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Die Träne der Aphrodite
Die Träne der Aphrodite
Die Träne der Aphrodite
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Die Träne der Aphrodite

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About this ebook

Sasha Barnett, ehemalige Personenschützerin, wacht ohne Erinnerung im Krankenhaus auf. Blut klebt an ihrer Kleidung, und die Polizei verhört sie als Tatverdächtige – dabei sollte sie nur in der Detektei von Hank Ruben aushelfen. Schon bald vermutet sie einen Zusammenhang zwischen den mysteriösen Geschehnissen und ihrem Auftrag, für die reiche Familie Duprais einen entwendeten Saphir wiederzubeschaffen – jedoch liegt dieser Diebstahl schon sechzig Jahre zurück …
Umso größer ist ihre Überraschung, als unerwartet Arizona auftaucht, die ebenfalls nach dem Stein sucht und wenig begeistert ist, als Sasha ihr in die Quere kommt. Zu allem Überfluss macht es sich auch noch die unnahbare Dr. Josephine Lawson zur Aufgabe, Sasha helfen zu wollen. Die beiden Frauen sind allerdings ihr geringstes Problem, denn plötzlich steht Sashas Leben auf dem Spiel, und eine mörderische Jagd beginnt …
LanguageDeutsch
PublisherHomo Littera
Release dateFeb 17, 2020
ISBN9783903238527
Die Träne der Aphrodite
Author

Reg Benedikt

Reg Benedikt, geboren 1973, ist eine deutsche Schriftstellerin, die mit Vorliebe Protagonistinnen erschafft, die nicht allzu zimperlich sein dürfen. Inspiriert wird sie von Actionfilmen, Fantasy-Epen und Science-Fiction-Schlachten. Auf dem Weg zur Arbeit führt sie oftmals Gedankendiskussionen mit ihren Heldinnen. Dabei ist die entscheidende Frage nicht, ob sich ihre Charaktere verlieben, sondern vielmehr wie und wann. Reg Benedikt lebt mit ihrer Frau und diversen Fellnasen in der Nähe von Berlin.

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    Book preview

    Die Träne der Aphrodite - Reg Benedikt

    KAPITEL 1

    Die Schreie waren unerträglich – voller Wut und Verzweiflung, als würde die Frau die schlimmsten Abgründe der Hölle durchleben. Man hatte sie ans Bett gefesselt, ihr ganzer Körper bäumte sich auf und wehrte sich gegen die breiten Lederbänder, die man ihr um die Hand- und Fußgelenke gelegt hatte. Es war kaum mit anzusehen. Mit aller Kraft warf sie sich herum und gebärdete sich wie eine Wahnsinnige.

    Die Kamera zoomte näher heran.

    Die blonden Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht. Vor Anstrengung war die Haut gerötet und ihre Augen weit offen, aber blind für das, was um sie herum geschah. Sie hatte einen starren unheimlichen Blick. In ihrer Raserei, sich nicht befreien zu können, fletschte sie die Zähne, und Speichel lief über ihre Lippen.

    „Es reicht", flüsterte ich.

    Der Bildschirm wurde schwarz, und in der jetzt dunklen Oberfläche spiegelte sich wieder das Gesicht der Frau. Blass war es, mit dunklen Ringen unter den Augen, und sie schaute mir betroffen und verwirrt entgegen.

    Ich wandte mich von meinem Spiegelbild ab. Meine Hand zitterte, als ich die Striemen an meinem Handgelenk massierte. Um das Beben zu verbergen, faltete ich meine kalten Finger und versteckte sie im Schoß.

    Das Krankenhauszimmer, in dem ich mich befand, war nicht ungewöhnlich, außer, dass es ein Einzelzimmer war. Ich war schon in Krankenhäusern gewesen – viel zu oft, aber meist mit nervenden, unangenehmen Zimmergenossen. Jetzt wurde mir das zweifelhafte Privileg eines Einzelzimmers zuteil, und ich hätte gerne darauf verzichtet.

