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Als meine Therapeutin schwieg: Roman
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Ebook150 pages1 hour

Als meine Therapeutin schwieg: Roman

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About this ebook

Eine Psychotherapeutin und drei ihrer Klienten. Alle vier verbindet eines: Sie brauchen Hilfe. Ein Roman über das Geben und Nehmen im psychotherapeutischen Prozess, über die Verletzlichkeit der Menschen, über Stolz und Scham, und über die Möglichkeit der Hoffnung in der scheinbaren Unmöglichkeit eines Gesprächs.

Adriana ist Borderline-Patientin, sie verhält sich herausfordernd, aggressiv und neigt zur Selbstverletzung. Simon leidet an Depressionen, er sollte schleunigst seinen Job kündigen, kann sich aber nicht dazu entscheiden. Der achtjährige Adil spricht seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr, was seinen Vater sehr zermürbt. Sie alle sind Klienten von Tina K., einer Psychotherapeutin. Aber auch Tina K. hat etwas erlebt, das sie aus der Bahn geworfen hat – sie verliert als Folge dessen mehr und mehr die Kontrolle über ihr Leben. Während sie sich von ihrer Partnerin Martha zurückzieht, sucht sie sich in Klientin Adriana eine ebenso unpassende wie instabile Verbündete. Als ihr Klient Simon einen Selbstmordversuch unternimmt, gibt sich Tina die Schuld daran. Die notwendige Konsequenz scheint offensichtlich zu sein: die eigene Praxis schließen und sich selber Hilfe suchen. Wo aber findet diejenige Hilfe, die den Glauben an den Erfolg des Helfens verloren hat?

Lisa Mundts fesselnder Debütroman zeigt mit sprachlicher Präzision und psychologischer Tiefgründigkeit, was es bedeutet, anderen zu helfen, wenn man sich selbst nicht mehr zu helfen weiß. Meisterlich pointiert führt die Autorin durch die inneren Landschaften und Beziehungen der Figuren und erschafft damit ein atmosphärisches Kammerspiel, das in den Bann zieht.
LanguageDeutsch
PublisherMilena Verlag
Release dateFeb 12, 2020
ISBN9783903184565
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    Als meine Therapeutin schwieg - Lisa Mundt

    13

    1

    Ihre Fingerkuppen streichen über den Bilderrahmen, der eine Fotografie von einer Schildkröte einschließt. Das Tier sitzt auf einem Felsen, seine Augen sind geschlossen. Sie kratzt sich rhythmisch am Kinn und betrachtet das Bild. Ich greife nach der Kanne und schenke uns beiden eine Tasse Pfefferminztee ein. Sie geht weiter durch das Zimmer. Ich beobachte sie. Dazwischen werfe ich einen Blick auf die Uhr. Ich stelle sie immer neben der Teekanne auf. Die Uhr ist eine Buddha-Figur, ihr Bauch ist das Ziffernblatt. Es hat aufgehört zu schneien. Das Fenster ist eine graue Fläche. Sie richtet ihren Blick an meinem Kopf vorbei und fixiert einen Punkt an der Wand. »Ich trinke keinen Tee.«

    »Sie müssen ihn nicht trinken.«

    »Sag Du zu mir.«

    »Lieber nicht.«

    »Sag Du zu mir.« Sie setzt sich. Ihr kantiges Knie spitzt in meine Richtung. Ich nehme einen Schluck Tee.

    »Deine Kollegin hat mich dir vererbt.« Sie wippt mit dem Turnschuh. Ihr Blick wandert von der Wand zu meinen Augenbrauen und hängt sich dort fest. »Ich mag deine Kollegin nicht.«

    Ich warte.

    »Sie ist nämlich tot.«

    Ich warte. Sie lacht.

    »Nein. Ich bin tot.«

    Ich warte.

    »Vor fünfzehn Jahren habe ich mich erfolgreich umgebracht. Das hier –«, sie streckt die Fäuste in die Höhe und gibt einen Blick auf ihre Handgelenke und die weißen Bandagen frei, »– war nur ein Versuch.«

    Ich nehme noch einen Schluck Tee. Sie wartet. Dann schiebt sie den rechten Daumennagel ins Nagelbett vom linken. Sie bückt sich nach ihrer Handtasche und zieht in derselben Bewegung ein Taschentuch aus dem vorderen Fach. Sie presst es auf ihren Daumen. Durch den weißen Stoff sickert Blut. Mein Blick wandert zurück zur Handtasche.

