufe ich Conny an, ob es okay wäre, wenn sie noch eine Weile auf die Jungs aufpasse, da ich noch gerne einkaufen würde. Wir vereinbaren, dass Jakob zum Abendessen wieder zuhause sein soll. Also spaziere ich mit Carla im Kinderwagen zum Supermarkt.
Gegen vierzehn Uhr treffe ich dort ein und, weil ich so dringend muss, eile ich zur Kundentoilette. Eine automatische Tür trennt einen langen Gang vom Einkaufsbereich. Dahinter befinden sich die Toilettenräume. Da der Vorraum zu den WC-Kabinen dort so winzig ist, lasse ich den Kinderwagen im Gang vor der Tür stehen und beeile mich.
Und nein, ich habe niemanden gehört. Nur das Klappen einer Tür. Da der Gang zu mehreren Räumen führt und auch eine Außentür besitzt, kann ich nicht sagen, welche Tür betätigt wurde.
Ich schreckte hoch. Wieder hatten mich die Erinnerungen an die vielen Verhöre fest im Griff gehabt. Mit dem gefüllten Wäschekorb auf meinem Schoß saß ich auf Jakobs Bett.
Wie lange sitze ich schon hier?
Noch vor kurzem bin ich im Salsa-Takt auf die Wäschespinne im Garten zugetänzelt, habe genau diesen Korb wie einen Tanzpartner an mich gedrückt. Ich hatte gelacht, mit Hannes herumgealbert, Jakob nach dem Aufwachen solange auf den nackten Bauch gepustet, bis er es vor Lachen nicht mehr ausgehalten hatte. Das alles kam mir vor, als läge es Jahrzehnte zurück. Ich konnte mir auch nicht einreden, dass es nur ein böser Traum war, der mein Leben vor drei Wochen aus der Bahn geworfen hatte.
Wo war Jakob? Hatte er eben nicht noch an seinem neuen Schreibtisch gesessen? Bis zu seiner Einschulung im September blieben nur noch rund vier Monate, und er war so stolz darauf, bald ein Großer zu sein. Noch stolzer war er eigentlich nur auf seine Schwester. Ich stand auf und suchte ihn.
Er kniete auf dem Fußboden im Carlas Zimmer. Mit einem Spielzeugauto fuhr er die bunten Kreise im Teppichmuster um sich herum ab. Den Kopf tief gebeugt. Mir kam es in letzter Zeit vor, als ob er schrumpfte, anstatt zu wachsen wie ein normaler Sechsjähriger es tat. Er spielte jetzt öfter im Zimmer seiner Schwester als in seinem eigenen. Diesen Anblick ertrug ich fast nicht.
Ich hatte befürchtet, Jakob könne nach Carlas Geburt eifersüchtig werden. Immerhin hatte die Kleine ihren Vater und ihre Mutter ständig um sich, während er seinen leiblichen Vater höchstens zwei Mal im Monat traf, und das nur, wenn es meinem Exmann zeitlich in den Kram passte. Doch das Gegenteil war eingetreten. Jakob hatte Carla vom ersten Moment an geliebt.
»Hallo, mein Spatz. Magst du mir beim Kochen helfen?«
Jakob hob den Kopf. »Darf ich jetzt Carla nie mehr wickeln, Mama?«
»Klar, darfst du das. Sobald sie wieder zuhause ist. Aber du weißt: nur wenn ich dabei bin. Kommst du?«
Er stand auf und folgte mir in die Küche. Bei der Zubereitung des Essens konnte ich seine traurige Seele schon immer am besten einfangen. Andere Kinder seines Alters saßen vor Zeichentrick- oder Tiersendungen, Jakob sah sich Kochshows an.
Wir schnitten Karotten und Zwiebeln. Danach setzte er sich auf die Arbeitsplatte neben den Herd und sah in den Topf, in dem ich das Gulasch anbriet. »Du musst ein bisschen Wasser zugeben«, stellte er fachmännisch fest.
»Was ist aus dem Amseljungen geworden, das Erik gefunden hat?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Die Katze hat es gefressen. Erik hat nicht aufgepasst.«
Ein Stich ins Herz. Mein Magen verkrampfte sich, und der Geruch des schmorenden Gulaschs verursachte mir beinahe Übelkeit. Rasch wandte ich mich ab.
