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Leonardo Da Vinci - Denker und Wissenschaftler
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Leonardo Da Vinci - Denker und Wissenschaftler

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About this ebook

“War Leonardos deutliche Berufung zur wissenschaftlichen Forschung eine Hilfe oder ein Hindernis für seine Arbeit als Künstler? Er wird gewöhnlich als ein Beispiel für die Möglichkeit eines Bündnisses von Kunst und Wissenschaft angeführt. In ihm, so heißt es zumeist, erhielt das schöpferische Genie durch die analytische Fähigkeit zusätzlichen Antrieb; der Verstand verstärkte die Vorstellungskraft und die Gefühle. […] Leonardo war ein tiefgründiger Gelehrter und unvergleichlicher Schöpfer und ist der einzige Mensch in unserer Geschichte, der in die geheimnisvollsten Verstecke der Wahrheit eingedrungen ist und gleichzeitig Visionen der strahlendsten Schönheit heraufbeschworen hat, der die Wissenschaft des Aristoteles mit der Kunst des Phidias verbunden hat."
“Dadurch, dass er die Natur und alle für ihre vollkommene Wiedergabe wichtigen Wissenschaften – Anatomie, Perspektive, Physiognomie – leidenschaftlich studierte und klassische Modelle konsultierte, sich gleichzeitig allerdings die für ihn typische Unabhängigkeit bewahrte, konnte er bei der Kombination von Präzision mit Freiheit und von Wahrheit mit Schönheit nicht fehl gehen. Die raison d’être und der Ruhm des Meisters beruhen auf dieser endgültigen Emanzipation, dieser perfekten Meisterschaft der Modellierung, der Lichtgebung und des Ausdrucks, dieser Weite und Freiheit. Auch andere mögen neue Wege gebahnt haben, aber niemand reiste weiter oder stieg höher als er."
LanguageDeutsch
Release dateDec 9, 2019
ISBN9781644618646
Leonardo Da Vinci - Denker und Wissenschaftler

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  • Rating: 3 out of 5 stars
    3/5
    I knew next to nothing about the subject, and this book served moderately well as a short introduction. Nuland is most excited about our hero as a student of anatomy, which makes sense as Nuland is a medical doctor. There were interesting bits about the process of preserving the anatomy for dissection; we have it so easy now in biology class.
  • Rating: 2 out of 5 stars
    2/5
    Thin, short and not particularly compelling. I understand that there isn't much biographical information available, and I think Nuland gave it the old college try, but this just didn't work for me.
  • Rating: 2 out of 5 stars
    2/5
    Not what it could have been. Nuland seems as much in thrall of Leonardo that he warns about early in this short biography. Apparently Leonardo was so ahead of his time that any "warts" in his life can be excused. Leonardo may have been the first to do a lot of things, including studies of the human body, but since he didn't finish his project to publish his work, virtually everything had to be rediscovered.Some of Nuland's personal views bleed through more than on more than a few pages.
  • Rating: 4 out of 5 stars
    4/5
    Good but brief look at a fascinating man. I knew he was an artist but I never realized the breadth of his curiosity and his genius.

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Leonardo Da Vinci - Denker und Wissenschaftler - Eugène Müntz

Anmerkungen

Leonardos Verhältnis zur Antike

"L’imitatione delle cose antiche e più laudabile che quella delle moderne."

– LEONARDO DA VINCI

Die erste Stufe von Leonardos Laufbahn fällt mit der letzten großen Begegnung zwischen der antiken (der mittelalterlichen) Tradition und dem Geist der neuen Zeit zusammen. Etwa bis zum dritten Viertel des 15. Jahrhunderts hatte die Malerei, wenn wir diejenige der Schule von Padua nehmen, bei römischen Modellen nur nach Inspiration für Details der Kleidung oder der Ornamente gesucht. Nun aber orientierte sie sich am Vorbild der Architektur und der Bildhauerei und strebte danach, die Prinzipien, die Essenz der Kunst des klassischen Altertums zu integrieren. Botticelli, Ghirlandaio und vor allem Filippino Lippi bemühten sich mit großem Eifer, ihre Fresken oder Gemälde auf der Basis der Lehren der zahllosen Statuen zu gestalten, von denen täglich neue ausgegraben wurden. Diese zunächst noch sehr rudimentären Bemühungen kulminierten einige Jahre später im Triumph des Klassizismus unter dem Banner Raffaels und seiner Schüler.

