Projektarbeit im Kindergarten: Planung, Durchführung, Nachbereitung
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Im Hauptteil des Buches verdeutlichen Praxisberichte das ganze weite Spektrum der Möglichkeiten, in denen sich Projektarbeit in Kindertageseinrichtungen entfalten kann. Die beschriebenen Projekte erleichtern es Kindern, sich ihre natürliche, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umwelt zu erschließen.
Die Kinder machen Naturerfahrungen im Wald, lernen Abläufe in der Landwirtschaft kennen, legen Gartenbeete an, bauen Hühnerställe, erkunden die Einrichtungen der Kirchengemeinde, erforschen den Ortsteil, beschäftigen sich mit der Heimatgeschichte, gewinnen einen Eindruck vom Leben in verschiedenen Epochen, besuchen Museen, Redaktionen und Verlage, beschäftigen sich mit den Berufen ihrer Eltern, erfahren Grundzüge des Wirtschaftslebens, kommen in Kontakt mit Senioren, "reisen" in fremde Welten und werden mit anderen Kulturen konfrontiert.
Martin R. Textor
Dr. Martin R. Textor, Jahrgang 1954, studierte Erziehungswissenschaft, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany (New York) und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Vom November 2006 bis Dezember 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das nicht universitäre Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Martin R. Textor veröffentlichte 23 Monographien, 23 Fachbücher als (Mit-) Herausgeber, mehr als 470 Artikel in Fachzeitschriften, wissenschaftlichen Zeitschriften und (Hand-) Büchern (ohne graue Literatur), rund 310 Fachartikel im Internet sowie mehr als 720 Rezensionen. Ferner wirkte er an 485 Veranstaltungen - mit mehr als 24.600 Teilnehmer/innen - als Referent oder Fortbildner mit. Gemeinsam mit Antje Bostelmann gibt Martin R. Textor "Das Kita-Handbuch" heraus (www.kindergartenpaedagogik.de). Ausführliche Informationen über seine Person und seine Veröffentlichungen können auf www.ipzf.de abgerufen werden. Seine Autobiographie ist unter www.martin-textor.de zu finden.
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Book preview
Projektarbeit im Kindergarten - Martin R. Textor
Inhalt
Einführung
Grundlagen der Projektarbeit
1.1 Kindheit heute
1.2 Ziele und Prinzipien von Projektarbeit
1.3 Geschichte der Projektarbeit
1.4 Vorbereitung von Projekten
1.5 Durchführung und Auswertung
1.6 Rechtsfragen
Praxis der Projektarbeit
2.1 Naturerlebnisse
2.2 Landwirtschaft und Gartenbau
2.3 Erkundung der Gemeinde
2.4 Auf den Spuren der Vergangenheit
2.5 Kultur und Medien
2.6 Wirtschaft und Arbeitswelt
2.7 Die Lebenswelt von Senioren
2.8 Andere Länder – andere Sitten
Schlusswort
Literatur
Autor
Einführung
Das Wort „Projekt kommt aus dem Lateinischen, von „proiectum
– „das nach vorn Geworfene", der Entwurf, das Vorhaben. Im Kindergarten- und Kindertagesstättenbereich bezeichnen wir mit diesem Begriff ein geplantes, längerfristiges, konkretes Lernunternehmen, das unter einer bestimmten Thematik steht, längere Zeit dauert (mindestens einige Tage, die aber nicht direkt aufeinander folgen müssen) und eine größere Gruppe von Kindern und Erwachsenen beansprucht. Ausgehend von einer Idee, einem Problem, einer Fragestellung oder einer Interessenbekundung entwickeln die Beteiligten diese Projektinitiative zu einem sinnvollen Betätigungsfeld für alle weiter, indem sie Ziele setzen, verschiedene Aktivitäten planen und durchführen sowie schließlich prüfen, ob sie die angestrebten Ziele erreicht haben. Manche Projekte dauern Wochen oder gar Monate und wecken aufgrund von Ausstellungen, Vorführungen oder Zeitungsberichten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.
