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Unglaubliches Schicksal einer Nonne
Unglaubliches Schicksal einer Nonne
Unglaubliches Schicksal einer Nonne
Ebook252 pages3 hours

Unglaubliches Schicksal einer Nonne

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About this ebook

Als Mitte des 19. Jahrhunderts die vier Kinder des Ehepaares Waldheim nacheinander sterben, geben diese auf Anraten ihres Pfarrers das Versprechen ab, ihre nächsten Kinder in den Dienst der Kirche zu stellen. Bald bevölkern neun gesunde Kinder das Haus des Lehrers und so werden die dreizehnjährige Anna ins Kloster und der vierzehnjährige Xaver ins Priesterseminar nach Prag gebracht. Anna, die sich auch nach sechs Jahren immer noch nicht mit ihrem Leben im Kloster abgefunden hat, immerhin hat sie diesen Lebensweg nicht selbst gewählt, lernt einen jungen Adeligen kennen, der das Kloster mit Wäsche beliefert. Sie verlieben sich ineinander, doch eines Nachts entführt er sie…
LanguageDeutsch
Release dateJan 22, 2020
ISBN9783475548628
Unglaubliches Schicksal einer Nonne

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    Book preview

    Unglaubliches Schicksal einer Nonne - Roswitha Gruber

    Nachlese

    Die Vorgeschichte

    Es liegt schon etliche Jahre zurück, da hatte ich eine Frühstückslesung in einem ziemlich großen Dorf. Wie immer kamen nach der Veranstaltung einige Frauen zu mir, weil sie noch Fragen hatten oder einfach nur ein paar persönliche Worte mit mir wechseln wollten. Eine Frau, die bis zum Schluss blieb, erzählte mir, ihre Großmutter sei früher Nonne gewesen. Da war mein Interesse sogleich geweckt. Ich ließ mir ihre Adresse geben und besuchte sie einige Wochen später. Sie erinnerte sich noch an vieles, das ihr der Vater, also der Sohn dieser Großmutter, erzählt hatte, unterstützt von einigen seiner Aufzeichnungen und einem Fotoalbum, das er über seine Familie angelegt hatte. Je mehr ich über diese eigenwillige Großmutter erfuhr, umso erschütterter war ich.

    Aber lesen Sie selbst, was uns Dietlinde, ihre Enkelin, über das unglaubliche Schicksal ihrer Großmutter, der ehemaligen Klosterschwester, und ihre Familie zu erzählen hat.

    Roswitha Gruber

    Die Gemälde

    So weit meine Erinnerung zurückreicht, hatten meine Eltern in unserer Wohnung zwei – wie mir schien – wertvolle Gemälde hängen. Diese faszinierten mich schon als Kind dermaßen, dass ich mich immer wieder davorstellte und sie bewunderte. Bereits als Vierjährige hatte ich das Empfinden, dass sie eigentlich gar nicht in unsere Wohnung passten. Das Wort »Wohnung« ist außerdem zu hoch gegriffen. Die Bezeichnung »Behausung« erscheint mir treffender für das, worin ich meine frühe Kindheit verbrachte. Wir lebten nämlich fortwährend in einem Rohbau, mit dessen Erstellung mein Vater im Jahr meiner Geburt begonnen hatte. Bis diese Baustelle einigermaßen bezugsbereit war, hatte unsere achtköpfige Familie in einem zwanzig Meter langen ausrangierten Eisenbahnwaggon gehaust. An diese Zeit erinnere ich mich aber nicht mehr, denn wenige Wochen nach meinem ersten Geburtstag war die ganze Familie in besagten Rohbau umgezogen.

    Dort hingen nun die beiden prächtigen Gemälde. Das eine zeigte eine Frau in vornehmer, auf mich altertümlich wirkender Kleidung, die mir sehr gut gefiel. Diese Frau, ich möchte sie lieber als Dame bezeichnen, schaute den Betrachter mit ernsten Augen an.

