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Dein Tod komme: Kriminalroman
Dein Tod komme: Kriminalroman
Dein Tod komme: Kriminalroman
Ebook541 pages6 hours

Dein Tod komme: Kriminalroman

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About this ebook

Greenbury, New York: ein strahlend schöner Tag, wie gemacht für einen ruhigen Waldspaziergang. Doch plötzlich wird Rina Deckers Harmonie jäh gestört - tief im Wald stolpert sie über die verscharrten Überreste eines Menschen. Sofort benachrichtigt sie ihren Mann, Peter, der nach Jahren als Detective für das LAPD nun bei der örtlichen Polizei aushilft. Er stellt schnell fest, dass es sich bei den Leichenteilen um eine Studentin eines nahen College handelt. Weiteres ergeben seine offiziellen Ermittlungen nicht. Rina, die als Dozentin dort arbeitet, sieht sich gezwungen, selber nach der Wahrheit zu suchen und begibt sich dadurch in höchste Gefahr ...

Faye Kellerman ist einfach eine exzellente Autorin."
The Times

"Ein flüssig geschriebener Roman von einer erstklassigen Schriftstellerin. Die Handlung sehr durchdacht geschildert und mit einem exzellenten Spannungsbogen versehen. Glückwunsch."
Magazin Köllefornia

LanguageDeutsch
PublisherHarperCollins
Release dateFeb 5, 2018
ISBN9783959677431
Dein Tod komme: Kriminalroman
Author

Faye Kellerman

Faye Kellerman lives with her husband, New York Times bestselling author Jonathan Kellerman, in Los Angeles, California, and Santa Fe, New Mexico.

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    Book preview

    Dein Tod komme - Faye Kellerman

    HarperCollins®

    Copyright © 2018 by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH

    Titel der amerikanischen Originalausgabe:

    Bone Box

    Copyright © 2017 by Plot Line, Inc.

    erschienen bei: William Morrow,

    an Imprint of HarperCollins Publishers, US

    Published by arrangement with

    HarperCollins Publishers L.L.C., New York

    Covergestaltung: bürosüd, München

    Coverabbildung: Neil Alexander/Arcangel}

    Redaktion: textmenschen.de

    ISBN E-Book 9783959677431

    www.harpercollins.de

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    Widmung

    Für Lila, Oscar, Eva und Judah

    und zum ersten Mal auch für Masha

    Und wie immer für Jonathan

    KAPITEL EINS

    Das Auge sieht, was es sehen will – und manchmal auch das, was es nicht sehen will.

    Der Spätsommer in Upstate New York war dieses Jahr wunderschön: warm, aber nicht zu heiß, und auch die Luftfeuchtigkeit hielt sich in Grenzen. Hier, tief im Wald, blitzte der strahlend blaue Himmel durch das dichte grüne Blätterdach. Überall summte und brummte es, die Vögel sangen. Ein herrlicher Tag, der noch dem größten Miesepeter ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnte. Rina hielt auf dem Weg inne. Ein Hauch von Herbst lag in der Luft, und auf diesen würde ein kalter Winter folgen. Als sie und Decker noch in Los Angeles gewohnt hatten, hätte sie sich niemals getraut, alleine eine Wanderung zu unternehmen. Aber Greenbury war eine Kleinstadt, und allein schon deshalb fühlte sie sich sicher.

    Einen Rucksack auf dem Rücken, folgte Rina dem markierten Pfad. Der Handyempfang war bestenfalls sporadisch, und als sie noch tiefer in den Wald gelangte, hatte sie fast gar kein Netz mehr. Hier war es ein wenig kühler, und die Bäume standen dichter. Die ersten Eichen und Ahorne verfärbten sich bereits und gaben einen kleinen Vorgeschmack auf die herbstliche Farbenpracht. Rina liebte diese Jahreszeit ganz besonders. Auf ihrer Wanderung bewunderte sie, wie das Sonnenlicht auf dem Waldboden funkelte und die Kontraste von Hell und Dunkel stärker hervortreten ließ. Ein atemberaubendes Naturschauspiel wie auf den Bildern von Ansel Adams. Das musste sie unbedingt festhalten.

    Rina setzte den Rucksack ab und holte ihr Handy und eine Tasche mit Kameraaufsätzen heraus. Handys waren deshalb so praktisch, weil man nahezu unbegrenzt Aufnahmen machen, sie speichern und auch wieder löschen konnte.

    Da sie den Bogat-Wanderweg schon mehrmals gegangen war, kannte sie das Gelände gut. Jedes Mal, wenn sie hier Fotos machte, suchte sie sich ein neues Motiv. Letzten Monat waren es Insekten gewesen: Sie hatte über hundert Aufnahmen von Käfern, Spinnen, Schmetterlingen und anderen Fluginsekten gemacht. Heute wollte sie sich an etwas Größeres wagen, und zwar an die eindrucksvollen, hoch aufragenden Bäume und das Spiel von Licht und Schatten. Sie fand genau das, was ihr vorgeschwebt hatte, in Gestalt einer riesigen alten Eiche mit einem gewaltigen Stamm und Blättern, die in der leichten Brise schimmerten wie Sonnenlicht auf den sanften Wellen eines Sees. Dummerweise lag die Eiche jedoch ein Stück abseits des Wegs. Rinas Smartphone hatte zwar einen Zoom, aber sie wollte lieber eine Aufnahme aus nächster Nähe.

    So weit ist es nicht, versuchte sie, sich Mut zu machen. Trau dich einfach.

    Zuerst notierte sie sich jedoch ihre Koordinaten mithilfe eines altmodischen Kompasses. Hier im Wald konnte man sich leicht verirren, denn alles ringsherum sah gleich aus, tiefgrün und üppig wuchernd. Als sie sich der Eiche näherte, war Rina jedoch schon wieder etwas weniger mulmig zumute, denn vor ihr lag eine Lichtung, und auch der Handyempfang schien etwas besser geworden zu sein.