Im ersten Teil des vorliegenden Buches werden wir zunächst verdeutlichen, dass die Projektarbeit in Kindertageseinrichtungen aufgrund der heutigen Lebensbedingungen immer wichtiger wird: Beispielsweise werden Kinder aus der Erwachsenenwelt ausgegliedert und verbringen den größten Teil des Tages in „kindgerechten, nach pädagogischen Gesichtspunkten gestalteten Räumen („Institutionenkindheit
, „Verinselung). Die Wirklichkeit wird ihnen aus „zweiter
(durch Erzieher/innen) oder „dritter Hand (durch Fernsehen/Computer, „Medienkindheit
) vermittelt. Erfahrungsmöglichkeiten werden aufgrund der „Entsinnlichung kindlichen Lebens" immer einseitiger, viele Natur-, Körper- und Selbsterfahrungen werden aufgrund der Urbanisierung, Verkehrsgefährdung und ständigen Beaufsichtigung immer seltener gemacht.
Nach der Analyse solcher Charakteristika heutiger Kindheit werden wir aufzeigen, wie durch Projekte Selbsttätigkeit, entdeckendes Lernen, Ganzheitlichkeit, Lebensnähe, Handlungs- und Gemeinwesenorientierung in die Kindertageseinrichtungen zurückgeholt werden können. Anhand eines kurzen historischen Abrisses, der für die 2013 erschienene Auflage dieses Buches überarbeitet und erweitert wurde, werden wir darstellen, dass die Projektmethode bereits eine lange Geschichte hat. Dann werden wir den Verlauf eines Projekts – also Planung, Durchführung und Nachbereitung – „idealtypisch" beschreiben. Schließlich wird noch auf einige Rechtsfragen, insbesondere zur Aufsichtspflicht, eingegangen werden.
Im zweiten Teil des Buches verdeutlichen Praxisberichte das ganze weite Spektrum der Möglichkeiten, in denen sich Projektarbeit in Kindertageseinrichtungen entfalten kann. Die beschriebenen Projekte erleichtern es Kindern, sich ihre natürliche, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umwelt zu erschließen. Die Kinder machen Naturerfahrungen im Wald, lernen Abläufe in der Landwirtschaft kennen, legen Gartenbeete an, bauen Hühnerställe, erkunden die Einrichtungen der Kirchengemeinde, erforschen den Ortsteil, beschäftigen sich mit der Heimatgeschichte, gewinnen einen Eindruck vom Leben in verschiedenen Epochen, besuchen Museen, Redaktionen und Verlage, beschäftigen sich mit den Berufen ihrer Eltern, erfahren Grundzüge des Wirtschaftslebens, kommen in Kontakt mit Senioren, „reisen" in fremde Welten und werden mit anderen Kulturen konfrontiert.
Schon diese Beispiele zeigen, dass Kinder im Rahmen der Projekte mit verschiedenen Gruppen von Menschen in Berührung kommen – mit Handwerkern, Geschäftsleuten, Pfarrern, Politikern, Künstlern, Senioren, Museumspädagogen, Ausländern usw. Die Erkundung der Erwachsenenwelt und des Nahraumes führt zur Erweiterung des kindlichen Horizonts. Es kommt zu neuen Lernerfahrungen – nicht nur im kognitiven Bereich, sondern auch in der Sozial- und Persönlichkeitsentwicklung. Selbsttätigkeit und Eigenständigkeit werden gefördert. Wenn die Kinder an der Planung der Projekte beteiligt werden, kommt es auch zu einer Demokratisierung der Kindertageseinrichtungen. Schließlich erlaubt die Projektmethode die aktive Mitarbeit von Eltern und anderen Erwachsenen. Diese können in die Projekte eingebunden werden und auf diese Weise den Kindergarten-,,Alltag" kennen lernen. Projekte erzeugen bei Eltern nicht nur Begeisterung, sondern führen oft auch zu einer generellen Anerkennung und Unterstützung der vom Kindergartenpersonal geleisteten Arbeit.
Schon diese kurze Einführung zeigt die große Bedeutung der Projektarbeit für Kindergarten und Hort auf. Jede Tagesstätte sollte im Verlauf eines Jahres zumindest einige Projekte durchführen. Dieses Buch bietet hierzu eine Fülle von Anregungen und nachahmenswerten Beispielen. Theorie und Praxis werden gleichermaßen berücksichtigt. Sie können das Buch von vorne bis hinten lesen; es ist aber ebenso möglich, mit den Praxisbeispielen des zweiten Kapitels einzusteigen, um dann zum theoretischen ersten Teil überzugehen.