Wie sah Leonardo diesen immer weniger zu vernachlässigenden Faktor, der sich in so vielen Äußerungen im intellektuellen Leben der quattrocentisti bemerkbar machte? Ich will mich in dem vorliegenden Kapitel mit diesem Problem befassen.

Auf den ersten Blick möchte man eher verneinen, dass Leonardo den Einfluss klassischer Modelle empfand. Er allein, sagt Eugène Piot, war der wahre ‚fehlerlose Maler’. Das von der Beeinflussung durch klassische Ideale unbehinderte Studium der Natur, eine mit einer für ihn charakteristischen Hartnäckigkeit immer und überall praktizierte dauerhafte und unablässige Beschäftigung hatte ihm alle Geheimnisse der Kraft in der Kunst offenbart, alle Geheimnisse der Pracht und der physischen Schönheit.

Ein anderer Kritiker, mein leider verstorbener Freund Anton Springer, ist sich nicht weniger sicher: "Leonardos Axiom, dass die Natur das wahre Reich des Künstlers ist, dass das Studium der Natur nicht nur als die beste, sondern die einzig wahre Betätigung angesehen werden sollte, bestimmte seine Einstellung gegenüber der Antike und seine Beurteilung der historischen Entwicklung der Kunst. Es ist häufig darauf hingewiesen worden, wie außerordentlich gering der Einfluss der Wunder der Antike auf ihn war. In seinen Bildern spielt ihr Einfluss tatsächlich nur eine sehr untergeordnete Rolle, während er sich in seinen Schriften überhaupt niemals manifestiert. In seiner Jugend ließ er sich ein- oder zweimal von klassischen Quellen inspirieren, als er einen Medusenkopf voller Schlangen malte und für seinen Freund Antonio Segni einen Neptun zeichnete. Der Meeresgott wurde in einem auf schwellenden Wellen von Seepferden gezogenen Wagen und umgeben von allen möglichen Meerestieren dargestellt. Da diese Zeichnung nicht erhalten ist, ist es unmöglich, sich eine Meinung darüber zu bilden, in welchem Ausmaß Leonardo sich hier bei klassischen Formen bediente. Die Bilder Bacchus und Leda gehören zu einer früheren Phase. Ob der Bacchus in Paris und die unterschiedlichen Versionen der Leda tatsächlich authentisch sind, ist eine Frage, über die sich die Kritiker noch nicht einig geworden sind. Aber wie dem auch sein mag, die Köpfe in all diesen Bildern entsprechen dem von Leonardo entwickelten individuellen Typus und zeigen keine Spur antiker Einflüsse."

Angesichts von Leonardos unabhängigem Geist und seiner kritischen Einstellung ist es selbstverständlich, dass er niemals zu jenen gehörte, die einfach stereotype Formeln und vorgefertigte Prinzipien akzeptierten, weder in seiner Jugend noch im reifen Alter. Nichts hätte seinen Zielen als Künstler und als Wissenschaftler stärker widersprochen. Formulierte er im Trattato della Pittura nicht die folgende Formel:

Ein Maler sollte sich niemals servil an den Stil eines anderen Meisters anlehnen, denn sein Ziel sollte darin bestehen, nicht die Werke des Menschen nachzuahmen, sondern jene der Natur, die tatsächlich so prächtig und fruchtbar ist, dass wir uns eher ihr als Malern zuwenden sollten, die nur ihre Schüler sind und die sie stets weniger schön, weniger lebhaft und weniger vielfältig darstellen, als sie sich selbst darstellt, wenn sie sich uns offenbart.