    Abseits des Wegs musste sie besonders achtgeben, um nicht zu stürzen, denn der Untergrund war von dicken Baumwurzeln und Felsbrocken durchzogen. Während sie sich Schritt für Schritt vorarbeitete, sah sie sich um, bis sie schließlich eine gute Stelle für das Foto gefunden hatte. Um den perfekten Bildausschnitt zu finden, wechselte sie mehrfach die Position. Der Boden fühlte sich weich und nachgiebig an, was seltsam war, da es in den letzten Wochen nicht geregnet hatte.

    Rina machte einen großen Schritt nach hinten, um auf den Baum scharfzustellen, als es plötzlich unter ihrem Schuh knackte. Sie sah hin und dachte zuerst, sie sei auf einen Zweig getreten. Dann wurde ihr klar, dass es sich um etwas anderes handelte, doch sie war so perplex, dass sie einen Moment brauchte, bis sie begriff, was sie da sah.

    Eine skelettierte menschliche Hand.

    Es war schon mehrere Stunden her, seit Rina das letzte Mal etwas gegessen hatte, aber jetzt wurde ihr übel, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Ihr Herz raste, und ihr wurde schwindelig. Irgendwie gelang es ihr, sich auf den Beinen zu halten, aber sie bekam kaum noch Luft. Sie musste sich gut zureden, um nicht vollends in Panik zu verfallen.

    Die Knochen sind alt, Rina. Hier ist niemand. Du bist in Sicherheit.

    Sie presste sich die Hand auf den Mund und versuchte, sich zu beruhigen.

    Geh zurück zum Weg.

    Nicht rennen. Normal gehen.

    Dann hörte sie im Kopf die Stimme ihres Mannes:

    Aber zuerst musst du deinen Fund dokumentieren.

    Das Objektiv hatte sie ja bereits aufgesteckt.

    Den schrecklichen Fund durch eine Linse gefiltert zu betrachten machte die Sache etwas erträglicher. Sie fotografierte nicht nur die Hand, sondern auch deren unmittelbare Umgebung. Als sie immer unruhiger wurde, hörte sie auf, nahm das Objektiv ab und packte es weg. Dann wählte sie die Handynummer ihres Mannes. Sie erreichte jedoch nur seine Mailbox.

    Rina zog den Kompass aus der Tasche und bahnte sich langsam einen Weg hangabwärts, zurück zum Ausgangspunkt ihrer Wanderung. Dabei versuchte sie immer wieder, Decker zu erreichen.

    Kein Netz.

    Macht nichts, zumindest bist du jetzt wieder auf dem markierten Weg.

    Einen Fuß vor den anderen.

    Nicht rennen. Normal gehen.

    Es hätte ein perfekter Tag werden sollen, doch hatte er sich in einen Albtraum verwandelt. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Selbstmitleid.

    Denn hier, mitten in diesem unwegsamen Waldgebiet, hatte jemand anderes etwas unfassbar viel Schlimmeres erlebt.

    Da Rina nach wie vor nur Deckers Mailbox erreichte, versuchte sie es bei seinem Partner Tyler McAdams, der ihrem Mann hin und wieder bei der Aufklärung von Verbrechen zur Seite stand – die in einer so kleinen Stadt wie Greenbury recht selten waren. Als Tyler sich meldete, schilderte Rina ihm, was passiert war. Seine erste Reaktion war: »Wo, zum Teufel, ist der Bogat-Weg?«

    »Du hast doch ein Jahr lang hier gelebt!«

    »Eigentlich zweieinhalb, aber egal. Hast du mich schon mal in Goretex-Klamotten gesehen?«

    »Nicht dass ich wüsste.«

    »Eben, und mit Kaschmir bleibt man immer an den Ästen hängen … Meine Wanderwege führen von der juristischen Fakultät zur Widener-Bibliothek. Also noch mal: Wo ist dieser Bogat-Weg?«

    »Ruf einfach Peter an, und sag ihm, ich sitze in meinem Auto auf dem Wanderparkplatz. Er weiß, wo das ist. Sag ihm, er soll mich anrufen. Ich kann ihn nicht erreichen, und mittlerweile hab ich ihm so oft draufgesprochen, dass seine Mailbox voll ist.«

    »Er ist gerade in einem Meeting mit Radar und dem Disziplinarbeauftragten von einem der Colleges. Gestern Abend gab’s Ärger in einer Kneipe in der Stadt: Es kam zu einer Schlägerei, dabei ging ein Fenster zu Bruch. Der Besitzer ist stinksauer.«

    »Dabei hat das Semester doch gerade erst angefangen.«

    »Genau das ist das Problem. Rühr dich nicht vom Fleck, Rina. Ich sag Peter sofort Bescheid.«

    Kurz darauf kam Decker an den Apparat.

    »Herrgott noch mal, was machst du ganz allein auf dem Bogat-Weg?«, polterte er.

    Rina holte tief Luft. »Die Wanderung hab ich schon zigmal allein gemacht.«

    »Na, mir hast du jedenfalls nie was davon erzählt.«

    »Doch, hab ich, aber es hat dich nicht gestört, weil ich noch nie menschliche Überreste gefunden habe.«

    Decker schwieg. Dann presste er zwischen den Zähnen hervor: »Fahr nach Hause. Wir reden später drüber.«

    »Ich bleibe hier, schließlich muss ich dir zeigen, wo es war. Ich habe mir die Koordinaten von meinem Kompass aufgeschrieben.«

    »Dann kann ich die Stelle auch ohne dich finden. Fahr jetzt bitte nach Hause.«

    Rina seufzte. »Schatz, ich weiß, du bist sauer, weil du dir Sorgen um mich machst, aber ich kann nichts dafür, dass ich die Knochen gefunden habe. Hier geht’s gerade nicht um mich.«

    Decker dachte nach. »Du hast recht. Und du bist sicher, sie stammten von einem Menschen?«

    »Das waren ganz sicher menschliche Fingerknochen, es sei denn, hier gibt’s Affen.«

