Wenn Landsleute sich begegnen, und andere Novellen
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Wenn Landsleute sich begegnen, und andere Novellen - Jassy Torrund
Jassy Torrund
Wenn Landsleute sich begegnen, und andere Novellen
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2022
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066111403
Inhaltsverzeichnis
Wenn Landsleute sich begegnen.
Unser gemeinsamer Mann.
Heim!
Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Übersetzungsrecht vorbehalten
Wenn Landsleute sich begegnen.
Inhaltsverzeichnis
Nie in ihrem ganzen Leben war Leonie Wilten so grenzenlos überrascht und enttäuscht gewesen – und dennoch nicht ohne das Gefühl einer leis und heimlich aufzuckenden Freude, wie an jenem Frühlingsabend, wo die Großeltern, von ihrem gewohnten Spaziergang heimkehrend, ihr den ins Haus geschneiten Gast vorstellten.
Die beiden Gäste vielmehr: den Dr. med. Erdmann und dessen Schwester, die mit eigenem Automobil in der Kreisstadt waren und auf dem Heimweg, weit draußen auf der Chaussee, eine gründliche Panne erlitten hatten.
Großvater Neuhaus, der alte Automobilhasser, der alle Welt und den alle Welt kannte, war mit halb schadenfroher Neugier hinzugetreten und hatte im Dämmern des Märzabends den ihm flüchtig bekannten Arzt eines weitentlegenen Kirchdorfes erkannt und ihm ohne Besinnen Hilfe und Unterstand angeboten. Beides hatte Dr. Erdmann dankend angenommen und mit Hilfe von ein paar Arbeitern das verunglückte Vehikel in Großvaters Schuppen geschleppt. Er hatte dann um Wagen und Pferd nach Hause telephoniert, sich ein wenig gesäubert – denn er und Lieselott, seine Schwester, hatten schon eine halbe Stunde angestrengt und im Schweiße ihres Angesichts über dem widerspenstigen Auto gearbeitet, ehe Hilfe kam – und nun erschienen die beiden späten unerwarteten Gäste im hellen behaglichen Speisezimmer von »Haus Friede«, wo der gedeckte und mit großem Schneeglöckchensträußen geschmückte Abendtisch schon bereit stand. Sie wurden dem Haustöchterchen und ihrem Vetter Luz Neuhaus vorgestellt und erzählten in lebhaftem Durcheinander, lachend und scheltend, ihr Abenteuer. Vor drei bis viertehalb Stunden konnte der Einspänner mit dem braven Füchslein, das schon so oft die Sünden des eigensinnigen Schnauferls gutmachen mußte, nicht da sein. Man hatte also vollauf Zeit, recht bekannt und vergnügt miteinander zu werden. Improvisierte Feste sind oft die allergelungensten, und dieser ins Haus geschneite Abendbesuch war im wahren Sinne des Worts ein Fest für die sehr einsam lebende Familie des großen Ziegeleibesitzers.
Der kleine Unfall brachte die bisher einander Fremden schnell und zwanglos nahe, und das Gespräch glitt leichtbeschwingt vom Hundertsten ins Tausendste. Man grub gemeinsame Beziehungen aus, erzählte die neuesten Anekdoten und Varietéwitze, lachte und plauderte, und während all dieser Zeit zerbrach Leonie Wilten sich den feinen klugen Kopf, wann und wo sie diesen Dr. Erdmann mit der langen weißen Narbe über Stirn und Schläfe schon gesehen hätte. Denn eben diese Narbe haftete zäh und fest in ihrer Erinnerung, die mußte sie schon einmal im Leben gesehen haben, nur daß sie damals viel breiter und noch frisch und rot war, während sie jetzt wie ein schmaler weißer Strich über das sonnverbrannte Gesicht des Landarztes lief. Aber wann? aber wo?