»Wollen wir noch einen süßen Nachtisch zubereiten?«
»Au ja, Milchreis oder Mandelpudding mit Kirschen.« Er hopste von der Arbeitsplatte, öffnete eine Schranktür und hielt mir erwartungsvoll einen Topf entgegen.
Während Jakob und ich noch werkelten, hörten wir die Haustür. Hannes kam aus der Schule, und Jakob lief in die Diele. Ich wartete am Küchentisch. Als Hannes eintrat, erschrak ich. Er sah schrecklich aus. Bleich, mit dunklen Ringen unter den Augen. Er hatte heute Morgen schon so ausgesehen und gestern und vorgestern. Aber ich erschrak trotzdem jedes Mal aufs Neue. Mein Mann. Schlank, dunkles volles Haar mit ein paar widerspenstigen Lockenansätzen, gut aussehend, ein bisschen kantig, manchmal zu wortkarg, aber mein persönlicher Märchenprinz. Mit seinen fast einen Meter neunzig konnte er mich von oben auf den Scheitel meiner glatten langen Haare küssen. Sein Anblick schmerzte mich ebenso wie vorhin der Jakobs auf dem bunten Teppich in Carlas verwaisten Zimmer.
Ich war schuld, hatte nicht aufgepasst.
Im Amtsdeutsch: Ich hatte meine Aufsichtspflicht verletzt.
Obwohl genau dieser Vorwurf sofort wieder fallengelassen wurde, wie uns der Anwalt mitgeteilt hatte. Eine Notdurft war eben eine Notdurft im wörtlichen Sinne. Wenn ich Carla vor der Tür hätte stehen lassen, um mir Schuhe zu kaufen, säße ich vermutlich bereits auf der Anklagebank.
Wir aßen wieder einmal schweigend. Als ob sich seit jenem Tag keiner von uns mehr traute, über normale Themen unseres Alltags zu sprechen, aus Angst, Carlas Schicksal damit zu verharmlosen. Jakob beobachtete uns abwechselnd, als suchte er nach einem Zeichen. Seine alten Ängste schienen wieder aufgebrochen. Bloß nicht den Stiefvater verärgern. Nur nichts tun, das mich und Hannes zu einem Streit verleiten könnte. Ein Streit um Belangloses. Ein Streit, der nur gezeigt hatte, dass Hannes mit seiner plötzlichen Verantwortung für einen Fünfjährigen heillos überfordert gewesen war, einem Jungen, der seine Mama nicht mit einem Fremden hatte teilen wollen. Erst mit der Hochzeit hatte Jakob sein trotziges Verhalten immer weiter aufgegeben. In seinen Augen hatte Hannes damit ein Band um sein und mein Leben gebunden, auch wenn es noch eine Weile gedauert hatte, bis er darauf vertraute, dass dieses Band auch hielt.
Ich lächelte Jakob aufmunternd zu und konnte es in seinem Gesicht ablesen: Mein Kleiner sorgte sich darum, dass er sich geirrt haben könnte. Ich verstand seine Sorge so gut. Denn seit Carla von einem auf den anderen Tag nicht mehr bei uns war, schien in unserem Leben nichts mehr sicher zu sein.
Als Jakob aufstand und in sein Zimmer verschwand, räusperte sich Hannes.
»Das Essen hat gut geschmeckt.«
»Jakob hat mir geholfen.« Ich lächelte ihn an.
»Ich habe noch mal nachgedacht. Nimmst du dir nicht etwas viel vor, wenn du jetzt schon wieder arbeiten gehst? In der ersten Klasse hat Jakob doch noch nicht so viele Stunden. Und danach müsste er in einen Hort gehen. Oder wie wolltest du das organisieren?«
»Ich habe schon nachgefragt. Es gibt noch freie Plätze. Außerdem will Conny mich unterstützen.«
Jakob kehrte zurück. Seine Mundwinkel zitterten.
»Ich will in keinen Hort. Du hast gesagt, dass du nie wieder arbeiten musst. Du hast es versprochen.«
Er war kurz davor, zu weinen, aber der Zorn hielt die Tränen offenbar noch zurück.
Hannes sah mich an. Ich kannte diesen Blick. Ich habe es dir doch gesagt. Aber dieses Mal stellte er sich auf Jakobs Seite, und die beiden warfen sich verschwörerische Blicke zu. Keinesfalls wollte ich die Eintracht der beiden zerstören.