    »Geht’s dir gut?«

    »Nein, aber danke der Nachfrage.« Rina spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. »Komm einfach, so schnell du kannst.«

    »Ich mach mich sofort auf den Weg. In ungefähr zwanzig Minuten bin ich bei dir.«

    »Kommt Tyler mit?«

    »Ich denke schon.«

    »Dann fahr du, er hat keine Ahnung, wo der Bogat-Weg liegt.«

    »Es tut mir so leid, Rina. Das muss schrecklich gewesen sein.«

    »War’s auch, aber wenigstens hyperventiliere ich mittlerweile nicht mehr …« Sie überlegte. »Ich hab Fotos gemacht.«

    »Fotos? Von den Knochen?«

    »Ja, und von der unmittelbaren Umgebung. Nach dem anfänglichen Schock dachte ich: Jetzt kannst du auch was Nützliches machen.«

    »Sind da noch andere Leute unterwegs?«

    »Keine Menschenseele, aber mir kann nichts passieren. Ich sitze im Auto und esse ein Thunfischsandwich. Die Fenster sind nur einen Spalt offen, und ich hab die Türen verriegelt.«

    »Mach am besten auch die Fenster zu.«

    »Erst nach dem Thunfisch. Aber bleib dran, und rede weiter mit mir.«

    »Natürlich. Wir gehen gerade zum Auto. Ist dir zufällig noch was anderes aufgefallen, als du da draußen warst?«

    »Wie zum Beispiel die Mordwaffe? Nein. Wie lief’s denn bis jetzt bei dir? Von der demolierten Kneipe hab ich schon gehört.«

    »Dumme Jungs. Davon abgesehen gab’s nichts Weltbewegendes.«

    »Wie bei mir – bis auf das jetzt.«

    »Was hast du überhaupt da oben im Wald gemacht?«

    »Den herrlichen Tag genossen. Ich hatte eine riesige Eiche gefunden und wollte ein paar Aufnahmen machen. Oh, gleich wirst du ziemlich viele Eichen-Bilder sehen … Da war übrigens kein Verwesungsgeruch, Peter. Was da auch vergraben ist, es ist schon vor langer Zeit verrottet. Wie lange dauert eigentlich der Verwesungsprozess bei einer Leiche?«

    »Bei milden Temperaturen Wochen. Länger, wenn der Boden gefroren ist, aber wir hatten schon seit Monaten keinen Frost mehr.«

    »Also liegt die Leiche schon länger dort?«

    »Keine Ahnung. Es gab in letzter Zeit keine Vermisstenmeldungen, aber ich seh später im Archiv nach. Vielleicht sind hier im Ort irgendwann mal Mädchen verschwunden. Ich lasse jetzt den Motor an und schalte mit Bluetooth auf die Freisprechanlage um. Kann sein, dass ich kurz weg bin.«

    Gleich darauf war die Verbindung wieder da.

    »Bist du noch dran, Rina?«

    »Ja.«

    »Hallo, Rina.«

    »Hallo, Tyler. Danke, dass du Peter Bescheid gesagt hast.«

    »Na klar doch. Wie geht’s dir?«

    »Besser als bei unserem Telefonat vorhin. Fordert ihr die Spurensicherung an?«

    »Mike Radar ist schon dabei, ein Team aufzustellen«, meldete sich jetzt Decker. »Er kümmert sich um den Coroner, und je nachdem, wer Dienst hat und wie weit er oder sie anreisen muss, sollten wir in ein paar Stunden alle vor Ort haben. Es ist noch eine ganze Weile hell.«

    »Ich bin unterwegs an einer wunderschönen Wiese vorbeigekommen«, sagte Rina. »Es blühte noch alles. Jetzt werden sie den Weg wahrscheinlich für einige Zeit sperren. Wie traurig. Na ja, viel trauriger natürlich für die Person, die da oben verscharrt ist. Was rede ich denn für ein wirres Zeug? Ich muss wohl noch ein bisschen durcheinander sein.«

    »Ich bin ja schon durcheinander, und ich bin noch nicht mal vor Ort«, kommentierte McAdams.

    »Sagt der Mann, der zweimal angeschossen wurde.«

    »Ach, Schnee von gestern …«

    Rina musste lachen, »Bleib einfach dran, bis ihr hier seid.«

    Das sagte sie jetzt zum zweiten Mal, also hatte ihr die Sache mehr zugesetzt, als sie zugeben wollte. Decker sagte versöhnlich: »Entschuldige noch mal, wenn ich vorhin ruppig zu dir war. Mich hat nur der Gedanke erschreckt, du ganz allein da oben im Wald, meilenweit von jeglicher Zivilisation.« Als Rina kicherte, brummte Decker: »Was ist daran so witzig?«

    »Ach, ich musste nur gerade denken: Trotz der Grimm’schen Schauermärchen ist es im finstern Tann vermutlich immer noch sicherer als in der sogenannten Zivilisation.«

    Die Techniker von der Spurensicherung mussten auf Hand-Werkzeuge und Bürsten zurückgreifen, um die fragilen Knochen nicht zu beschädigen. Nach kurzer Zeit traten die Umrisse einer skelettierten Leiche aus der Erde hervor. Decker unterhielt sich mit dem Coroner, einem Mann um die vierzig, der im fünfzehn Meilen entfernten Hamilton Hospital arbeitete. Er hieß Jerome Donner und stellte hauptsächlich Totenscheine für Leute aus, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Er war nicht die ideale Wahl, aber da Greenbury nicht in der Nähe von Boston oder New York lag, hatte man so kurzfristig niemand Erfahreneres auftreiben können.

    »Bislang habe ich kein Weichteilgewebe entdeckt, aber Haare und Nägel sind noch vorhanden. Die werden wesentlich langsamer zersetzt.«

    »Lange dunkle Haarsträhnen. Weiblich?«

    »Die Körperhaltung der Leiche lässt keine Rückschlüsse zu. Ich kann erst etwas dazu sagen, wenn ich sie bei mir im Labor habe.«

    Die Leiche war in Embryonalhaltung zusammengekrümmt. Ungewöhnlich für eine vergrabene Leiche, aber so brauchte man keine große Grube auszuheben.