    Ich war auch nicht allein. Im Gegenteil, das Zimmer war unangenehm überfüllt. Ein Arzt war hier, indischer Abstammung, und zwei Polizisten. Einer in Uniform und einer in Zivil. Der in Zivil machte mir Sorgen. Er hatte sich als Moore vorgestellt. Er war derjenige, der mir das Leben schwer machen würde. Auch daran erinnerte ich mich deutlich. Es waren immer die ohne Uniform. Die, die sich tarnten und auftraten wie jeder andere.

    Ich fühlte mich ausgesprochen unbehaglich. Nicht nur wegen des verstörenden Videos, das sie mir eben gezeigt hatten, sondern auch, weil ich im Bett saß und nur eines dieser Krankenhaushemden trug, wo es überall reinzog. Genauso gut hätte ich nackt hier sitzen können. Ich hasste das. Ich fühlte mich schutzlos, und genau so war es wohl auch gedacht.

    Die Blicke des Zivilbullen lagen auf mir wie die eines Geiers, der wartet, bis seine Beute den letzten Atemzug getan hat.

    „Möchten Sie uns dazu etwas sagen?", fragte Moore mit tiefer sonorer Stimme. Er war noch keine vierzig, unrasiert, vermutlich überarbeitet wie die gesamte Polizei. Sein Anzug war zerknautscht, als hätte er darin geschlafen. Vielleicht war es sogar so.

    Ich schüttelte den Kopf.

    Was sollte ich denn sagen?

    Ich war entsetzt. Zutiefst entsetzt über das, was ich gesehen hatte. Diese Wahnsinnige auf dem Video hatte mein Gesicht, aber mir fehlte jegliche Erinnerung an diesen – Ausbruch. Mir fehlten generell einige Passagen der jüngsten Vergangenheit und darüber hinaus. Das war mir schon aufgefallen, und es machte mich nervös. Es ist beunruhigend, wenn man versucht, sich zu erinnern, wie man zum Beispiel ins Krankenhaus gekommen war, und da nichts ist. Gar nichts. Nur Leere.

    „Wie bin ich hierhergekommen?" Selbst meine Stimme war mir nicht vertraut, so heiser klang sie – wund vom Schreien. Ein Schauer lief mir über den Rücken.

    „Man fand Sie auf der Straße, in einer Seitengasse. Jemand hat den Notruf gewählt."

    „Jemand?"

    „Es war niemand mehr da, als der Notarzt eintraf. Moore musterte mich. „Außer Ihnen. Woran erinnern Sie sich?

    Eine wirklich sehr gute Frage, und je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger wollte mir einfallen. „An meinen Namen, sagte ich düster. „Sasha Barnett. Das klang immerhin vertraut. Der Rest war undeutlich und machte mir Kopfschmerzen.

    „Ja, den konnten Sie uns nennen. Verraten Sie uns, wo Sie waren?"

    „Ich weiß es nicht. Wo haben Sie mich denn gefunden?"

    Er schien zu überlegen, ob ich ihn verspotten wollte, zuckte dann aber nur mit den Schultern. „Am Südende der Stadt. Eine wirklich unschöne Gegend. Drogenumschlagplatz, Dealer, Waffenschieber. Er ließ das kurz sacken. „Was wollten Sie da?

    „Keine Ahnung ... Wissen Sie es?"

    Seine Stirn runzelte sich ungeduldig. Er wandte sich an den Arzt, der unbeteiligt mit meinem Krankenblatt dabeistand und vermutlich hoffte, noch rechtzeitig zu seiner Mittagspause zu kommen. „Verarscht sie mich, Doc?" Er klang richtig wütend. Vor allem tat er so, als wäre ich nicht zurechnungsfähig.

    Ärgerlich presste ich die Lippen aufeinander. Worauf lief das hinaus? Was war passiert, dass sie einen Ermittler auf mich ansetzten?

    Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann mir das nicht vorstellen. Er blätterte in meinem Krankenblatt – ich nahm an, dass es mein Krankenblatt war und nicht die Speisekarte der Kantine. Ausschließen konnte ich es aber nicht. „Sie war unter dem Einfluss eines wirklich starken Halluzinogens. Er las kurz in den Unterlagen und hob die Brauen, als würde er sich zum ersten Mal mit meinem Fall befassen. „Eine riskante Mischung. Kopfschüttelnd sah er Moore wieder an. „Sie wird sich nicht daran erinnern, was passiert ist, als sie unter dem Einfluss der Droge stand – und auch partieller Gedächtnisverlust ist nicht auszuschließen. Allerdings dürfen wir auf Besserung hoffen. Dabei drehte er sich mit einem glatten Lächeln zu mir.

    „Dürfen wir das?" Das wollte ich auch hoffen.

    „Auf alle Fälle. Sobald Sie in Ihre gewohnte Umgebung zurückkehren, werden sich die Erinnerungslücken schließen."

    Gewohnte Umgebung. Blieb nur die Frage, wo genau das sein sollte. „Hatte ich etwas bei mir?"

    Moore starrte mich misstrauisch an, schüttelte den Kopf und ging dann zu einer Tüte, die auf einem Tischchen lag. Er holte Kleidung heraus und warf sie mir hin. Ein Hemd, Jeans, Unterwäsche. Überall waren Blutflecken. Das Hemd war voll davon und ganz steif.

    „Wir wissen, dass das nicht Ihr Blut ist. Also, von wem könnte es wohl sein?" Moore war um Geduld bemüht.

    „Sie haben es doch bestimmt schon durch die Datenbank laufen lassen. Er sah mich nur an. Das genügte mir. „Ihr Schweigen verrät mir, dass sie keinen Treffer hatten.

    Wer immer da sein Blut verloren hatte, hatte gefährlich viel davon verloren. Dass es offensichtlich auf meinen Sachen klebte, machte mir Angst. War ich Opfer oder Täter? War der andere tot?

    Ich hielt Moores Blicken überraschend ruhig stand. „Sie haben gar nichts. Sie haben eine Verrückte, die mit einem Schuss hierherkam, der sie fast umgebracht hätte. Ich lächelte bitter. „Sie haben Blut von einem Opfer, das nirgends zu finden ist. Und ..., ich musterte ihn rasch, „keine Tatwaffe, schätze ich. Vielleicht nicht mal einen Tatort? Ein kurzes Zucken seiner Wangenmuskeln verriet mir, dass ich richtiglag. „Wenn das alles ist, dann würde ich jetzt gern gehen.

    Er kochte, hatte sich aber gut im Griff. Nur an diesem Muskelreflex seines Kiefers sollte er arbeiten.

    „Sie kennen sich gut aus." Es war eine Feststellung.

    Erst als er es aussprach, wurde mir bewusst, dass er recht hatte, und schwieg lieber.

    „Tragen Sie eine Waffe?"

    Eine halb automatische Glock Kaliber .40 Smith and Wesson, fünfzehn Kugeln im Magazin, dachte ich sofort.

    Ich blickte Moore an und schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich erinnere mich nicht – aber, nein, ich denke nicht."

    „Ich glaube Ihnen nicht." Er warf mir ein Portemonnaie zu, das ich geschickt auffing. Schwarzes Leder, schlicht und unscheinbar.

    Ich öffnete es und fand einen Ausweis und Führerschein mit meinem Gesicht. Kein Geld, keine Karten. „Ich dachte, ich hatte nichts bei mir?"

    „Hatten Sie auch nicht. Wir haben Ihren Wagen gefunden. Er stand nicht weit weg am Straßenrand. Erinnern Sie sich immer noch nicht?"

    Als würde ich es mit Absicht tun!

    Ärgerlich schüttelte ich den Kopf.

    Mit verengten Augen fixierte er mich. „Ich werde rausfinden, was da passiert ist. Und im Moment sieht es echt beschissen für Sie aus!"