    »Warum kommt man dafür nicht ins Gefängnis?«

    »Wofür?«

    »Für den Mordversuch.«

    »Sie meinen an sich selbst?«

    »Noch habe ich niemand anderen umgebracht.«

    Ich zucke mit den Schultern. »Das würde keinen Sinn ergeben.«

    »Mordversuch ist Mordversuch.«

    »Sie waren immerhin in der Psychiatrie. Bei meiner Kollegin.«

    »Deiner Kollegin.«

    »Ja.«

    »Eingesperrt.«

    »Eben.«

    Sie zuckt auch mit den Schultern. Dann bückt sie sich wieder zu ihrer Tasche hinunter und zieht diesmal eine Zigarette hervor. Kein Feuerzeug. Das blutige Taschentuch fällt auf den Boden. Sie dreht die Zigarette zwischen ihren Fingern hin und her. Ich fange ihren Blick ein. Eines ihrer Augen ist aus Glas. Es ist schöner als das andere.

    »Ich habe aufgehört. Mit dem Rauchen. Weil deine Kollegin gesagt hat, ich darf nicht mehr.«

    »Ich habe nie aufgehört.«

    »Du rauchst?«

    »Schon lange.«

    Sie wirkt verstört.

    »Woran denken Sie?«

    Sie greift an ihre Hüfte und hebt das karierte Hemd an. Ruckartig, bis zum Hals. Ich sehe einen rosa Push-up-BH, weißes Narbengewebe und hell- bis dunkelrote Streifen. An einer Stelle hat sich die Kruste gelöst, ein dunkler Tropfen quillt aus dem Schnitt hervor. Sie zieht das Hemd wieder hinunter. Durch die aufgekratzte Stelle bildet sich ein Fleck. Dann beugt sie sich über ihre Oberschenkel. Sie setzt einen Fingernagel am Knöchel an und kratzt über das Schienbein. Die Strumpfhose sirrt. Sie zieht den schwarzen Nylonstoff auseinander. Er reißt. Ich sehe weißes Narbengewebe, zwei alte Brandwunden und blaue Flecken. Sie lehnt sich zurück und schlägt das rechte Bein über das linke, dann hebt sie die Zigarette auf.

    »Ich bin oft hingefallen.« Sie zerbricht die Zigarette. Ich werfe einen Blick auf die Uhr.

    »Bist du traurig?«

    »Nein.«

    »Glücklich?«

    »Nein.«

    »Hast du Angst?«

    »Manchmal.«

    »Jetzt?«

    Ich denke nach. »Nein.«

    Sie nickt und zerreibt die Zigarette zwischen den Fingern. Der lose Tabak fällt auf den Teppich. Sie streift den rechten Turnschuh ab und verteilt die Krümel mit den Zehen in den weißen Fasern.

    »Deine Kollegin ist eine Hure.«

    Ich warte.

    »Sie schläft mit ihren Patientinnen. Fickt sie ordentlich durch.«

    »Sind Sie von meiner Kollegin gefickt worden?«

    »Ich bin zu hässlich.« Sie schlüpft wieder in ihren Turnschuh und wippt zweimal mit dem Fuß. Dabei stößt sie am Tisch an. Ihre Tasse fällt um, der Tee sickert in den Teppich. Wir warten.

    »Hast du ein Taschentuch?«

    »Sie haben ein Taschentuch.«

    Sie bewegt sich nicht. Ich warte.

    »Ich habe Angst, alleine zuhause zu sein. Dort ist jemand.«

    »Wer?«

    »Mein Freund.«

    »Haben Sie Angst vor Ihrem Freund?«

    »Nein.«

    »Wie heißt er?«

    »Adrian.«

    Ich denke nach. »Adriana und Adrian?«

    »Ich habe ihn gezwungen meinen Namen anzunehmen. Ich bin nämlich auch eine Hure.«

    Ich nicke.

    »Es ist schlimmer alleine zu sein, wenn jemand da ist. Davor habe ich Angst.«

    »Hat Adrian auch Angst?«

    »Ja. Viel mehr als ich.«

    »Wollen Sie, dass er Angst hat?«

    »Nein.«

    Ich warte.

    »Mein Auge –«, sie tippt mit dem Nagel dagegen, »– ist aus Glas.«

    Ich nehme einen Schluck Tee. »Es ist schöner als das andere.«

    »Warum sagst du das?«

    »Sie können dagegenklopfen. Es passiert nichts.«

    »Ist das gut, wenn nichts passiert?«

    »Ja.«

    Sie sieht mich an. »Mir ist schon viel passiert. Auf dem Weg hierher bin ich fast von einer Straßenbahn überfahren worden.« Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. »Die Leute haben mir nicht geholfen. Ich habe geschrien.«

    »Was hat der Schaffner gesagt?«

    »Nichts. Er hat mir mit der Faust gedroht.«

    »Haben Sie ihm auch gedroht?«

    Sie sieht mich an. »Ich war im Schock.«

    »Was haben Sie dann gemacht?«

    Sie fährt mit den Fingerspitzen über die Armlehne. Dann hebt sie die Hand und zeigt mir den Mittelfinger.

    »Da wird er sich gefreut haben.«

    »Das war für dich.«

    Ich nicke. Sie wartet.