    Donner wandte sich an Rina: »Ihnen ist also nicht sofort aufgefallen, dass da eine Hand aus dem Boden ragt?«

    »Nein. Ich habe einen Schritt zurückgemacht, dann knackte es, ich sah runter – und da waren die Finger.« Rina verzog das Gesicht. »Tut mir leid, falls ich den Tatort durcheinandergebracht habe.«

    Decker trat zu seiner Frau und legte ihr den Arm um die Schulter. »Warum bist du eigentlich noch hier?«

    »Weil ich hier sein will.« Rina sah wie gebannt in das geöffnete Grab. »Können Sie schon abschätzen, wie alt das Skelett ist?«

    »Nicht ohne Weiteres«, entgegnete Donner. »Dazu kann ich hoffentlich etwas sagen, sobald wir es im Leichenschauhaus haben. Da sind Haare, sehen Sie. Abgestorbene zwar, aber zumindest haben wir einen Anhaltspunkt bezüglich Haarlänge und – farbe.«

    »Also vermutlich eine Frau«, folgerte Decker.

    »Ja.« Der Coroner sah zu den beiden auf. »Ist das bei so was nicht meistens der Fall?«

    Decker zuckte nur die Achseln. »Wenn erst die sterblichen Überreste gesichert sind, sehen wir uns genauer um und schauen mal, was wir sonst noch finden können.«

    »Zum Beispiel eine Handtasche mit Ausweisen?«, fragte Donner.

    »Schön wär’s.«

    »Frei herumliegendes Papier wäre längst abgebaut, aber bei Papier in einer Handtasche oder einem Portemonnaie würde es länger dauern. Selbst wenn wir keine Ausweise finden, vielleicht liegt ja irgendwo ein Stückchen Stoff von einem Kleidungsstück.«

    »Wie lange dauert es, bis Kleidung vollständig verrottet ist?«, fragte Rina.

    »Bei Kunststoffgeweben ziemlich lange. Wenn die Leiche eine Geldbörse aus Plastik besaß, haben wir gute Chancen.«

    McAdams trat zu ihnen. »Hier gibt’s so gut wie keinen Empfang, aber jetzt hab ich endlich Kevin erreicht. Er wird sich die Unterlagen aller Vermisstenfälle der letzten fünf Jahre raussuchen. Ich hab ihm gesagt, es kann sich sowohl um eine Frau als auch einen Mann handeln, aber bei der Haarlänge ist eine Frau wahrscheinlicher.«

    Decker nickte. »Das Opfer könnte aus Greenbury stammen, aber auch von irgendwo anders. Die Gegend hier ist der perfekte Ablageplatz.«

    »Aber die Leiche wurde nicht ›abgelegt‹, jemand hat sie vergraben«, korrigierte ihn McAdams. »Jemand hat Stunden damit zugebracht, ein tiefes Loch auszuheben, sie reinzulegen und alles säuberlich wieder zuzuschütten.«

    »Wenn das kein geplanter Mord war, hätte der Mörder sich dann die Mühe gemacht, ein Grab für sein Opfer zu schaufeln?«, fragte Rina.

    »Klar, wenn er seine Tat verbergen wollte und genug Zeit hatte«, antwortete Decker. »Manche Täter turnt so ein Begräbnis richtig an. Aber ich weiß, worauf du hinauswillst: Der Mörder war vielleicht jemand aus dem näheren Umfeld des Opfers und fand es pietätlos, die Leiche einfach so herumliegen zu lassen.«

    »Können Sie schon sagen, wie das Opfer umgekommen ist?«, fragte Tyler den Coroner.

    »Nein.«

    »Wie lange wird es schätzungsweise dauern, das ganze Skelett auszugraben?«

    »Wir werden die ganze Nacht damit beschäftigt sein.«

    Decker drehte sich zu Rina um. »Ich bring dich zum Auto.«

    »Klar. Hast du Lust auf mein zweites Thunfischsandwich? Könnte sogar sein, dass noch zwei übrig sind. Auf eine Wandertour nehme ich mir immer richtig viel Proviant mit.«

    »Die Sandwiches nehm ich gerne, aber das mit dem Wandern solltest du im Moment lieber lassen.«

    »Ist ja eh bald Winter.«

    »Komm, Schatz.«

    Auf dem Weg zum Auto unterhielten sich die beiden über Belanglosigkeiten. Dann herrschte einen Moment Schweigen, bis es aus Rina herausplatzte: »Sie könnte Studentin an einem der fünf Upstate-Colleges gewesen sein. Wie weit ist es bis zum Campus, etwa ’ne Viertelstunde mit dem Auto?«

    »Wenn’s hochkommt.« Decker dachte nach. Schließlich fragte er: »Kennst du jemanden, der schon länger an einem der Colleges arbeitet und sich an eine Studentin erinnern könnte, die vielleicht schon vor Jahren verschwunden ist?«

    »Tilly Goldstein ist seit über zwanzig Jahren die Verwaltungsleiterin des Hillel.«

    »Wie alt ist sie?«

    »Ende fünfzig. Soll ich sie mal nach vermissten Studentinnen fragen?«

    »Warum nicht. Sie wird wissen wollen, warum dich das interessiert. Du kannst ihr von dem Skelettfund erzählen, aber bitte sie, es einstweilen für sich zu behalten. Und frag auch niemand sonst. Ich muss im Auge behalten, wen wir alles einbeziehen.«

    »Na klar. Ich ruf sie an, sobald ich zu Hause bin.«

    »Danke.«

    »Kann ich sonst noch irgendwas für dich tun?«

    »Da gäbe es so einiges, aber das geht nicht, wenn so viele Leute in der Nähe sind …«

    Rina musste ein Grinsen unterdrücken und versetze Decker einen spielerischen Hieb.