    Das andere Gemälde zeigte einen Mann, genauer gesagt einen Herrn, der ebenfalls vornehm und altertümlich gekleidet war. Er schaute den Betrachter mit strengem, aber zugleich wohlwollendem Blick an. Beide Bilder steckten in breiten, reich verzierten Rahmen aus Gold. So dachte ich jedenfalls in meiner Kindheit. Später erfuhr ich, dass es sich um Stuck handelte, der mit Goldbronze überzogen war.

    Als Kind hätte ich nicht zu sagen vermocht, was mich an diesen Gemälden so anzog. War es der Gesichtsausdruck der beiden Personen? War es die Tatsache, dass sie mich stets anschauten, wohin ich mich auch bewegte? War es das Geheimnisvolle, das diese Bilder ausstrahlten? Oder faszinierten sie mich, weil sie das einzig Schöne waren, das sich in unserer ärmlichen Behausung befand?

    Wahrscheinlich war es Letzteres, denn diese Gemälde hoben mich wenigstens zeitweilig aus meiner Tristesse heraus, die mich alltäglich umgab. In die Betrachtung der Bilder versunken, lebte ich in einer anderen Welt, in einer schönen, luxuriöseren, wo es weder Hunger noch Kälte, noch Schmutz oder Schrott gab.

    Meine Kindheit war nämlich geprägt von Schrott. So weit ich zurückdenken kann, lagen Berge von Altmetall um unser Haus herum. Es wurde auch ständig von Schrott gesprochen, selbst bei den Mahlzeiten, ja eigentlich nur bei den Mahlzeiten, denn sonst kam man gar nicht dazu, miteinander zu reden. Schon früh wurde ich mit Fragen konfrontiert wie: Wo sind die ergiebigsten Schrottplätze? Wem kann man welches Material anbieten? Wer zahlt die höchsten Preise?

    Wie sehr meine Kindheit von Armut und Schrott bestimmt war, ist schon ersichtlich an einer Episode, die wenige Tage nach meiner Einschulung im Jahre 1960 stattfand. Wir waren über fünfzig Schüler in der Klasse, und die Lehrerin befragte uns nach dem Beruf unserer Väter. Alle Kinder, die vor mir an der Reihe waren, konnten einen »anständigen« Beruf nennen: Schreiner, Bäcker, Schuster. Die meisten Kinder antworteten jedoch auf diese Frage: »Bei Opel!«. Zwar hatte ich nicht die geringste Ahnung, was damit gemeint war, es musste aber etwas Schönes und Erhabenes sein. Denn die Kinder sprachen über den Beruf ihres Vaters voller Stolz und mit strahlendem Gesicht. Als ich an die Reihe kam, war mir das furchtbar peinlich, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Unschlüssig druckste ich herum.

    »Aber Dietlinde, du wirst uns doch den Beruf deines Vaters nennen können«, ermunterte mich die Lehrerin.

    »Ja. Nein. Ich weiß nicht.«

    »Du weißt nicht, welchen Beruf dein Vater hat?«, versuchte sie mir zu helfen.

    »Ja.«

    »Ist er vielleicht arbeitslos?«

    »Nein.«

    »Nun, vielleicht kannst du uns ein bisschen beschreiben, was er macht. Vielleicht finden wir dann miteinander heraus, wie man den Beruf deines Vaters nennt.«

    »Morgens fährt der Papa immer mit einem leeren Handwagen los und wenn er zurückkommt, ist der Wagen hoch beladen.«

    »Aha! Und was ist darauf?«

    »Lauter kaputte Sachen, die furchtbar dreckig sind.«

    Allgemeines Naserümpfen, soweit ich sehen konnte, und ungläubiges Kopfschütteln. Geduldig half die Lehrerin weiter: »Was sind das für Sachen?«

    »Kaputte Fahrräder, Autoteile, durchgerostete Töpfe und Autoreifen.«

    »Und was macht er damit?«

    »Er kippt alles in den Hof. Er und meine Brüder sortieren dann alles und waschen es ab.