1. Studie für Herkules und der nemeische Löwe, ca. 1505-1508. Holzkohle und Metallstift, 28 x 19 cm. Biblioteca Reale, Turin.

2. Studie eines nackten Mannes in Frontalansicht, ca. 1503-1509. Feder und Tinte, 23,6 x 14,6 cm. Royal Library, Windsor Castle.

3. Andrea del Sarto nach Pollaiuolo, Ein Wasserträger, ca. 1513. Rötel, 17,9 x 11,3 cm. Palais des Beaux-Arts, Lille.

4. Doryphoros, röm. Kopie nach dem griech. Original von Polyklet (entstanden um 440 v.Chr.), vor 79 n. Chr. Marmor, H:200 cm. Museo Archeologico Nazionale, Neapel.

Obwohl Leonardo die von ihm selbst einst gestellte Frage – Ist es besser, das Zeichnen anhand der Natur oder anhand antiker Vorbilder zu studieren? – unbeantwortet ließ, war er in einer anderen, sowohl in den Originalmanuskripten als auch im Vatikan Codex fehlenden Passage des Trattato eindeutiger. Sie findet sich im Barberini MS und lautet folgendermaßen: Es ist ein unter den italienischen Malern verbreiteter Fehler, in ihre Bilder von verschiedenen antiken Statuen kopierte Ganzkörperdarstellungen von Kaisern aufzunehmen oder zumindest ihren Köpfen ein Aussehen zu verleihen, wie wir es in der Antike finden.

Leonardos Geschmack war zu fein, als dass er in die Malerei eigentlich der Bildhauerei angemessene Effekte aufgenommen hätte, wie es der große Andrea Mantegna gerade zu dieser Zeit tat. Aus diesem Grund glaubte er nicht, dass Maler sonderlich von der Nachahmung antiker Statuen profitieren würden. Aber diese Ansichten sind tatsächlich allesamt mehr oder weniger oberflächlich. Eine sorgfältige Untersuchung von da Vincis Werken führt uns zu der unweigerlichen Schlussfolgerung, dass er, gleichgültig, was er über die Antike sagte und wie sehr er auch eine Abhängigkeit von ihr vermeiden wollte, in seiner Praxis sehr vertraut mit ihr war und ihren Geist verinnerlicht hatte. Wir können den soeben zitierten Artikulationen seiner Überzeugung z.B. die folgende, sehr eindeutige Feststellung gegenüberstellen: Wenn ein Künstler zwischen dem Kopieren antiker oder moderner Vorbilder wählen müsste, sollte er für die Imitation die antiken und nicht die modernen auswählen.[1]

Wir wollen zunächst die Kunstgattung untersuchen, die quasi Vorläufer und Rahmen für den Rest ist und ihm ihre Gesetze der Ordnung und sogar der Lichtgebung aufdrückt; ich meine natürlich die Architektur. Was war Leonardos Einstellung ihr gegenüber? Die Antwort ist einfach. Er ließ nur die antiken Regeln gelten und gestattete höchstens gelegentlich ihre Kombination mit der byzantinischen Kuppel. Er akzeptierte mit demselben Eifer die Autorität von Vitruvius, auf den er sich häufig bezog. Viele seiner Entwürfe reproduzieren griechische oder römische Monumente oder ähneln ihnen doch zumindest, vor allem dem Mausoleum von Halikarnassos. Eine seiner Ideen für den Sockel der Sforza-Statue stammte von der Burg St. Angelo in Rom.