    »He!«

    »Was?«

    »Das bedeutet doch nur, dass ich noch Interesse an dir habe. In meinem fortgeschrittenen Alter. Wenn das kein Kompliment ist…«

    Rina griff Deckers Hand. »Na ja, irgendwie schon. Wann genau soll dieses Schäferstündchen denn stattfinden?«

    »Heute Abend auf keinen Fall. Kann ich schon mal einen anderen Termin reservieren?«

    »Da muss ich erst in meinem Terminkalender nachsehen.«

    Decker lächelte verschmitzt. »Wie heißt es doch in unserer alten Heimatstadt: Dein Agent soll meinen Agenten anrufen …«

    KAPITEL ZWEI

    Obwohl Decker nur ein paar Stunden geschlafen hatte, fühlte er sich erholt. Er wachte um sieben auf, roch den Duft von frisch gebrühtem Kaffee, duschte und rasierte sich, und nachdem er sich angezogen hatte, betrat er beschwingt die Küche. Es war gestern Abend spät geworden. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Rina noch wach wäre, aber sie hatte extra auf ihn gewartet. Und zum Schlafen waren sie dann noch eine ganze Weile nicht gekommen.

    »Morgen.« Rina gab ihm einen Kuss. »Gut siehst du aus.«

    »Dafür, dass ich …«

    »Ohne Abstriche. Du siehst toll aus. Lass dir doch mal ein Kompliment machen! In der Zeitung steht übrigens noch nichts von eurer Leiche.«

    »Als ich um zwei gegangen bin, waren die anderen immer noch zugange. Kevin und Karen haben mich abgelöst.« Decker schenkte sich einen Kaffee ein und setzte sich an den Frühstückstisch. »Ich sollte die beiden mal anrufen und rausfinden, was es Neues gibt.«

    »Tu das.«

    Als Decker anrief, war der Empfang vor Ort sehr schlecht. Aber er fand zumindest heraus, dass das Team des Coroners noch immer damit beschäftigt war, die Überreste freizulegen. Es würde aber nicht mehr allzu lange dauern, und dann könnten sie damit anfangen, das Grab nach Beweismitteln zu durchforsten. Decker versprach, gleich vorbeizukommen, und legte auf.

    »Haben sie was gefunden?«, fragte Rina.

    »Nein, noch nicht. Aber die Mitarbeiter des Coroners sind fast fertig. Ich sollte jetzt hinfahren und nachsehen, ob in dem Loch noch etwas liegt.«

    »Ich habe dir und Tyler schon Verpflegung eingepackt. Ach, und gestern Abend habe ich mit Tilly gesprochen.«

    Als Decker aufstehen wollte, setzte Rina sich gerade an den Tisch, also nahm auch er wieder Platz. »Die Frau vom Hillel.«

    »Genau. Sie kann sich an zwei vermisste junge Frauen während der letzten acht Jahre erinnern. Über beide Fälle wurde in den Nachrichten berichtet.« Rina nahm einen Notizzettel, der auf dem Esstisch lag. »Eine der beiden Studentinnen, Delilah Occum, ging aufs Clarion College, die andere, Yvette Jones, war auf dem Morse McKinley.« Sie reichte Decker den Zettel.

    »Okay … Warte.« Decker holte sein Handy heraus und überprüfte die Namensliste, die Kevin ihm gestern gemailt hatte. »Delilah Occums Name steht hier ganz oben.« Er las weiter. »Yvette Jones steht nicht drauf, aber es sind nur die Vermissten der letzten fünf Jahre aufgeführt.« Er hielt Rina das Handy mit den Namen hin.

    »Oh, so viele.«

    »Das sind alle Fälle von Upstate bis runter in die Tri-State-Area, also inklusive Teile von New Jersey, Connecticut und Pennsylvania. New York City ist nicht dabei, das läuft separat. Wann wurde Yvette als vermisst gemeldet?«

    »Das weiß ich nicht.«

    »Moment.« Decker öffnete seinen Laptop und gab Yvettes Namen ein. Im nächsten Moment erschienen die Suchergebnisse. »Vor siebeneinhalb Jahren.« Dann las er den ganzen Zeitungsbericht. »Sie hatte damals einen öffentlichen Vortrag am Morse McKinley besucht und war danach nie in ihrem Wohnheim angekommen.« Decker schloss die Fenster auf seinem Desktop und klappte den Laptop zu. »Im Büro sehe ich mir das mal genauer an. Kannte Tilly die junge Frau persönlich?«

    »Keine Ahnung, aber ich treffe mich heute mit ihr zum Mittagessen im Vegan Palace, dann frag ich sie.«

    »Danke. Du hast sie doch gebeten, es für sich zu behalten, oder?«

    »Klar doch.«

    »Macht wahrscheinlich sowieso keinen Unterschied. Es sind so viele Leute an der Ausgrabung beteiligt, da wird’s nicht mehr lange dauern, bis die Presse davon erfährt.« Decker stand auf. »Ich muss los. Viel Spaß heute Mittag bei eurem Kaninchenfutter mit Tofu.«

    »Werden wir haben, Mr. Paleo. Wie in der Steinzeit …«

    Decker musste grinsen. »Ganz genau.«

    »Solange das Wetter noch so schön ist, könnten wir heute Abend ja grillen. Bring Tyler mit. Der mag doch auch Steak.«

    »Aber hat er auch eins von den guten Rib-Eye-Steaks verdient?«

    »Hängt wohl davon ab, wie gut er sich heute schlägt, was?«, frozzelte Rina.