    Manchmal lädt er von einer Sorte etwas auf den Handwagen und bringt es irgendwohin. Am Abend kommt er dann mit Geld heim. Darüber freut sich die Mama, denn davon kann sie Brot und Milch kaufen.«

    »Aha! Dein Vater ist Schrotthändler. Somit hätten wir dieses Rätsel gelöst.«

    Lautes Lachen im Klassenraum war die Reaktion, gefolgt von einem Raunen nach allen Seiten: »Schrotthändler! Schrotthändler!«

    In dem Moment hätte ich mich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen. Doch schon griff die Lehrerin ein: »Ihr braucht gar nicht so abfällig zu tun. Schrotthändler ist ein anständiger Beruf wie alle anderen auch. Und er ist genauso wichtig. Sicher ist es nicht angenehm, auf den Müllhalden herumzustöbern, um die Sachen herauszuziehen, die andere Leute weggeworfen haben. Aber daraus lassen sich wieder neue, wertvolle Dinge herstellen.«

    Mit dieser Rede hatte mein Fräulein – wie man damals noch die Lehrerin nannte, selbst wenn sie verheiratet war – mein sehr angeschlagenes Selbstwertgefühl enorm gestärkt. Und während meiner ganzen Schülerzeit erfolgte nie wieder eine spöttische Bemerkung über den Beruf meines Vaters. Als ich nach Hause kam, drückte mich eine Frage, die ich gleich am Abend an meinen Vater richtete: »Warum arbeitest du nicht bei Opel?«

    Er lachte: »Das ist ganz einfach, mein Schatz. Erstens haben die mich nicht genommen und zweitens könnte ich mit dem, was ich dort verdienen würde, meine sechs Kinder nicht ernähren.«

    Das Gelübde

    Die beiden Gemälde in unserem Wohnzimmer ließen mich auch in der Folgezeit nicht los. Während es mir einige Jahre genügte, sie nur andächtig zu betrachten, so änderte sich mein Verhältnis zu diesen Bildern, als ich etwa zwölf Jahre alt war. Nun interessierte es mich mit einem Male, wer die beiden Personen auf den Bildern waren. Also fragte ich meinen Vater eines Sonntagabends danach, als wir uns nach dem Essen von der Küche ins Wohnzimmer begeben hatten. Seine Antwort fiel kurz und knapp aus: »Das sind meine Großeltern, also deine Urgroßeltern.«

    Diese Auskunft genügte mir bei Weitem nicht. Ich wollte mehr über sie erfahren. »Meine Urgroßeltern? Wieso sind sie so fein gekleidet? Warum sehen sie so vornehm aus? Sie wirken so, als passten sie gar nicht in unsere Familie.«

    Nach einem kurzen Blick auf die Gemälde nickte Papa: »Da kannst du recht haben. Aber dennoch ist es so.«

    Wieder schwieg er. Da bettelte ich: »Bitte Papa, erzähle mir etwas über die Urgroßeltern. Hast du sie noch persönlich gekannt?«

    »Freilich habe ich sie noch gekannt. Du bist inzwischen alt genug, um das alles zu verstehen. Deshalb will ich dir die Wahrheit nicht mehr länger vorenthalten.«

    Innerlich jubilierte ich, als er mich mit einer Geste einlud, neben ihm auf der Couch Platz zu nehmen. Bisher hatte er schon oft ausgiebig erzählt, aber immer nur vom Krieg und von der Kriegsgefangenschaft, was mich weniger interessierte. Nun aber war ich ganz Ohr. Endlich würde ich etwas über die geheimnisvollen Bilder und über meine Ahnen erfahren.

    Mein Vater holte weit aus, und ich versank für Stunden in einer anderen, einer früheren Welt. Bis in das Jahr 1800 führte er mich zurück. Zunächst sprach er von dem kleinen schicksalsumwobenen Ort Reichenthal in Böhmen, auf 670 Metern gelegen und nur eine knappe Wegstunde von der bayerischen Grenze entfernt. Dieses Dorf sei ganz in den Wald eingebettet gewesen, und er sei dort zur Welt gekommen. Böhmen sei in jener Zeit noch Königreich gewesen und 1804 zu einem österreichischen Kronland erhoben worden. Dieses wurde von der Dynastie des Hauses Habsburg in Personalunion mit dem Kaisertum von Österreich und dem Königreich Ungarn regiert. Für mich hörte sich schon allein der Name aufregend und geheimnisvoll an: Kronland. Auch das Wort »Königreich« kannte ich lediglich aus Märchen.