»Vielleicht brauchen wir den Hort auch gar nicht. Ich könnte Frau Fiedler auch nur in der Zeit betreuen, in der du in der Schule bist.«
Damit trollte sich Jakob wieder. Nur Hannes hatte mich durchschaut.
»Ich will doch nur, dass du dich nicht übernimmst.«
»Du gehst auch in die Schule, sogar mit voller Stelle.« Klang es zu vorwurfsvoll? Jedenfalls stand er auf und begann, den Tisch abzuräumen.
Ich erhob mich sofort. »Das musst du nicht machen.« Ich versuchte, alle Fürsorge in meine Stimme zu legen, zu der ich im Moment fähig war. Er nickte müde. Im Hinausgehen streifte er mit der Hand meinen Rücken. Wie so oft in letzter Zeit, versteifte ich mich unwillkürlich, verstand selbst nicht warum und hoffte, er hätte es nicht bemerkt. Seit Claras Verschwinden fühlte es sich an, als hätten wir die körperliche Nähe zueinander verloren. Dabei sehnte ich mich wie nie zuvor danach, in seinen Armen zu liegen und mich von meinen zermürbenden Gedanken erholen zu können.
Ich ließ das Geschirr stehen und folgte Hannes ins Wohnzimmer, wo ich mich auf die Couch dicht neben ihn setzte. Ich streichelte über seinen Arm, drehte mit einem Finger sein Gesicht zu mir und fuhr sanft darüber. Er wirkte überrascht, aber er lächelte.
2. KAPITEL
»Alles bis auf die Stifte vom Tisch. Ihr habt fünfundvierzig Minuten Zeit.«
Hannes verteilte die Aufgabenblätter der Klausur, bevor er seinen Schülern eine Minute später er das Zeichen gab, die Zettel mit den Mathematikaufgaben umzudrehen und loszulegen. Er selbst setzte sich an den Lehrertisch und griff nach dem Stapel der Klassenarbeiten aus der Fünften, um sie zu korrigieren. Leichte Kost.
Einerseits war er froh, dass keiner seiner Schüler wusste, in welchem Lebensdrama er sich gerade befand. Andererseits zerriss es ihn förmlich, jeden Tag so zu tun, als sei alles in Ordnung. Nichts durfte er vor den Kindern zeigen. Weder seine Wut auf die Polizei noch seine völlige Übermüdung. Im Moment war er so belastbar wie ein morsches Holzbrett. Mit dem Ende der Unterrichtsstunde hatte er noch nicht einmal ein Drittel der Korrekturen für die fünfte Klasse geschafft.
»Du siehst scheiße aus«, stellte Fabian in der großen Pause fest und grinste ihn unsicher von der Seite an. Sie teilten sich heute die Pausenaufsicht, und Fabian war der einzige Kollege, mit dem Hannes reden konnte oder besser gesagt, reden wollte.
»Danke.« Er grinste zurück. »Kein Wunder. Seit Carlas Entführung schlafe ich keine Nacht mehr als zwei oder drei Stunden am Stück.«
Das stimmte. Fast genauso lange lag er dann wach oder tigerte durchs Haus, bevor er sich wieder hinlegte, todmüde und gleichzeitig vom Schlaf so weit entfernt wie sein aktuelles Leben von seinem früheren. Nachts sah er sogar regelmäßig nach Jakob, als wartete da draußen jemand nur darauf, ihm ein Kind nach dem anderen zu rauben. Er war sich sicher, dass Leonie seine nächtliche Unruhe mitbekam, aber sie tat so, als schliefe sie. Im Gegensatz zu ihm litt sie eben leise und ohne Bewegung.
»Lass dich doch krankschreiben. Du hast allen Grund der Welt.«
»Ich will nicht zuhause herumsitzen, sondern Carla suchen. Jeder Tag, den sie in den Händen …« Er brach ab, weil er nicht wusste, in wessen Händen Carla war. Und er mochte es sich auch nicht vorstellen. Wenn er das tat, dann konnte er überhaupt nicht mehr klar denken. Die Polizei glaubte nicht mehr an eine Entführung, die gut ausgehen könnte. Vielleicht sei etwas schiefgelaufen, weshalb es keine Kontaktaufnahme gegeben hatte. Eine gescheiterte Entführung. Was das bedeutete, konnte sich jeder vorstellen. Selbst Fabian, der ihn jetzt mit schräggestelltem Kopf und diesem einfühlsam abwartenden Blick ansah, den er sich angewöhnt hatte, seit er neben Philosophie auch Ethik unterrichtete. Nur niemals eine Lebensweisheit herausposaunen. Bloß keinen Ratschlag geben. Nur vorsichtig hinterfragen. Sein Gegenüber alles selbst herausfinden lassen. Bisher war das kein Problem zwischen ihnen gewesen. Im Gegenteil: Sie hatten über ihre unterschiedlichen Denkweisen ihre Späßchen gemacht. Hannes fühlte sich in diesem Moment wie einer von Fabians Schülern.»Dann nimm Urlaub, notfalls eben unbezahlten. Ihr hättet Zeit, euer Leben wieder in den Griff zu bekommen«, schlug Fabian vor.