    Dieser Mann regte mich auf. Seine Fragen, sein stechender Blick und dieser verfluchte zerknautschte Anzug! „Was wollen Sie eigentlich? Man hat mich unter Drogen gesetzt und fast getötet. Blut klebt an meinen Sachen – ich finde, ich sehe aus wie das Opfer, und Sie behandeln mich wie eine Schwerverbrecherin! Ich senkte drohend die Stimme. „Sie sollten Ihre Taktik überdenken.

    Ein berechnendes Lächeln hob seine Mundwinkel, und ich wich innerlich zurück. Meine Reaktion hatte ihm gezeigt, dass ich keinesfalls ein scheues Rehlein war. Ich hatte ihm irgendetwas bestätigt, denn er sah sehr zufrieden aus.

    Gerade öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, als die Tür aufflog und eine Frau hereingestürmt kam. Japanerin, glaube ich, sehr schlank und zierlich, gekleidet in ein elegantes Kostüm, das lange schwarze Haar hochgesteckt. Ohne Umwege kam sie zu mir ans Bett, und ehe ich auch nur Luft holen konnte, küsste sie mich ausgiebig. Sie roch nach Erdbeeren, und ihr Mund war genau so süß wie Erdbeeren. Sommererdbeeren. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre ich viel zu überrascht gewesen, um mich zu wehren.

    Tatsächlich wollte ich aber gar nicht. Was bedeutete das nun wieder?

    Sie gab mich frei und lächelte mich an. Sie hatte Mandelaugen in einem tiefen warmen Braun. „Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist, Sasha."

    Verblüfft starrte ich sie an. Davon ließ sie sich jedoch nicht irritieren und wandte sich an die Polizisten. Moore schaute reichlich verdattert aus seinem zerknautschten Anzug. Ich konnte es ihm nicht verdenken.

    „Ich bin hier, um Sasha abzuholen. Die Papiere habe ich schon unterschrieben. Ich gehe davon aus, dass Sie keine Einwände haben?"

    Moore räusperte sich. „Ähm ... und Sie sind?"

    „Mein Name ist Charlee Wang. Man rief mich an."

    Ratlos schwieg Moore, und sein bisher so wortkarger Kollege erklärte zögernd: „Man fand bei Frau Barnett eine Visitenkarte mit einer Nummer. Jemand vom Krankenhaus hat dort angerufen. Das gehört wohl zum üblichen Vorgehen."

    „Ach ja ... Moore nickte bedächtig. „Es stand nur die Nummer auf der Karte.

    Charlee lächelte freundlich. „Wir legen größten Wert auf Diskretion. Die Nummer ist von unserer Detektei. Hank Ruben. Sasha ist unsere Mitarbeiterin. Wenn sonst erst einmal nichts weiter ist, dann würden wir jetzt gerne gehen."

    „Geben Sie meinem Mitarbeiter noch die Adresse – bitte. Moore rang sich ein Lächeln ab. Dann blickte er mich an, und das Lächeln gefror. „Halten Sie sich für Nachfragen bereit, und verlassen Sie nicht die Stadt.

    Ich nickte nur. Er konnte ohnehin nichts tun, wenn ich dem nicht Folge leistete.

    „Wo finden wir Sie?"

    „Rufen Sie einfach in der Detektei an", sagte Charlee bestimmt.

    Es gefiel ihm nicht, derartig abserviert zu werden und mich gehen lassen zu müssen, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Für den Moment war ich Moore los.

    Nachdem Charlee ihnen noch die Anschrift der Detektei gegeben hatte, blieb ich mit der Frau allein zurück.

    Ehe ich auch nur über eine Frage nachdenken konnte, schüttelte sie den Kopf und legte sich den Finger über die Lippen. „Später", war alles, was sie sagte, und reichte mir saubere Kleidung: Jeans, T-Shirt, Unterwäsche.

    Ich wollte nicht wissen, ob das meine Sachen waren oder wem sie gehörten, solange ich nur das blutige Zeug nicht anziehen oder – schlimmer noch – im Krankenhaushemdchen bleiben musste.