    Demnach bestand Reichenthal um das Jahr 1800 nur aus vierzig Häusern mit etwa dreihundert Seelen, einer Kirche und einer Schule. Die Bewohner des Ortes waren ein urwüchsiger, ganz dem lieben Gott und dem Pfarrer ergebener Menschenschlag. Sie waren arme Bauern, die dem Boden nicht viel abringen konnten. Ihr einziger Reichtum war der Wald. Dieser sicherte ihnen das Überleben. Der Pfarrer war der wichtigste Mensch im Dorf und kam gleich nach dem Herrgott. Und nach dem Pfarrer kam gleich der Lehrer. Während die Pfarrer von Zeit zu Zeit wechselten, bildeten die Lehrer eine gewisse Konstante. In Reichenthal gab es nämlich eine regelrechte Lehrer-Dynastie. Um 1800 wirkte ein Franz Xaver Waldheim als der erste verbriefte Lehrer an der kleinen Dorfschule. Von da an wurde – wie man aus der Chronik ersehen kann – das Amt des Schulmeisters stets vom Vater auf den Sohn vererbt, ebenso wie der Vorname. Daher hießen nacheinander alle Lehrer der einklassigen Schule Franz Xaver Waldheim. Der Letzte dieses Namens und seines Zeichens Lehrer war Papas Großvater, also mein Urgroßvater, der gutaussehende Mann auf dem einen Gemälde. Bis dieser in der Schule die Nachfolge seines Vaters antrat, das muss um 1860 gewesen sein, war das Dorf noch nicht wesentlich gewachsen, obwohl die braven Bäuerinnen viele Kinder in die Welt setzten, getreu dem Bibelwort »Wachset und mehret euch!«, das ihnen der Pfarrer eifrig predigte. Dass die Einwohnerzahl dennoch nicht stieg, lag zum einen an der Kindersterblichkeit, die noch recht hoch war, zum anderen daran, dass die Menschen generell kein sehr hohes Alter erreichten. Sie waren durch die schwere Arbeit, das raue Klima, die ungesunden Wohnverhältnisse und die karge Ernährung vor der Zeit verbraucht. Hinzu kam, dass die jungen Leute, kaum der Schule entwachsen, Reichenthal verließen, um sich anderswo eine Existenz zu suchen. Denn die Ackerfläche des Dorfes samt der sie umgebenden Wälder reichte nicht aus, um noch mehr Menschen zu versorgen. Ein Lehrer war zu jener Zeit noch ärmer als ein Bauer. Sein Gehalt war so gering, dass er sich seine Kartoffeln, sein Gemüse und sein Obst selbst ziehen musste, auf einem Acker, den ihm die Gemeinde zur Verfügung stellte.

    Den Erzählungen meines Vaters nach muss mein Urgroßvater ein großer, stattlicher Mann gewesen sein, und wie auf dem Gemälde zu erkennen ist, hatte er schöne Gesichtszüge. Diese wurden von einem langen, gepflegten Bart umrahmt, welcher zweigeteilt war. Zusätzlich verlieh ihm der nach oben gezwirbelte Oberlippenbart ein vornehmes Äußeres. Er hatte aber nicht nur ein aristokratisches Aussehen, er strahlte auch inneren Adel aus. Ebenso wie sein Vater und Großvater vor ihm, war auch er durch sein Wirken und seine Hilfsbereitschaft Mittelpunkt der Gemeinde geworden. Umso unverständlicher ist es mir, dass er gegen seine eigene Tochter eine so unerbittliche Härte einnehmen konnte. Aber davon später.