    »Ach, der Junge macht das schon gut. Sehr gut sogar.« Decker zog sein Jackett über. Dafür war es eigentlich zu warm – laut Vorhersage knappe 30 Grad –, aber es sah einfach professioneller aus. »Ich habe einen Artikel im Wall Street Journal gelesen. Wusstest du, was die Top-Kanzleien Harvard-Studenten für ein Praktikum zahlen?«

    »Um die 3 000 Dollar die Woche.«

    »Und das zehn Wochen lang, das sind 30 000 insgesamt. Weißt du, was Tyler diesen Sommer verdient hat?«

    »Vielleicht 10 000?«

    »Wenn’s hochkommt. Das war so was von bescheuert von ihm.«

    »Aber vergleich mal das Arbeitspensum, Peter. Ich würde sagen, ihr zwei habt diesen Sommer mehr Zeit vor der Xbox verbracht als auf dem Revier.«

    »Damit ist es jetzt vorbei. Wiederaufgerollte Fälle haben’s meist in sich. Wenn es sich bei der Leiche um eine der beiden Studentinnen handelt, stammt das Opfer nicht aus Greenbury. Ich werde versuchen müssen, Leute ausfindig zu machen, die sich vermutlich nicht mehr an viel erinnern. Studenten sind nur ein paar Jahre hier, Professoren gehen, wenn sie anderswo eine bessere Stelle finden. Und falls es überhaupt Spuren gegeben hat, sind sie längst verwischt oder kalt.«

    »Wenn irgendjemand den Fall lösen kann, dann du.«

    »Du bist immer so positiv, wie machst du das nur?«, grummelte Decker.

    »Ist ’ne angeborene Eigenschaft von mir, aber ich halte mich auch fit und ernähre mich entsprechend … Probier’s mal mit Tofu, du Steinzeitmensch. Täte nicht nur deinen Arterien gut, vielleicht würdest du dann auch öfter mal lächeln.«

    Als das Grab leer und die Leiche abtransportiert war, konnte sich Decker die Grube vornehmen. Die Suche erbrachte nichts außer einem durchgeschwitzten Hemd. Weder Ausweise noch Tasche, Portemonnaie, Handy oder Laptop. Keine Seminartexte oder Arbeitsunterlagen und auch keine intakten Kleidungsstücke. Allerdings fand er ein Stück Stoff, eine kleine silberne Creole und einen grauen Knopf, der ursprünglich vielleicht einmal weiß gewesen war. Diese Fundstücke übergab er der Spurensicherung zur weiteren Untersuchung.

    Decker und seine Kollegen vom Greenbury PD waren den ganzen Vormittag damit beschäftigt, das umliegende Gebiet nach Beweismitteln abzusuchen, die der Mörder auf dem Weg zur Begräbnisstelle vielleicht versehentlich fallen gelassen oder weggeworfen hatte. Sie fanden jede Menge verrostete Bier- und Limodosen, Zigarettenkippen und Chipstüten, die von sommerlichen Wandertouren und Picknicks liegen geblieben waren.

    Als jedes einzelne Objekt eingetütet und ordnungsgemäß beschriftet war, fuhren Decker und McAdams zurück zum Revier. In seinem Büro fuhr Decker den Computer hoch und recherchierte den Fall Delilah Occum: Sie war vor drei Jahren am Clarion College verschwunden.

    »Sie war brünett, also könnte sie’s definitiv sein. Laut Augenzeugen trug sie zuletzt einen schwarzen Mantel, ein rotes Minikleid und hohe Schuhe.« Decker sah vom Bildschirm hoch und drehte sich zu McAdams. »Sah der Stoff, den wir gefunden haben, für dich rot aus?«

    »Der war so schmutzig, da konnte ich nichts erkennen, Kumpel. Aber der Knopf sah nicht so aus, als ob er von einem schwarzen Mantel stammt.«

    »Das ergibt auch Sinn. Im Winter ist es schwer, eine Leiche zu vergraben. Gefrorener Boden.« Decker dachte nach. »Wann genau ist Delilah verschwunden?«

    »Ich schau schnell nach.« McAdams öffnete die Akte auf seinem Computer. »Gleich nach Thanksgiving.«

    »Ich frage mich, wie kalt es damals war.« Decker tippte etwas ein. »In dem Jahr hat es erst kurz vor Weihnachten angefangen zu schneien. Theoretisch hätte man also zur fraglichen Zeit noch eine Leiche vergraben können, vor allem im Wald, wo der Boden durch das ganze Laub vor Frost geschützt ist.«

    »Also für mich sieht das wie der Knopf einer Bluse oder eines Hemds aus.«

    »Finde ich auch. Was ist mit der anderen Studentin, Yvette Jones?« Decker öffnete die Vermisstenakte auf dem Computer. »Die hatte ebenfalls braune Haare.«

    »Also ist sie auch im Rennen.«

    »Ja. Yvettes Mitbewohnerin im Wohnheim erinnerte sich, sie an dem Morgen gesehen zu haben … mittags war sie in der Mensa, wo sie nach den Aufzeichnungen der Überwachungskameras bis 14:15 Uhr geblieben ist. Danach ging sie zu einer Vorlesung in der Murphy Hall: ›Sozialverträgliches Investieren‹. In den Aufzeichnungen trägt sie Jeans, eine helle Bluse, darüber einen Pulli in einer ähnlichen Farbe und Turnschuhe.«

    »Unser Knopf ist hell.«

    »Stimmt. Yvette war eins fünfundsechzig, wog knappe sechzig Kilo und hatte braunes Haar und braune Augen. Wir haben natürlich noch die Unterlagen zu dem Fall, aber das College hat uns die Informationen erst ein paar Tage nach ihrem Verschwinden zur Verfügung gestellt. Ich bin mir sicher, die hatten parallel ihre eigenen Akten mit Informationen, die wir noch nicht kennen.«

    »Meinst du, die heben so was auf?«

    »Falls nicht, wäre das fahrlässig von ihnen. Immerhin sind diese Fälle noch nicht abgeschlossen.« Decker lehnte sich im Stuhl zurück. »Lass uns mal hören, was der Coroner zu sagen hat. Ruf ihn an, und sag ihm Bescheid, dass wir vorbeikommen. Gegen Abend sollte er die Knochen doch richtig zusammengesetzt haben.«