Aus dieser Prämisse folgt eine Reihe von wichtigen Ableitungen, wie der Leser rasch verstehen wird. Die bloße Tatsache, dass Leonardo in der Architektur römische Formen akzeptierte, belegt bereits, dass er die klassischen Methoden der Gestaltung architektonischer Schauplätze und des Arrangements der Figuren innerhalb dieser bewunderte. Die in seiner Sforza-Statue, im Abendmahl, in seiner Anna Selbdritt angewandten Prinzipien der Gruppierung widersprechen in keiner Weise denen antiker Vorbilder. Wenn Leonardo beklagte, dass er nicht in der Lage sei, es den antiken Vorbildern hinsichtlich der Symmetrie gleichzutun, dachte er wahrscheinlich an ihre meisterliche Beherrschung der Kunst der Komposition. Einer seiner Zeitgenossen, ein gewisser Platino Piatta, legt Leonardo die folgende Erklärung in den Mund:

Mirator veterum discipulusque memor

Defuit una mihi symmetria prisca, peregi

Quod potui; veniam da mihi, posteritas.

Was die Lehre von den menschlichen Proportionen anbelangte, verließ Leonardo sich wahrscheinlich mehr als vernünftig war auf die von Vitruvius formulierten Gesetze. Der Letztgenannte, so Leonardo, nennt die folgenden Verhältnisse zwischen den Maßen des menschlichen Körpers: vier Finger ergeben einen Handteller, vier Handteller einen Fuß, sechs Handteller eine Elle und vier Ellen oder 24 Handteller die Gesamtgröße des Menschen.

Wenn du deine Beine weit genug auseinander stellst, um deine Größe um ein Vierzehntel zu verkleinern und du deine Arme so weit nach außen und nach oben ausstreckst, bis deine beiden Mittelfinger eine horizontal über deinen Schädel gezogene Linie berühren, dann werden deine Glieder einen Kreis berühren, dessen Zentrum dein Nabel ist und dann wird der Raum zwischen deinen Beinen ein gleichseitiges Dreieck sein.

Leonardos Interesse am Akt sollte meiner Ansicht nach auch mit seinem Studium der Antike begründet werden. Hin und wieder, vor allem in seinen Skizzen für die Anbetung der Könige, zeichnete er weitgehend unbekleidete Figuren, um besser ihren Körperbau und das Spiel ihrer Bewegungen studieren zu können.

In Leonardos Darstellung der Gestalt des Menschen finden wir ebenfalls Ähnlichkeiten mit der Antike. Wenn man von Porträts und der zeitgenössischen Bekleidung in sakralen Bildern absieht, strebte er an, seine Figuren durch ihre eigene Schönheit hervorstechen zu lassen, anstatt durch die Pracht ihrer Ornamente und Umgebung. Und welch eine Einfachheit seine Kompositionen charakterisiert! Welch eine Strenge bei der Auswahl! Welch eine Sorgfalt und Vollständigkeit der Synthese!

Der junge Maler hatte nur wenig Interesse an einer realistischen Abbildung von Bekleidung. Er lebte in einer idealen Welt und scherte sich nicht um die Moden und Gewohnheiten seiner Zeit, so dass man in seinem Werk nur äußerst selten Anklänge an das zeitgenössische Leben oder Abbildungen von dieser Landschaft oder jenem Gebäude findet. Kein Künstler hat jemals weniger Bemühungen in diese Richtung gezeigt. Er interessierte sich für den Menschen selbst, nicht für seine historische Umgebung.

Leonardos bewusster Verzicht auf die Wiedergabe der von den quattrocentisti mit so viel Sorgfalt abgebildeten Kleidung seiner Zeit war wie der in die Vergangenheit gerichtete Charakter seiner Forschungen ein Beweis für seinen abstrakten und idealistischen Geist. Seine Figuren sind außer in einigen Porträts nach antikem Vorbild gekleidet; sie tragen eine Tunika, eine Toga, einen Mantel, und zwar mit einer Leichtigkeit, die uns dazu berechtigt zu sagen, dass kein Künstler die noble Einfachheit der antiken Kleidung so erfolgreich gleichzeitig modernisiert und bewahrt hat wie der Maler des Abendmahls (vgl. Vol. I, S. 194-195) und der Mona Lisa.