    Da Franz Xaver so auffallend gut aussah, machte ihm so manche Bauerntochter schöne Augen, und er konnte sich unter den Schönen die Schönste aussuchen. Das war Anna Maria. Sie war nicht nur bildhübsch, sie brachte auch eine ansehnliche Mitgift ein. Neben einem ordentlichen Geldbetrag bestand diese aus einem großen Acker und einem ansehnlichen Stück Wald. Das ermöglichte dem armen Schulmeister eine baldige Heirat. Damals galt eine große Kinderschar nicht nur als Gottes Segen, sondern auch als Altersversicherung. Und so freute sich das junge Paar, das in Harmonie zusammenlebte, dass übers Jahr ein Stammhalter in der Wiege lag. Während der Geburt muss der Bub aber zu wenig Sauerstoff bekommen haben, denn er litt an Hirnkrämpfen. Die Kunst der Ärzte war damals noch nicht so weit fortgeschritten, und man konnte dem Kind nicht helfen. Der kleine Franz Xaver war noch kein ganzes Jahr alt, da rief ihn der Herr wieder zu sich. Die Eltern nahmen es nicht zu tragisch, sie sahen es als eine Erlösung für das Kind und sich selbst, zumal die junge Frau erneut Mutterfreuden entgegensah. Wegen der Aufregung in den letzten Lebenstagen von Klein-Xaver und dessen Beerdigung setzten bei Anna Maria jedoch die Wehen vorzeitig ein. Das kleine Mädchen, das als Frühgeburt zur Welt kam, hatte zu wenig Lebenskraft mitgebracht. Deshalb gab ihm die erfahrene Hebamme kurz nach seiner Geburt die Nottaufe und trug es in ihrer Liste auf Wunsch der Eltern als Anna Maria ein. Wie befürchtet, musste sie bereits am folgenden Tag hinter seinen Namen ein Kreuz setzen.

    Diesmal war der Schmerz für die jungen Eltern erheblich größer. Er ließ erst nach, als sich die Lehrersfrau wenige Monate später wieder Mutter werden fühlte. Nach einer normal verlaufenen Schwangerschaft brachte sie einen gesunden Buben zur Welt, der natürlich den Namen Franz Xaver erhielt. Schließlich sollte er die Lehrerdynastie fortsetzen. Nach knapp anderthalb Jahren kam die Lehrersfrau erneut nieder, diesmal mit einem gesunden Mädchen, das ebenfalls nach ihr benannt wurde.

    Für das Ehepaar war es eine Freude, zu sehen, wie die beiden Geschwister gesund und unbeschwert heranwuchsen. Doch kaum war die kleine Anna Maria ein Jahr alt, wütete eine Seuche im Dorf: die Diphterie. Von außerhalb musste sie jemand eingeschleppt haben. Die älteren Kinder des Dorfes überlebten diese Krankheit weitgehend, die Kleinkinder aber, die offenbar noch nicht genug Widerstandskraft besaßen, wurden dahingerafft. So war fast in jedem zweiten Haus ein Kind zu beklagen, im Lehrerhaus waren es sogar zwei Kinder. An manchen Tagen läutete das Totenglöcklein nicht nur ein Mal, und der hochwürdige Herr Pfarrer kam kaum mit den Beerdigungen nach. Nicht nur an den kleinen Gräbern hielt er zu Herzen gehende Ansprachen, er besuchte auch die leidgeprüften Familien, um ihnen Trost zuzusprechen. So kam er auch in die Wohnung der Lehrersfamilie, nachdem man ihre beiden an Diphterie verstorbenen Kinder innerhalb von vier Tagen zu Grabe getragen hatte. Der Pfarrer hatte es nicht weit, wenn er die Waldheims besuchen wollte. Während er mit seiner Schwester die erste Etage des Pfarrhauses bewohnte, war es in Reichenthal Tradition, dass dem Lehrer mit seiner Familie das Erdgeschoss zur Verfügung stand. So musste der Geistliche kein Kindergetrappel über dem Kopf erdulden, und für die Lehrersfamilie lag der Vorteil darin, dass sie gleich im Garten waren. Denn sie durften den großen Pfarrgarten, der sich hinter dem Haus erstreckte, weitgehend allein nutzen. Die Pfarrersköchin begnügte sich nämlich mit einigen Beeten. Für die Lehrersfamilie aber war der Garten von unschätzbarem Wert. Wenn die Mutter dort arbeitete, hatte sie die Kinder stets unter Kontrolle, weil es für diese schon von alters her eine Spielecke gab. Vor allem aber zog sich die Frau ihren Salat und ihr Gemüse selbst, und sie konnten Früchte von den Beerensträuchern und von den Obstbäumen ernten.