Nicht versäumen möchte ich, mich an dieser Stelle bei Sylvia Maria Fenzl, Gabi Gietinger, Bernadette Heiß, Claudia Matheisl, Gretel Michelfeit und Carmen Wagner zu bedanken, die viele Projektbeschreibungen für dieses Buch beisteuerten. Frau Helga Kudies gebührt Dank für das Schreiben des Manuskripts.
1. Grundlagen der Projektarbeit
1.1 Kindheit heute
Die pädagogische Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Projektarbeit werden deutlich, wenn wir uns mit den Charakteristika der heutigen (Klein-) Kindheit beschäftigen. So können wir feststellen, dass Kinder einen zahlenmäßig immer kleiner werdenden Teil unserer Bevölkerung bilden. Sie werden zunehmend marginalisiert, als Minderheit an den Rand der Gesellschaft gedrängt. In zahlreichen Bereichen wie im Wohnungs- und Städtebau oder im Straßenverkehr ist eine strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber Kindern zu beobachten.
Für unser Thema ist aber wichtiger, dass diese Marginalisierung mit einer Ausgliederung von Kindern aus der Erwachsenenwelt bzw. aus Zentren des Alltagslebens verbunden ist. Kinder werden in altershomogene oder einige wenige Jahrgänge umfassende Gruppen aufgeteilt und in Sonderumwelten betreut. Kaufmann (1990, S. 106) erklärt: „Charakteristisch für diese Sonderumwelten ist, dass sie von Erwachsenen organisiert sind, dass der Gestaltungsraum der Kinder also von vornherein mit den Intentionen der Erwachsenen interferiert. Insoweit es sich um organisierte Betreuungseinrichtungen handelt, haben zudem mehr oder weniger professionalisierte hauptamtliche Betreuungspersonen das Sagen."
Zu diesen Sonderumwelten gehören Krippe, Kindergarten, Hort und Schule, sodass man auch von Institutionenkindheit sprechen kann. Da viele Eltern aber die Entwicklung ihrer Kinder ganzheitlich fördern wollen und meinen, dass dies in Kindertages- und Bildungseinrichtungen nicht geschehe, melden sie ihre Kinder zusätzlich in Sport- und Schwimmvereinen, Musik- und Ballettschulen an. Kinder verbringen somit immer mehr Zeit in kindgemäßen Räumen, in denen sie die Erfahrung einer kontinuierlichen Überwachung durch Erwachsene machen. Das trifft übrigens auch auf die Familie zu, da kleinere Kinder immer mehr Zeit in der Wohnung (im Kinderzimmer) verbringen, weil sie aufgrund der Verkehrsgefährdung oder der Bedrohung durch sexuellen Missbrauch nicht mehr nach draußen dürfen bzw. können.
Die meisten Sonderumwelten sind pädagogisch besetzt, d.h., die Erwachsenen treten Kindern mit einer Unterweisungsabsicht gegenüber. Je nach den Zielen der jeweiligen Institution sind sie nur an bestimmten Aspekten der kindlichen Existenz wie der Sozialentwicklung, der Beherrschung einer Sportart oder eines Musikinstrumentes interessiert. Durch die von ihnen geplanten Programme und Aktivitäten prägen sie die bei ihnen verbrachten Stunden. Damit haben Kinder immer weniger Möglichkeiten, zwanglos, selbstbestimmt, spontan und kreativ zu handeln, ihren eigenen Interessen zu folgen und momentane Bedürfnisse zu befriedigen.
Kinder wechseln fortwährend zwischen der Familie und den Sonderumwelten. Aber auch Besuche bei Freunden erfolgen zumeist nur noch nach Verabredung. So wird das Leben von Kindern durch Termine und die Öffnungszeiten der Kinderbetreuungs-, Freizeit- und Bildungseinrichtungen – also durch Zeitpläne – bestimmt; bei der Nutzung vieler Angebote ist der Tagesablauf zerstückelt. Die Eltern kleinerer Kinder organisieren das außerfamiliale Programm und transportieren sie zu der jeweiligen Institution. Die Wege werden zumeist mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt, sodass die zwischen den Aufenthaltsorten der Kinder liegenden Räume nur noch vorüberrauschen, sich letztlich verflüchtigen und erlebnisarm sind. Die Kinder wechseln von der „Wohninsel zur „Kindergarten-
oder „Rollschuhbahninsel"; die übrigen Räume – zumeist die Lebensbereiche der Erwachsenen – bleiben unerforscht. Welches Ihrer Kinder hat wirklich das Dorf oder den Stadtteil erkundet, in dem es wohnt oder die Kindertageseinrichtung besucht? Welches kennt die örtlichen Geschäfte und Betriebe, Kirchen und Museen, Friedhöfe und Parks? Welches Kind hat einen Eindruck von der Arbeitswelt seiner Eltern gewonnen? Welches weiß, wo sich Polizei, Feuerwehr, Kläranlage und Mülldeponie befinden und was deren Funktionen sind?