    Charlee ging zum Fenster und sah hinaus, während ich mich schnell anzog. Alles passte wie angegossen.

    Sie drehte sich um, als ich fertig war, und verließ vor mir das Zimmer. Ich fühlte mich ein wenig wacklig auf den Beinen, aber wenn ich hier nur rauskam, wollte ich mich nicht beschweren.

    Draußen vor dem Krankenhaus stand ein schwarzer Wagen – im absoluten Halteverbot. Beulen zierten die Tür, der Lack hatte schon bessere Zeiten gesehen, und als ich einstieg, roch es, als wäre vor Wochen etwas auf der Rückbank verendet. Eilig kurbelte ich die Scheibe hinunter – mehr Automatik gab der Wagen nicht her. Ich befürchtete auch, dass dies die einzige Klimaanlage war, die es gab. Es herrschten bestimmt dreißig Grad. Besonders nach dem klimatisierten Krankenhaus traf mich die Hitze und zwang meinen Kreislauf in die Knie. Wie gern hätte ich einfach tief durchgeatmet, aber das wagte ich in diesem Auto nicht. Mir war ohnehin schon schlecht.

    Charlee setzte sich hinters Lenkrad, legte den Gang ein, der ausgesprochen widerwillig knirschte, und gab Gas.

    „Tut mir leid wegen des Wagens", sagte sie, während sie sich waghalsig in den Verkehr einfädelte.

    Ich verstand ihre Entschuldigung nicht. Hätte es eine bessere Auswahl gegeben?

    Neugierig blickte ich mich um. Der Boden hinter den Sitzen war bedeckt mit leeren Fastfoodpackungen, fettigem Papier und klebrigen Cola-Bechern. Zumindest erklärte das den Geruch. Ich nahm nicht an, dass das ihr Wagen war. Er wollte nicht zu ihr passen. Tatsächlich schien sie mir auch ein wenig angeekelt zu sein.

    „Ich bin froh, dass es dir gut geht", wiederholte sie und schenkte mir ein rasches Lächeln.

    „Wie lange ...?"

    „Drei Tage. Wir hatten keine Idee, wo du abgeblieben bist. Bis der Anruf aus dem Krankenhaus kam. Ich bin sofort los. Sogar Hank hat sich Sorgen gemacht."

    So wie sie das sagte, war das wohl nicht selbstverständlich.

    An einer roten Ampel musterte sie mich von der Seite. „Ist bei dir alles okay?"

    „Ja, klar ... Ich nickte tapfer. „Darf ich dich was fragen?

    „Natürlich."

    „Wer bist du?"

    KAPITEL 2

    Du erinnerst dich nicht?"

    Sie wollte das jetzt zum vierten Mal wissen. Ich merkte durchaus, dass sie beleidigt war, aber ich ging nicht darauf ein. Wie auch? Was sollte ich erklären oder mich entschuldigen? Wofür?

    „Nicht an alles", wich ich aus.

    Ich stieg neben Charlee ein Treppenhaus hinauf, das seine besten Tage schon hinter sich hatte. Der Teppich war durchgetreten und wurde nur noch von Dreck zusammengehalten. Die Wände waren wahrscheinlich mal weiß gewesen, hatten nun aber einen gelblichen Ton angenommen, der ganz wunderbar zu den dreckigen Fenstern passte. Es roch muffig. Der Altbau war ein Bürokomplex. Die Mieten mussten erschwinglich sein, denn weder die Gegend, in der das Haus lag, noch das Haus selbst zog Kunden magisch an – und die Kunden, die sich hierher verirren würden, denen wollte man vermutlich nicht begegnen.

    Vor einer Tür aus Milchglas hielt Charlee an. Ich dachte, sie würde sie öffnen, aber stattdessen sah sie mich nur enttäuscht an. „Erinnerst du dich auch nicht an uns?"

    Unbehaglich schüttelte ich den Kopf. „Nein – leider." Obwohl ich mich bestimmt gern erinnert hätte.

    „Auch nicht an Hank?"

    „Hatte ich mit dem auch was?"