    Nach dem Begräbnis der beiden jüngsten Waldheims machte nun der Pfarrer einen Besuch bei der leidgeprüften Familie. Er traf sie in ziemlich niedergeschlagener Verfassung vor. Noch bevor er dazu gekommen war, ein Trostwort zu sprechen, brach es aus der Lehrersfrau heraus: »Warum? Warum nur, Herr Pfarrer, sterben uns die Kinder weg?«

    »Warum stirbt bei uns ein Kind nach dem anderen?«, lamentierte auch der Lehrer. »Wir haben doch nichts Böses getan.«

    Hochwürden legte seine Stirn in Falten und seinen rechten Zeigefinger auf den Mund. Auf diese Weise konnte er am besten nachdenken. Nachdem er eine Weile in dieser Pose verharrt hatte, gab er folgende Deutung: »Es genügt nicht immer, dass man nichts Böses tut, um Gott wohlgefällig zu sein. Manchmal erwartet er von uns, dass wir etwas ausgesprochen Gutes tun.«

    Die vom Schicksal geschlagenen Eltern schauten fragend den Geistlichen an, dann blickten sie sich gegenseitig an und zuckten die Schultern. Keiner der beiden wagte zu fragen, was er damit meine. Ihre Hilflosigkeit richtig deutend, begann der Pfarrer: »Vielleicht erwartet Gott ein Geschenk von euch.«

    »Ein Geschenk? Von uns? Was sollten wir ihm schenken? Sie wissen doch selbst, dass wir arme Schlucker sind«, erklärte Waldheim.

    »Ein Kind!«, antwortete der geistliche Herr.

    »Ein Kind?«, wiederholte die Lehrersfrau ungläubig. »Er hat sich doch schon vier von uns genommen.«

    »Ja, tote Kinder. Vielleicht erwartet er aber von euch ein lebendes Kind.«

    »Ein lebendes Kind? Wie sollen wir das verstehen?«

    »Damit Gott euch nicht weitere Kinder sterben lässt, solltet ihr ihn dadurch gnädig stimmen, indem ihr ihm das nächste Kind versprecht.«

    »Wie soll das vor sich gehen?«, fragte Franz Xaver verunsichert.

    »Vermutlich erwartet Gott ein Gelübde von euch. Ihr solltet ihm geloben, dass ihr euer nächstes Kind zu einem Priester heranzieht. Denn wie ihr wisst, es mangelt ständig an Arbeitern im Weinberg des Herrn.«

    Eine Weile schwiegen die drei Personen, die in der Wohnstube des Lehrers beisammensaßen. Nach langem Nachdenken erhob Waldheim seine Stimme: »Angenommen, ich gelobe dem Herrn, dass mein nächster Sohn Priester wird, dann weiß ich ja gar nicht, ob dieser die nötige Intelligenz dazu mitbringt.«

    »Wenn unser Herr dieses Geschenk von euch annimmt, wird er den Sohn mit den nötigen Gaben ausstatten. Davon bin ich fest überzeugt«, erklärte der Geistliche. »Andererseits, wenn Sie sichergehen wollen, müssen Sie ihm ja nicht den ersten Sohn versprechen, sondern ›einen Sohn‹. Dann können Sie später auswählen.«

    »Und wenn wir gar keinen Sohn mehr bekommen?«, gab Anna zu bedenken. »Sondern nur noch Töchter?«

    »Wenn Sie Gott einen Sohn versprechen, wird er Ihnen diesen auch schenken. Um die Gunst unseres Herrn aber ganz sicher zu erringen, sollten Sie zusätzlich geloben, die erste Tochter ins Kloster zu geben. Denn es herrscht auch erheblicher Mangel an Ordensfrauen.«

    Noch ehe der Lehrer und seine Frau irgendwelche Bedenken äußern

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