Hannes lachte kurz auf. »Super. Ich nehme Urlaub, und Leonie will gerade wieder arbeiten gehen.«
»Es geht ihr also besser«, stellte Fabian aufmunternd fest.
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Warum nicht?«
»Niemand sieht Leonie wirklich an, wie es ihr geht. Selbst ich nicht«, antwortete er. »An jenem schrecklichen Nachmittag, als Carla verschwand, hatte sich Leonie scheinbar besser im Griff als ich. Bis sie ohne jede Vorwarnung einfach umgekippt war. Ich konnte sehen, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. Wenn unser Nachbar Robert nicht da gewesen wäre, er ist Arzt, wer weiß …« Wieder brach er ab, als könne er überhaupt keine Sätze mehr vernünftig zu Ende bringen. Aber diese Nacht war die Schrecklichste seines Lebens gewesen. Seine Kleine in den Händen von Verbrechern, Leonie mit einem Schock auf der Intensivstation und er und zwei Polizisten neben einem Telefon, das einfach nicht hatte klingeln wollen. Auch keine Mail, keine WhatsApp-Nachricht, keine SMS, kein Anruf auf dem Handy.
Eine Weile saßen Fabian und er schweigend nebeneinander auf einer Bank und beobachteten den lautstarken Trubel der Schüler.
»Es kann doch nicht sein, dass es auch nach vier Wochen noch immer keine Spur von Carla gibt«, sagte Hannes und war sich bewusst, wie zittrig seine Stimme gerade klang.
Fabian legte beruhigend seine Hand auf Hannes Oberarm.
Das war gut gemeint, und Hannes mochte Fabian. Aber verdammt noch mal, Fabian konnte nicht wissen, was jetzt gut für ihn war. Wie denn auch? Seine Tochter war nicht verschwunden. Fabian hatte noch nicht einmal ein Kind.
Ein Klingeln läutete das Ende der großen Pause ein. Ein kurzes Schulterklopfen, ehe Fabian im Inneren des Gebäudes verschwand. Hannes hätte ihm folgen sollen, um ins Lehrerzimmer gehen und den Unterricht nach der Freistunde, die er gerade hatte, vorzubereiten. Stattdessen blieb er auf der Bank sitzen und starrte auf den leeren Schulhof.
Fuck you, teacher hatte jemand mit Edding auf einer der Holzplanken der Sitzfläche geschrieben. Fuck you too hätte Hannes am liebsten dazu geschrieben.
Schließlich stand er auf. Doch anstatt ins Lehrerzimmer zu gehen, klopfte er an die Tür zum Sekretariat.
»Ich möchte unbezahlten Urlaub beantragen. Was muss ich dafür tun?«, fragte er die Schulsekretärin.
»Herr Meister, warum lassen Sie sich nicht krankschreiben? Das gesamte Kollegium steht hinter Ihnen und Ihrer Frau. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie …«
»Ich bin nicht krank«, unterbrach er sie. »Meine Prioritäten haben sich nur gerade erheblich verschoben.«
Er konnte ihren mitleidigen Blick kaum ertragen. Sie sah ihn an, wie es alle Personen in seinem direkten Umfeld seit vier Wochen taten. Aber er brauchte kein Mitleid. Er wollte handeln, und zwar sobald wie möglich. Anderenfalls würde ihn die Ungewissheit um Carlas Schicksal mit der Zeit zerfressen.
3. KAPITEL
Der Fernseher blieb seit jenem Tag ausgeschaltet. Stattdessen hatten wir uns angewöhnt, nach dem Abendessen eine halbe Stunde gemeinsam auf der Couch im Wohnzimmer zu sitzen. Es tat mir gut. Anschließend kehrte ich in die Küche zurück und räumte auf. Danach kontrollierte ich,