Leonardo erklärt im Trattato, dass die Abbildung der zeitgenössischen Mode so stark wie möglich vermieden werden sollte (fugire il più che si può gli abiti della sua età), außer bei Statuen auf Gräbern.

5. Sandro Botticelli, Zwei Aktstudien. Galleria degli Uffizi, Florenz.

6. Raffaello Sanzio, genannt Raffael, Zwei Männerakte. Rötel, 41 x 28 cm. Albertina Museen, Wien.

7. Herkules Farnese, römische Kopie nach einem griechischen Original, 5. Jahrhundert v. Chr. Marmor, Höhe : 131 cm. Museo Archeologico Nazionale, Neapel.

8. Diskobol, römische Kopie nach einem griechischen Bronzeoriginal des Myron, um 450 v. Chr. Marmor, Höhe : 148 cm. Museo Nazionale Romano, Rom.

9. Studie eines Torsos, ca. 1511. Rötel, 12 x 14,3 cm. Royal Library, Windsor Castle.

In diesem Zusammenhang berichtet er, wie in seiner Jugend …jeder, ob jung oder alt, Kleider mit in Zacken geschnittenen Rändern trug, wobei jede Zacke ihrerseits wieder in kleinere Zacken zerschnitten war. Die Schuhe und Kopfbedeckungen, Beutel, hässliche Ärmel, Krägen, Schleppen, Unterröcke, sogar die Münder von den besonders Modebewussten, waren mit tiefen Kerben geschmückt. Als Nächstes, fährt er fort, kam eine Zeit, in der die Ärmel so riesig wurden, dass sie größer als das eigentliche Bekleidungsstück waren. Anschließend wuchsen die Krägen so hoch, dass sie am Ende den gesamten Kopf bedeckten. Danach verfielen sie in das andere Extrem und wurden so niedrig, dass sie nicht länger von den Schultern getragen wurden, die sie nicht mehr erreichten. Später wurden die Kleider so außergewöhnlich lang gemacht, dass man sie über dem Arm tragen musste, um nicht auf sie zu treten. Anschließend wurden sie so kurz und knapp, dass sie kaum noch die Taille und die Ellbogen erreichten und ihre Träger ein Martyrium erlitten und gelegentlich ihre Hülle sprengten. Die Schuhe wurden so klein gemacht, dass sich die Zehen übereinander legten und mit Hühneraugen bedeckt wurden.

Leonardos ideale Bekleidung bestand für einen alten Mann aus einem langen und üppigen Bekleidungsstück, d.h. faktisch einer Toga (Che il vecchio sia togato) und einem kurzen, eng sitzenden, oberhalb der Schultern offenen Bekleidungsstück für einen jungen Mann (il giovane ornato d’abito), wobei Mönche und Priester hier eine Ausnahme bildeten.

Mit diesen Ansichten kam Leonardo dem heidnischen Ideal näher als jeder andere Maler. Wer hat eine größere Liebe zur Form bekannt oder die Kunst mit größerer Offenheit um der Kunst willen kultiviert? Wer glorifiziert die physische Schönheit dadurch stärker als er, dass er die literarische Bedeutung eines Werks für ein faszinierendes Gesicht oder eine schöne Aktstudie opfert? Wir können mit Fug und Recht sagen, dass Leonardo, wenn er in dieser Beziehung nicht sogar die Antike kopierte, ihren Geist doch weit vollständiger aufnahm als irgendeiner seiner Zeitgenossen. Er näherte sich mit der Freiheit und offensichtlichen Fähigkeit seiner Figuren zur Bewegung sowie seinem unbeschreiblichen Rhythmus und seiner Inspiration sogar den Griechen selbst an. Auch seine Liebe zu jenen androgynen Gestalten, die maskuline Kraft mit femininer Anmut vereinen, ist vom griechischen Vorbild geprägt. Diese am vollständigsten von seinem Johannes der Täufer im Louvre verkörperten Figuren spielen in seinem Werk eine große Rolle.