    »Sein Labor ist in Hamilton, oder?«

    »Ja. Sollen wir vorher was essen gehen? Wir haben noch Zeit.«

    »Nein, keinen Hunger. Ich muss erst mal das Frühstück verdauen.«

    »Ist doch fast Mittag, was gab’s denn?«

    »Drei Eier mit Speck, Hash Browns, Orangensaft und drei Tassen Kaffee.«

    »Das Irish Special von Paul’s Truck Stop?«

    »Woher kennst du denn Paul’s Truck Stop, alter Mann? Da enthält doch selbst der Kaffee Spuren von gebratenem Speck.«

    »Letzten Winter war ich da auf einem Einsatz. Zwei total überdrehte Trucker hatten sich in die Haare gekriegt. Nichts Gravierendes, die beiden haben nur etwas Dampf abgelassen, aber jemand wollte auf Nummer sicher gehen und hat die Polizei gerufen. Wenn der Laden eine Schanklizenz hätte, wäre ich sicher viel öfter dort.«

    »Genau aus diesem Grund siehst du da auch nie Collegekids. Und weil’s zu Fuß zu weit vom Campus ist.«

    »Ja, definitiv kein Studentenladen. Bist du da oft?«

    »Diesen Sommer fast jeden Tag. Die machen einen Apfelkuchen, der ist fast so lecker wie meiner.«

    »Ist aber nicht ganz dein Ambiente, Harvard.«

    »Da hast du nicht ganz unrecht. Da wimmelt’s nur so von Truckern, die heißen alle Billy, Bud, Bubba, Cletus, Dwayne, Jessie, Jimmy und vor allem junior. Manchmal in der Kombi mit Ray oder Lee oder Boy, also Jonny Boy oder Billy Boy. Aber die Rednecks und ich haben so ’ne Art Waffenstillstand geschlossen. Sie nennen mich Herr Rechtsanwalt und fragen mich allen möglichen rechtlichen Kram, damit sie ihre Arbeitgeber auf Schadenersatz verklagen können. Die Bedienungen flirten mit mir und nennen mich Schätzchen, und ich gebe reichlich Trinkgeld. Außerdem gibt es WLAN: Ich sitze immer an der Theke und surfe im Internet. Genau wie bei euch fühle ich mich da wie zu Hause.«

    KAPITEL DREI

    Rina war zu früh dran, aber Tilly Goldstein war offenbar noch vor ihr eingetroffen. Das war auch gut so, denn das Vegan Palace war schon fast voll, und Tilly hatte noch einen der letzten Tische ergattert. Rinas Bekannte hatte blaue Augen, kurze graue Locken und eine Brille, die sie an einer Kette um den Hals trug. Heute hatte sie ein luftiges gelbes Kleid mit kurzen Ärmeln an, die den Blick auf dünne, runzlige Arme freigaben. Rina ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. Sofort reichte ihnen eine junge Frau mit blauen Haaren und jeder Menge Piercings und Tattoos die Karte. Sie stellte sich als Sarah vor und versprach, gleich Wasser und Pitabrot zu bringen.

    Als sie gegangen war, sagte Tilly: »So ein hübsches Mädchen, warum läuft sie nur mit dem ganzen Metall im Gesicht rum wie eine Voodoopuppe! Und die Tätowierungen! Verstehst du das?«

    »Damit wollen sich die Kids von der Masse abheben«, mutmaßte Rina. »Aber ich muss bei so was sofort an meine Eltern denken. Die haben beide den Holocaust überlebt und mussten zeitlebens die eintätowierten Nummern mit sich herumtragen. Weißt du schon, was du nimmst?«

    »Noch nicht, und du?«, fragte Tilly.

    »Vielleicht das Tofucurry oder den veganen Burger de Luxe.«

    »Nimm das Curry. Dann nehm ich die gebratenen Nudeln mit Gemüse. Ich liebe Soba-Nudeln.«

    Kurze Zeit später kam die Bedienung zurück, um ihre Bestellungen aufzunehmen. Die beiden Frauen unterhielten sich über Alltägliches, bis das Essen kam. Dann legte Tilly sich die Serviette auf den Schoß und kam zur Sache: »Also, was hat es mit diesem Leichenfund am Bogat-Weg auf sich?«

    »Es wurden menschliche Knochen gefunden. Na ja, eigentlich habe ich sie gefunden.« Rina brachte ihre Freundin auf den neuesten Stand. »Natürlich lag die Vermutung nahe, dass sie zu einer der beiden vermissten Studentinnen gehören. Und da du schon so lange an der Uni arbeitest …«

    »Erinnere mich bloß nicht daran.«

    Rina holte einen kleinen Notizblock aus der Tasche. »Was kannst du mir über die beiden erzählen?«

    »An Delilah erinnere ich mich besser als an Yvette, da sie erst vor drei Jahren verschwunden ist. War eine traurige Sache. Sie ging von einer Party nach Hause, kam aber nie in ihrem Wohnheim im Clarion College an. Ihr Verschwinden entfachte eine Riesendiskussion um zu laxe Sicherheitsvorkehrungen auf dem Campus, besonders am Abend. Die Colleges einigten sich darauf, die Anzahl der Wachleute zu erhöhen. Die Verwaltung richtete dann noch einen Begleitservice ein: Wenn ein Student, egal ob männlich oder weiblich, nicht allein über den Campus gehen will, steht zu jeder Tages- und Nachtzeit jemand zur Verfügung.«

    »Wird dieser Service in Anspruch genommen?«

    »Ständig. Es wurde gemunkelt, dass erst so etwas passieren musste wie mit Delilah, bis die Colleges eingesehen haben, wie gefährlich es auf dem Campus sein kann.«

    »Das stimmt wahrscheinlich, aber muss man nicht wahnsinnig viele Sicherheitsleute einstellen, um genug Personal zu haben?«