    Verdutzt zögerte Charlee und lachte. „Nein!, und dann ernst: „Ich hoffe nicht! Sie schüttelte den Kopf, als wäre allein der Gedanke schon abwegig, und öffnete. So hässlich das Treppenhaus auch war, das Vorzimmer, in das wir eintraten, war eine positive Überraschung. Es war hell und freundlich. Die Schränke und der Schreibtisch waren nicht neu, aber sehr sauber und gepflegt. Es gab nichts, was einfach nur herumlag. Alles hatte seinen Platz. Sogar die Pflanzen trugen kein einziges trockenes Blatt.

    Ein ganz schwacher Duft nach Erdbeeren lag in der Luft. Erstaunlich, dass ich den noch wahrnehmen konnte, nachdem mein Geruchssinn in diesem Auto derartig gequält worden war.

    Hinter dem Schreibtisch mit dem Computer führte eine weitere Milchglastür in das nächste Büro. Da dort in goldenen Buchstaben Hank Ruben Privatdetektiv stand, nahm ich an, dass es wohl Hanks Büro sein würde.

    Charlee legte ihre Handtasche auf den Schreibtisch und ging zu Hanks Tür. Sie klopfte kurz, wartete aber keine Antwort ab, als sie auch schon energisch die Tür aufstieß.

    „Scheiße, Charlee, kannst du nicht klopfen!", polterte eine verwaschene Männerstimme los.

    „Habe ich, gab sie schnippisch zurück. „Sasha ist wieder da.

    Ich trat in die Tür neben Charlee und hatte dann erst mal damit zu tun, mir meine Fassungslosigkeit nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Im Vergleich zu dem Vorzimmer war das Büro von Hank ein Albtraum. Alle Möbel waren dunkel – und sehr männlich. Die reinste Höhle. Den Boden bedeckte ein dunkler flauschiger Teppich, der geeignet schien, Sachen, die einmal hineinfielen, nie wieder zu finden. Eine Ledercouch mit Löwenfüßen stand rechts an der Wand, ein riesiger Schreibtisch aus Eiche mit Löwenköpfen als Verzierung an den Ecken prangte in der Mitte und brach fast unter der Last aus Papierbergen, alten Essenspackungen, diesmal von einem Chinahaus, und Getränkedosen zusammen. Außerdem lagen noch diverse Kleidungsstücke oben auf dem Berg des bunten Sammelsuriums. Es stank hier fast wie in dem Auto.

    „Was zum Teufel ist passiert?"

    In dem ganzen Durcheinander bemerkte ich jetzt erst, dass zwischen den zerwühlten Decken auf der Couch jemand saß. Ein kleiner dicker Mann, vielleicht um die fünfzig, mit beginnender Glatze. Sein Gesicht war unrasiert und verquollen, als wäre er eben aufgestanden. Er kämpfte seine Körperfülle von der Couch hoch. Ein verbeultes T-Shirt in verblichenem Rot mühte sich, seinen recht beeindruckenden Bauch zu bedecken. Es gelang dem Stoff nur gerade so, aber auch dafür war ich dankbar. Der Rest von ihm steckte in bunt gemusterten Boxershorts. Waren das Löwen?

    Rasch blickte ich fort und studierte interessiert die Aktenberge auf dem Schreibtisch.

    Hank angelte nach der Hose, die zwischen dem ganzen Zeug lag, und quälte sich schnaufend hinein. Erst als er einigermaßen angezogen war, sah ich ihn wieder an. Er zerrte sich die Hose bis über den Bauchnabel hoch, wo sie jedoch nicht blieb. Kaum ließ er los, rutschte sie ihm wieder unter das Bauchfett.

    „Wo sind meine verdammten Hosenträger?"

    War die Frage für mich? Irritiert suchte ich Hilfe bei Charlee, die finster die Stirn runzelte.

    „Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal, entgegnete sie gereizt. „Ich bin nicht dein Kindermädchen, sondern Sekretärin. Du solltest dir das mal merken!