Durch die Verinselung werden die Erfahrungsmöglichkeiten stark eingeschränkt, bleiben Kindern viele Bereiche der räumlichen Umgebung und der Erwachsenenwelt unbekannt. Für sie wird es immer schwerer, sich die Wirklichkeit anzueignen, zumal diese immer komplexer und undurchschaubarer wird. Damit ist eine gänzlich andere Situation als z.B. noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gegeben, als Kinder ihre Wohnumgebung in mit zunehmendem Alter immer größer werdenden Radien selbständig erforschten. Früher spielten Kinder unbeaufsichtigt im Wald, an Bächen und auf Wiesen, tollten auf der Straße und dem Hof herum und maßen ihre Kräfte aneinander. So ganz nebenbei beobachteten sie das Verhalten von Tieren und Vögeln, lernten Bäume und Pflanzen kennen und registrierten die jahreszeitlich bedingten Veränderungen der Natur. Da sie auf dem Hof oder im Garten mithelfen mussten, kannten sie Getreide-, Gemüse- und Obstsorten sowie die verschiedenen Anbaumethoden. Oft waren sie für die Versorgung von Hühnern, Brieftauben, Stallhasen und anderen Tieren zuständig. Die Kinder spielten und arbeiteten mit denselben Werkstoffen wie Erwachsene, ahmten Arbeitsvorgänge ihrer Eltern nach, stellten viele Gegenstände selbst her und mussten Aufgaben im Haushalt, im Geschäft oder in der Werkstatt übernehmen. Spiel- und Arbeitstätigkeit gingen ineinander über; die Kinder wuchsen „automatisch" in die Erwachsenenwelt hinein.
Heute haben Kinder nur selten Gelegenheit zum unbeaufsichtigten Spiel in der Natur, zum Herumtoben und zu spontanen Kontakten mit anderen Kindern – die wenigsten Stadtkinder finden in der Nähe unbebaute Grundstücke oder naturbelassene Flächen vor, aber auch Kinder in Landgemeinden dürfen oft die nächste Wohnumgebung nicht verlassen. Spielplätze sind kein Ersatz, da sie zumeist weder ansprechend noch altersgerecht sind. Wälder, Gewässer, landwirtschaftlich genutzte Flächen, Nutztiere und Bauerngärten werden häufig nur noch im Vorbeifahren wahrgenommen. Hinzu kommt, dass es heute auch an Möglichkeiten zur Entwicklung motorischer Kompetenzen und handwerklicher Fertigkeiten mangelt, da Kinder nur noch selten in die planvolle Herstellung von Gegenständen eingebunden werden, mit Werkzeug umgehen dürfen oder Aufgaben von ihren Eltern übertragen bekommen. Außerdem sind viele Haushaltsfunktionen aufgrund des Erwerbs technischer Geräte sowie des Waren- und Dienstleistungsangebots unnötig geworden. Eine spielerische Vorbereitung auf spätere Tätigkeitsbereiche Erwachsener erfolgt kaum noch.
Die Aneignung der natürlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt durch Beobachtung und Selbsttätigkeit wird somit immer schwerer möglich. Gudjons (1994, S. 13) ergänzt: „Die reichhaltigen – nicht nur sozialen – Erfahrungsmöglichkeiten haben sich damit erheblich reduziert. Nimmt man dann noch den Ersatz des Brotbackens durch ‚Aufbackbrötchen‘, den Ersatz der Konservierungstechniken durch Tiefkühltruhe und das Wegfallen von Feuermachen und Kohleschleppen durch die vollautomatische Zentralheizung u.a.m. hinzu, dann zeigt sich sehr rasch, in welchem Maß diese Entwicklung – nicht nur in der Großstadt – zum Verlust von anregender sinnlich-unmittelbarer Erfahrung im tätigen Umgang mit Dingen und Menschen geführt hat."