    »Nein, nein, das funktioniert wie die Uber-Taxis. Es haben sich unheimlich viel Studenten von allen fünf Colleges gemeldet, die bereit sind, für ein kleines Entgelt andere Studenten über den Campus zu begleiten. Wenn sich jemand bei uns meldet, sehen wir nach, wer gerade Zeit hat. Normalerweise haben wir mindestens vierzig bis fünfzig Studenten in Bereitschaft.«

    »Und wie sorgfältig werden die vorher überprüft?«

    Tilly sah auf einmal besorgt aus. »Weißt du, ich glaube, gar nicht. Aber der Sicherheitsdienst dokumentiert, wer welchen Auftrag übernimmt. Falls es Probleme gibt, kann man rausfinden, wer der oder die Betreffende war.«

    »Und gab es schon mal Probleme?«

    »Nicht dass ich wüsste, aber falls ja, erfährt man davon sowieso nichts …« Tilly widmete sich ihren gebratenen Nudeln. »Hmm, köstlich.«

    »Ja, schmeckt wirklich gut. Leider kann ich meinen Mann nicht für vegetarisches Essen begeistern.«

    »Typisch Mann. Warum wendet er sich wegen Delilah Occums Verschwinden nicht direkt an die Colleges?«

    »Das wird er sicher noch tun.« Rina lächelte in sich hinein. »Woran erinnerst du dich bezüglich Yvette Jones?«

    »Die ist auch abends verschwunden. Die genauen Umstände weiß ich nicht mehr, Rina. Nur, dass sie ebenfalls nie in ihrem Wohnheim ankam.«

    »Ich habe gehört, sie kam gerade von einer Vorlesung.«

    »Eine Vorlesung?«

    »Irgendwas über sozialverträgliches Investieren oder so.«

    »Aha, klingt nach Hank Carter. Zweimal im Monat hält er einen öffentlichen Vortrag. Die sind meist sehr gut besucht.«

    »Aber Yvette ist vor sieben Jahren verschwunden. Gab’s da die Vorträge schon?«

    »Carter ist schon seit Ewigkeiten am Morse McKinley. Ich war selbst schon bei einigen. Er ist ein begnadeter Redner.«

    Rina notierte sich den Namen. »Wenn du ›sehr gut besucht‹ sagst, wie viele Leute ungefähr?«

    »Die Vorträge finden in der Murphy Hall statt, da ist Platz für mindestens 300 Studenten. Außer ihm bieten noch andere Professoren öffentliche Vorträge an, aber verantwortungsbewusstes Investment ist sein Spezialthema, das schlachtet er schon seit Jahren aus.«

    Die beiden Frauen schwiegen, während Rina sich Notizen machte.

    Schließlich sagte Tilly: »Der Bogat-Weg, das ist doch gar nicht so weit weg.«

    »Ungefähr eine Viertelstunde von hier mit dem Auto.« Rina sah hoch. »Der Weg ist gar nicht so anstrengend. Nach etwa zwei Meilen gabelt er sich: Man kann entweder zum Ausgangspunkt zurücklaufen oder eine größere Runde drehen, ich glaube, vier Meilen. Die hab ich aber noch nie gemacht, zu abgelegen für meinen Geschmack.«

    »Ich find’s schon mutig, dass du dich da überhaupt alleine raustraust.«

    »Als ich die Knochen gefunden habe, hatte ich eine Waffe im Rucksack. Die hatte ich dann ehrlich gesagt total vergessen.«

    »Du hast eine Waffe?«

    »Nur zur Selbstverteidigung, Tilly. Da im Wald treibt sich so einiges herum. Hast du nie Stephen King gelesen?«

    Tilly konnte sich ein anerkennendes Grinsen nicht verkneifen. »Dann kannst du also wirklich schießen?«

    »Ja.«

    »Du könntest also auch auf einen Menschen schießen?«

    »Das musste ich zum Glück noch nie rausfinden. Ich sollte aber mal wieder zum Schießplatz gehen und ein bisschen üben.«

    »Ich kann’s einfach nicht glauben, du und eine Waffe!«

    »Mein Mann ist doch Polizist.«

    »Stimmt, also kein Wunder. Aber du bist doch … wir sind doch Juden. Was haben wir mit Schusswaffen zu tun?«

    »Israel hat eine Armee. Und es gibt die Wehrpflicht für Frauen. So habe ich ursprünglich auch schießen gelernt. Du siehst, bewaffnete Frauen sind bei uns Tradition.«

    Die Knochen lagen auf einem Metalltisch. Sie waren zwar nicht mehr verbunden, aber in der anatomisch korrekten Form eines menschlichen Skeletts angeordnet. Decker und McAdams standen in einem kleinen Raum, der normalerweise für Krankenhausobduktionen reserviert war – ein großer Unterschied zum Leichenschauhaus von L. A., das über mehrere Säle verfügte. Aber hier wie dort lag ein allzu vertrauter Geruch in der Luft: nach Verwesung, eklig süßlich und zugleich medizinisch. Dieser Geruch blieb einem noch lange in der Nase.

    In Krankenhäusern starben die Menschen normalerweise eines natürlichen Todes. Decker fragte sich, mit wie vielen Mordopfern Jerome Donner es in seinem bisherigen Berufsleben tatsächlich schon zu tun gehabt hatte. Nicht, dass es diesmal darauf ankam. Die Todesursache war offensichtlich.

    »Der Schädel wurde eingeschlagen«, merkte Decker an.

    »Stumpfe Gewalteinwirkung«, erläuterte Donner. »Nach dem Grad der Zerstörung zu urteilen, wurde mehrfach zugeschlagen.«

    »Wissen Sie schon, um welche Art von Objekt es sich gehandelt haben könnte?«

    »Die Form der Verletzung ist nicht regelmäßig, aber das könnte auch an der Vielzahl der Schläge liegen. Ich würde auf einen Felsbrocken oder Stein tippen, vielleicht sogar den Kolben einer Schusswaffe.«

    »Also starb sie infolge stumpfer Gewalteinwirkung?«, fragte McAdams.

    »Das war die

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