Lieselott Erdmann beschrieb mit drolliger Empörung und fast dramatischer Anschaulichkeit eine der zahlreichen Pannen, die sie und ihr Bruder im letzten halben Jahr, seit er glücklich-unglückseliger Autobesitzer war, erlitten hatten. Zerstreut hörte Leonie zu, während unter der Schwelle ihres Bewußtseins beständig die Frage bohrte: Wann? wo? – als wenn den tiefsten Hintergrund ihres Hirns ein undurchdringlicher Vorhang verhüllte, den sie trotz aller Mühe nicht imstande war zu lüften. Jeder weiß, wie aufreizend und gedankenabsorbierend solch vages Erinnern ist – und nur höflichkeitshalber warf Leonie die Frage dazwischen: »Also um ein einziges kleines verlorenes S–tiftchen?«
Es passierte ihr sonst selten, daß sie den scharftrennenden St-Laut der nordwestlichen Provinzen, den halbvergessenen Dialekt ihrer Heimat, anwandte, und Dr. Erdmann, der soeben den beiden Herren eine flüchtige Skizze der neuesten Bremsvorrichtung für Bergfahrer aufzeichnete, wandte sich überrascht um.
»Sie sind doch wohl keine Hiesige, gnädiges Fräulein?«
»Meine Enkeltochter ist in Schleswig-Holstein geboren – bitte weiter, lieber Doktor!«
Die Aufforderung des alten Herrn blieb unbeachtet.
»Dann sind wir ja beinah' Landsleute! – ich bin nämlich ein Oldenburger Kind,« rief der Doktor erfreut.
»Landsleute!«
Das war's. Wie auf ein Stichwort zerriß der Vorhang in Leonies Hirn von oben bis unten – und ein kleines, längstvergessenes Erlebnis der Vergangenheit schob sich mit einem Ruck erlöst und lebendig in den Vordergrund.
Tief atmete sie auf und ward im selben Moment wie mit Blut übergossen.
So sah der Mann aus, ihr Helfer und Erlöser aus banger Not? – ihr ritterlicher »Landsmann«, den sie einst im fernen fremden Lande getroffen und der sie…
Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende, alles Blut ebbte zum Herzen zurück und das war der Moment, wo sie die große Enttäuschung empfand.
Jahrelang hatte sie auf ihn gewartet, ihn wiederzusehen gehofft, den Helden ihrer Backfischträume, ihren Lohengrin, ihren Gralsritter, kühn und zart zugleich, den idealschönen schlanken Jüngling mit der blutroten Narbe auf der weißen Stirn und dem weichen blondgelockten Haar, das ihm das Aussehen eines Dichters gab – und nun dieser wohlbeleibte Vierziger – dafür taxierte sie ihn – mit fast kahlem Schädel und dem lebemännisch gestutzten Prinz Heinrich-Bart – ein und derselbe – diese beiden so himmelweit verschiedenen Köpfe!
Und dennoch – wenn sie näher zusah – ja, die Augen waren noch dieselben: braun, mit einem goldig aufleuchtenden warmen Schimmer und jenem undefinierbaren Ausdruck, der sie ihr einst so lieb und unvergeßlich gemacht. Und dann die Narbe – und die Landsmannschaft!
Aber Leonie wollte ganz sicher gehen.
Nachdem der Großvater noch einiges gefragt und Dr. Erdmann beiläufig erzählt hatte, daß er in Breslau und Greifswald studiert und nach bestandenem Staatsexamen zufällig den erkrankten Landarzt in Groß-Lutschine vertreten hätte, um nach dessen Tode halb wider Willen seine Praxis zu übernehmen und so in diesem verlorensten Winkel der Mark Brandenburg hängenzubleiben. Er, dessen Wünsche und Hoffnungen eigentlich immer auf die Universitätskarriere gerichtet waren, seit Jahren nun schon hier ansässig und so eins geworden mit seinem Beruf und dem Landleben, daß er seine hochfliegenden Pläne längst verschmerzt hatte – warf Leonie heuchlerisch die Bemerkung hin: »Schade nur, daß die Gegend hier gar so flach und reizlos ist – wenn's wenigstens Hügel und Seen gäbe wie daheim! Oder Berge wie in Schlesien – Sie kennen das schlesische Gebirge wohl nicht?«
»O doch, ich kenne beides: das Riesengebirge wie die Sudeten. Einen großen Teil meiner Universitätsferien verlebte ich bei einem Jugendfreunde meines Vaters in Mittelwalde. Na ja – Berge sind ja ganz schön und nett, um drauf herumzukraxeln – aber für einen Schnauferlbesitzer und Landdoktor ist halt doch das Flachland das bequemste Terrain – und Heide und Kiefernwald haben auch ihren Reiz,« sagte er heiter, und wieder gab das Lächeln seinem stark gewordenen Gesicht mit den schlaffen Zügen etwas Jugendliches, denselben treuherzig liebenswürdigen Ausdruck von