    „Jaja ... Er hörte schon gar nicht mehr zu, sondern verschob behutsam die Stapel auf der Suche nach seinen Hosenträgern. Dabei stellte er sich so geschickt an, dass zwar einige der Berge bedenklich schwankten, aber keiner umfiel. Mit einem ungeduldigen Schnalzen brach er seine Suche ab und kam mit einem breiten Grinsen zu uns. Tatsächlich reichte er mir nur knapp bis unters Kinn. „Also, wo warst du?

    Der Geruch von schalem Alkohol und altem Zigarettenqualm schlug mir entgegen – und von Zigarillos. Vanille würde ich meinen.

    Mir stockte der Atem. Er roch wirklich abschreckend, aber vor allem erinnerte mich dieser Geruch nach Vanille an etwas ...

    Völlig unerwartet wurden Bilder und Erinnerungen in meinem Kopf hochgespült. Es war, als ob jemand ein Licht anknipste. Hank Ruben hatte mich bei sich eingestellt. Jemand hatte ihn mir empfohlen, damit ich ruhiger treten und mein altes Leben verlassen konnte.

    Warum? Das blieb dunkel, und ich schob es beiseite. Ich sollte ein paar kleine Aufträge abarbeiten, damit mir zu Hause nicht die Decke auf den Kopf fiel. Eine Ablenkung.

    „... nicht mehr mit mir? Was hat sie?", fragte Hank an Charlee gewandt, die mich besorgt musterte.

    Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht und volle Lippen. Sehr anziehend. Vor allem ihr Mund ... „Erdbeerchen", flüsterte ich und hatte keine Ahnung, wo das herkam. Aber da war noch mehr. Da war ihr Körper, nackt im Kerzenschein. Ihre Haut schimmerte wie Gold. Das Haar fiel ihr offen über die Schultern, und mit wiegenden Hüften ging sie auf ein Tischchen zu und holte eine Flasche Wein und zwei Gläser. Ich lag im Bett und betrachtete ihr hübsches Hinterteil. Ein Hotelzimmer? Als sie sich wieder zu mir umdrehte, lächelte sie. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Lippen schimmerten verheißungsvoll.

    Es war ein wunderschöner Anblick, den ich definitiv genossen hatte – und alles andere sowieso. Charlee war eine leidenschaftliche Liebhaberin gewesen. Eine unvergessene Nacht – nun ja, fast unvergessen. Immerhin war es mir wieder eingefallen. Alles fügte sich ganz logisch zusammen. Auch, dass ich Frauen bevorzugte, worüber ich bis eben gar nicht nachgedacht hatte. Aber Hanks repräsentative Erscheinung genügte eigentlich, um darüber nicht weiter nachzugrübeln.

    Charlee schmunzelte verhalten. „Du erinnerst dich also?"

    Allerdings. Aber mir wurde auch bewusst, dass Charlee und ich eher zufällig im Bett gelandet waren. Es hatte sich so ergeben, als wir einen untreuen Ehemann beschattet hatten und ihm bis in ein Hotel außerhalb der Stadt folgen mussten. Für den Rückweg war es schon zu spät gewesen, und so hatten wir dort ebenfalls eingecheckt. Die Frage war, ob es für Charlee mehr als ein Abenteuer gewesen war. Für mich definitiv nicht. Ich ließ mich auf keine Beziehungen ein. Bis auf ein Mal ...

    Ein ungutes Gefühl stieg in mir hoch, und ich brach den Gedanken rasch ab. Das hatte Zeit.

    „Erinnert sich woran?", erkundigte sich Hank neugierig, und seine kleinen Augen huschten flink zwischen uns hin und her.

    Charlee riss sich von mir los und sagte zu ihm: „Gedächtnisverlust. Sasha hat man böse mitgespielt. Die Polizei hat sie vernommen. Aber sie erinnert sich nicht mehr an alles."

    „Echt? Hank sah mich staunend an. „Woran denn nicht?

    Wollte er mich hochnehmen? „An alles andere", antwortete ich auf seine schlaue Frage.