    »Ich wollte sofort nach Hause fahren. Ins Bett. In meine schöne Wohnung.«

    »Was ist schön an Ihrer Wohnung?«

    »Du würdest in meiner Wohnung durchdrehen. Es würde dir dort überhaupt nicht gefallen.«

    Ich warte.

    »Überall Stofftiere. Ich habe alles aufgehoben. Jedes Jahr ein Stofftier, bis ich sechzehn war. Von meiner Mama.«

    Ich nicke.

    »Adrian hat mir ein Stofftier geschenkt. Letztes Mal, auf der Psychiatrie. Ich habe es der Pflegerin von der Nachtschicht geschenkt.«

    »War es ein hässliches Stofftier?«

    »Eine Schildkröte.«

    »Mögen Sie keine Schildkröten?«

    »Nicht wenn sie eingesperrt sind.«

    »Vielleicht würde mir ja die Wohnung von der Pflegerin gefallen.«

    Sie starrt mich an. Ich trinke meinen Tee aus, er ist kalt. Die Stunde ist in einer Minute vorbei. Adriana steht auf, an ihrem Bein klafft die Strumpfhose. Ich sehe, dass Schneeflocken gegen die Fensterscheibe fallen. Sie geht an meinem Stuhl vorbei und ihre Handtasche schlägt gegen meine Schulter. Ich bleibe sitzen. Sie schließt die Tür nicht. Ich höre ihre schnellen Schritte im Treppenhaus. Ich stehe auf, schließe die Tür und stelle mich ans Fenster. Sie steht im Hof und raucht eine Zigarette. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Sie schaut zu meinem Fenster hoch. Die lose Strickmütze fällt ihr in den Nacken und dann in den Schnee. Sie bewegt sich nicht. Ich wähle ihre Nummer. Sie greift in ihre Jackentasche, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Dann presst sie ihr Handy ans Ohr. Ich spreche leise.

    »Nächste Woche, selbe Zeit.«

    Sie sagt nichts und legt auf. Steckt das Handy zurück in die Tasche. Sie lässt die Zigarette fallen und geht. Ihre Mütze liegt als grauer Fleck im Schnee.

    Ich sperre die Praxis ab, drehe mich einmal um und starre meine Wohnungstür an. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, sperre auf und gehe hinein. Sperre zwei Mal ab, oben und unten. Ich lege mein Aufnahmegerät neben die Schlüsselschale und sehe aus dem Fenster. Die Schneeflocken schmelzen auf der Scheibe, sie laufen wie Spucke hinunter und bleiben irgendwann stecken. Ich greife nach dem Aufnahmegerät und drücke auf Play.

    »Adriana hat eine schwarze Ledertasche mit vielen Fächern. Sie sieht praktisch und neu aus. Woher hat sie die Tasche? Ich brauche auch –«

    Ich drücke auf Stopp, gehe in die Küche und drehe den Ofen an. Das Licht fällt auf Marthas vegane Lasagne mit Kichererbsen. Ich starre die braun-rote Masse an. Dann gehe ich ins Badezimmer, stecke den Stöpsel in die Badewanne und lasse heißes Wasser einlaufen. Ich werfe einen Kamillenteebeutel hinein und gehe zurück in die Küche, wo ich wieder die braun-rote Masse anstarre. Mein Handy läutet.

    »Wann kommst du zu Christian?«

    »Martha.«

    »Ich werde um halb neun dort sein.«

    »Ich auch.«

    »Wirklich?«

    Ich warte. Martha wartet. Sie schnaubt.

    »Na dann.«

    »Warte.«

    »Ja?«

    »Geschenk?«

    Ich höre sie atmen. »Er will keine Geschenke.«

    »Er lügt.«

    »Natürlich lügt er.«

    »Martha.« Ich öffne meinen Mund.

    Martha ist schneller. »Ich muss weitermachen. Der Kaninchenstall ist voller Scheiße.«

    Sie legt auf. Ich lege das Handy auf die Ablagefläche. Die Lasagne beginnt nach Zimt zu duften. Ich gehe ins Badezimmer und fische den Kamillenteebeutel aus dem Wasser. Die Wanne ist halbvoll. Ich lasse kaltes Wasser nach. Schnell ziehe ich mir die Bluse über den Kopf und schlüpfe aus meiner Hose. Dann aus meiner Unterhose. Dann aus meinem BH. Ich fasse mir kurz an die Schulter und zucke zusammen. Dann drehe ich den Wasserhahn ab und lasse mich in die Wanne gleiten. Das heiße und kalte Wasser schwappen über meinen Körper; zwei Strömungen, die zueinander finden.

    Ich parke genau vor Christians Wohnung. Ein einziger Platz ist noch frei. Es hat aufgehört zu schneien. Ich steige aus, schließe den Wagen ab und gehe zwei Schritte

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