Es war nur ein kleiner Schritt von all diesen Tendenzen zur Behandlung heidnischer Motive im eigentlichen Sinne, und Leonardo ging ihn mehr als einmal. Er malte eine Meduse, einen Neptun, eine Leda, eine Pomona, einen Bacchus. Die Konzeption der erhaltenen Beispiele ist in jeder Hinsicht gelungen. Sie sind gleichermaßen weit entfernt von der pedantischen archäologischen Genauigkeit einiger der damaligen Künstler wie von dem Anachronismus anderer.

Leonardo missachtete in einer Skizze der Sintflut, in der Neptun mit seinem Dreifuß und Aeolus mit seinem Ledersack voller Winde erscheinen, die historischen Zusammenhänge jedoch auf eine kuriose Weise! Für die Abbildung der Regionen der Hölle empfahl er, dass sich im Paradies des Pluto zwölf die Münder der Hölle darstellende Gefäße befinden sollten, aus der Teufel mit dem Tod, den Furien, einer Schar nackter und weinender Kinder, Asche und Feuer unterschiedlicher Färbungen heraustreten sollten. All dies ist im Kern klassisch, nein sogar heidnisch.

Aber obwohl Leonardo sich von seinen römischen und griechischen Vorgängern inspirieren ließ, hatte er nicht die Absicht, sich an ihren Wagen zu ketten. Dies können wir leicht an seiner Behandlung der Ikonographie, der Allegorie und verwandter Themen sehen. Kein Künstler hat seine Unabhängigkeit jemals weiter vorangetrieben als da Vinci; wir können sogar sagen, dass er hierbei zu weit ging, denn in Fragen wie diesen muss ein Künstler sich im Einklang mit seinem Publikum befinden. Dies kann man nur dadurch erreichen, dass man sich der Tradition beugt oder aber durch große missionarische Anstrengungen. Leonardo wählte aber keine dieser Alternativen, so dass viele seiner Konzeptionen ohne die uns von ihm hinterlassenen Erklärungen recht unverständlich bleiben würden.

Dadurch, dass er bis auf einige wenige (eine Säule für den Mut, drei Augen für die Klugheit etc.) auf alle traditionellen Attribute verzichtete, wollte er einen individuellen Symbolismus kreieren. Er schlug vor, den Ruhm durch einen mit Zungen anstelle von Federn bedeckten Vogel darzustellen, in die Hand des Undanks eine brennende Klinge zu legen, die an das das Feuer nährende Holz erinnern sollte und selbst verzehrt wird, oder aber den Undank durch einen von Flammen verbrannten Blasebalg zu verkörpern.

Eine der Zeichnungen im Christ Church College in Oxford zeigt eine auf allen Vieren auf einem Skelett sitzende Frau; sie hat schwer herabhängende Brüste, und eine Hand ist in die Luft erhoben, während eine andere eine Vase hält. Dies wäre ein für uns nur sehr schwer zu lösendes Rätsel, wenn der Meister es nicht durch eine lange Erklärung ergänzt hätte.

Der von der Frau verkörperte Neid, so erklärt er, wird hier dabei abgebildet, wie er mit einer Hand eine verächtliche Geste gen Himmel macht, weil der Neid seine Kraft gegen den Himmel richten würde, wenn er dies könnte. Sein bzw. ihr Gesicht ist eine Maske des Wohlwollens. Ihre Augen werden von Palmen- und Olivenzweigen und ihre Ohren von Myrte und Lorbeer verletzt, was bedeutet, dass der Sieg und die Wahrheit den Neid beleidigen.

Von ihrem Körper zucken Blitze, was ihre Schmähungen symbolisiert. Die den Neid verkörpernde Frau muss auch trocken und dünn sein, weil sie sich permanent selbst quält. Eine Schlange nährt sich an ihrer Brust. Ihr Köcher ist mit Zungen, ihrer Lieblingswaffe, statt mit Pfeilen gefüllt. Sie muss ein Leopardenfell haben, weil dieses Tier den Löwen dadurch mit Hilfe der Eifersucht tötet, dass er diese in ihm nährt.[2] Ihre Hand muss eine mit Blumen, Skorpionen und anderen giftigen Tieren gefüllte Vase halten; und sie muss auf dem Tod reiten, da der niemals sterbende Neid niemals müde wird, andere herumzukommandieren. Das von ihr gehaltene Zaumzeug sollte mit verschiedenen Waffen, Instrumenten des Todes, besetzt sein. Ein zweiter Entwurf auf demselben Bogen zeigt den Kampf zwischen Neid und Tugend.

10. Laokoon, römische Kopie einer griechischen Originalbronze, die in Pergamon um 150 v. Chr. gefertigt wurde. Marmor, Höhe: 182 cm. Museo Pio Clementino, Vatikan.

11. Apollo Sauroktonos, römische Kopie nach einer griechischen Originalbronze des Praxiteles, 4. Jahrhundert v. Chr. Marmor. Museo Pio Clementino, Vatikan.

12. Fries der Amazonomachie, Tafel 1022, von Thimotheos, Mausoleum von Halikarnassos, Bodrum, ca. 350 v.Chr. Marmor, H:90 cm. The British Museum, London.

Die als schöner, nackter junger Mann dargestellte Tugend stößt einen Palmenzweig in die Augen und einen Olivenzweig in die Ohren seiner Feindin. Die den Neid verkörpernde Frau drückt ihn so fest an sich, dass die beiden Körper nur einen zu bilden scheinen, schwenkt hinter dem Rücken ihres Gegners eine Fackel und legt eine Hand auf seinen Köcher. Leonardos Kommentar lautet folgendermaßen: Sobald die Tugend geboren wird, zeugt sie den Neid; und man sieht eher einen Körper ohne Schatten als Tugend ohne Neid.

Nach all diesem kann ich die Frage von Leonardos Nachahmungen antiker Vorbilder detailliert diskutieren. Sie sind weit zahlreicher, als gemeinhin angenommen wird und stützen in vielerlei Hinsicht die hier vertretene These.

Um mit der Bildhauerei zu beginnen: Es ist nicht bewiesen, dass Leonardo sich der kolossalen Pferde des römischen Quirinals bediente – die Zeichnung von einem von ihnen in der Resta-Sammlung der Ambrosiana ist auf keinen Fall von ihm. Aber auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass er die berühmte antike bronzene Reitergruppe in Pavia studierte: Di quel di Pavia si lauda più il movimento che nessun altra cosa. Dr. Richter glaubt hier an einen Schreibfehler und liest Padua statt Pavia, so dass sich diese Passage seiner Auffassung nach auf Donatellos Gattamelata bezieht. Tatsächlich ist hier aber kein Zweifel möglich; Leonardo meint keine andere als die antike Gruppe in Pavia. Unmittelbar nach den oben zitierten Worten schreibt Leonardo, dass es wesentlich ratsamer ist, antike als moderne Werke zu imitieren. Woher nahm Leonardo seine Idee der sich aufbäumenden Pferde? Zweifellos aus der Antike. Wir können uns hiervon leicht überzeugen, indem wir Schmuckstücke untersuchen, die Motive wie den Sturz des Phaeton, den Tod Hektors, den Tod des Hippolyt darstellen.

Wir wenden uns nun der Malerei zu. Neben den bereits erwähnten, mehr oder weniger verschleierten Verweisen können wir hier eine Reihe gewisser Imitationen nennen. In seinen Studien für die Anbetung der Könige – der unvollendeten Skizze in den Uffizien – begegnen uns immer wieder Haltungen, die bestimmte berühmte antike Kunstwerke in Erinnerung rufen, z.B. den Satyr von Praxiteles und die Bronzeskulptur Narziss in Neapel. Dieselbe Serie aus Zeichnungen enthält ein offensichtlich auf der antiken Figur Silenus beruhendes bärtiges Individuum.

In Leonardos Studien für das Abendmahl erinnert der im Profil zu sehende Apostel in auffälliger Weise an römische Medaillons aus der Zeit der Antoninen, vor allem jene von Lucius Verus. Sogar für seine Gesichter bediente Leonardo sich, wenn auch nur selten, bei der Antike. Sein Johannes der Täufer im Louvre basiert deutlich auf bestimmten, halb maskulinen, halb femininen antiken Typen wie dem Apollino, dem Bacchus und dem Hermaphroditus, und doch ist die Kombination sehr typisch für Leonardo.

Wenn es in diesem Band über das Werk Leonardos eine Seite gibt, die das Studium der Natur und vor allem das Studium der Anatomie des Pferdes mehr als jede andere dokumentiert, so handelt es sich mit Sicherheit um die Schlacht von Anghiari, von der eine Episode in einer Zeichnung von Rubens und in einigen mehr oder weniger partiellen Kopien überlebt hat. Die Episode ist als der Kampf um die Standarte bekannt. Ich hatte nie daran gedacht, in diese Richtung zu forschen, als der Zufall, der große Entdecker, mir eine Kamee zu Gesicht brachte, die auffällige Analogien, um nicht mehr zu sagen, mit einem der von Leonardo eingesetzten Motive aufweist.

Diese Kamee zeigt den Sturz des Phaeton. Trotz ihrer handwerklichen Schönheit bestand mein erster Impuls darin, sie als eine Imitation aus der Renaissance anzusehen, und zwar als eine Kopie nach der Schlacht von Anghiari und eben nicht als ihr Vorbild. Aber wie sollte ich meinen Zweifel an ihrer Herkunft aus dem Altertum beibehalten, als ich sie im Trésor de Numismatique et de Glyptique (mythologische Abteilung) reproduziert und von einem Archäologen von Froehners Reputation ohne Einschränkung anerkannt fand?

Das Motiv dieser Kamee war im Altertum sehr beliebt, obwohl es kaum weiter als bis zum Kaiserreich zurückverfolgt werden kann. Beispiele stammen zumeist aus dem dritten Jahrhundert n.Chr. Das linke, sich nach oben streckende Pferd findet sich wieder auf vier von Wieseler abgebildeten Sarkophagen. Der die auffälligsten Analogien mit der Schlacht von Anghiari aufweisende von ihnen kam im 17. Jahrhundert in die Uffizien, nachdem er sich zuvor in den Colonna-Gärten in Rom befunden hatte. Wir wollen aber zu der Kamee zurückkehren. Leonardo muss sie mit Sicherheit in Florenz gesehen haben, wo sie sich noch heute befindet. Wir werden durch die Präsenz einer Phaeton darstellenden Kamee unter dem 1496 von Piero de’ Medici bei Agostini Chigi deponierten Schmuck in dieser Auffassung bestätigt: Una tavola d’argiento, con cinque ca mei, cioè uno con Fetonte in mezzo et le teste de imperatori da canto. Die Kamee war in Florenz sicherlich bereits durch Abgüsse verbreitet worden.

Aber die Schlacht von Anghiari bietet mehr als die Vermittlung eines bestimmten Motivs. Leonardo entlehnte die Typen seiner Pferde dem Phaeton des antiken Stechers oder Bildhauers. Man vergleiche die Pferde aus seinen Zeichnungen für das Sforza-Monument mit jenen in der Schlacht von Anghiari. Der Unterschied ist bemerkenswert. In den Zeichnungen für das Reiterstandbild sind die Silhouetten klar und edel, in der Schlacht von Anghiari hingegen sind die Formen dick und fleischig, d.h. so, wie wir sie in dem römischen Schmuckstück sehen. Wenn wir Leonardos Pferd in der Zeichnung von Rubens, die deutlich dem Original ähnelt, betrachten, so fällt auf, dass es exakt

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