    Hank war nicht der beste Privatdetektiv. Diese Erkenntnis war ebenfalls plötzlich da. Eigentlich war er eher einer der schlechtesten, und er hatte es Charlee zu verdanken, dass er überhaupt Kunden bekam und seine Miete zahlen konnte. Das Büro war für ihn gleichzeitig seine Wohnung. Übergangsweise natürlich nur, nachdem seine Freundin ihn rausgeworfen hatte. Dieser Übergang dauerte jetzt schon fast zwei Jahre.

    Ein Name tauchte auf – Magnusson. Ein Kribbeln breitete sich unerwartet in meinem Magen aus. War das Angst? Wovor?

    Charlee berührte meinen Arm und riss mich aus meinen Gedanken. „Sasha?"

    Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Ja, alles klar."

    „Setz dich mal, Mädchen!", befahl Hank fürsorglich und räumte einen Ledersessel frei, indem er alles einfach auf den Boden warf. Er selbst pflanzte sich auf die einzige freie Ecke seines Schreibtisches.

    „Hank!", sagte Charlee mit einem drohenden Unterton.

    Der Mann rollte mit den Augen und schupste achtlos einen Stapel Papier vom Tisch, der in einem wilden Durcheinander im Teppich versank, sodass Charlee sich ebenfalls auf eine Ecke setzen konnte.

    Charlee sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren, und blieb stehen.

    Er brummte nur und wandte sich dann an mich. „Hast du eine Ahnung was geschehen ist?, wollte er wissen. „Egal was?

    „Nein, keinen Schimmer." Ich berichtete kurz von Moore und dem, was er mir gesagt hatte.

    „Das ist nicht viel, stimmte Hank zu und kratzte sich am stoppligen Kinn, was ein Geräusch verursachte wie ein Reibeisen. „Was für eine Droge war das?

    Ich schüttelte nur den Kopf.

    „Da kann ich helfen", meldete sich Charlee und holte ihre Handtasche von nebenan.

    „Sie ist ein Goldstück, flüsterte Hank mir schnell zu, und sein Atem trieb mir fast die Tränen in die Augen, „aber ihr Ordnungsfimmel geht mir so auf die Nerven ... Er richtete sich ruckartig auf, als Charlee wieder hereinkam und grinste so unschuldig, dass sie sofort misstrauisch wurde, aber sie fragte nicht, sondern reichte mir einen Zettel.

    Ich faltete ihn auseinander und brauchte eine Sekunde, um zu erfassen, was das war. „Mein Krankenblatt!"

    „Gute Arbeit", rief Hank erfreut und riss mir den Zettel aus der Hand, um ihn zu studieren.

    Charlee wirkte sehr zufrieden. „Eine Freundin arbeitet als Schwester im Krankenhaus. Als man mich angerufen hat, habe ich gleich bei ihr nachgefragt. Sie hat mir alles bestätigt und auf meine Bitte hin, das Blatt kopiert. Von ihr kam der Tipp mit den sauberen Sachen für dich. Woher hätte ich das sonst wissen sollen?"

    „Keine übliche Droge. Irgendwas Synthetisches. Vielleicht eine neue Designerdroge. Noch nie gehört. Müsste man sich mal in der Branche umhören. Hank gab mir den Zettel zurück. „Das könnte uns helfen. Wenn es keine Allerweltsdroge ist, die sich jeder Junkie drückt, dann haben wir einen Hinweis.

    „Oder es hat mit den Fällen zu tun, die du bearbeitet hast", schlug Charlee vor, und da sie mich fragend ansah, konnte ich nur ratlos mit den Schultern zucken.

    „Wo war ich denn dran?"

    Hank überlegte und begann dann die Stapel mit Akten zu durchsuchen.

    Diese Lücken in meinem Kopf machten mich wahnsinnig, und ich hoffte wirklich, dass der Arzt recht hatte und alles wiederkam. Eine unbestimmte Angst lauerte in meinem Kopf, und immer, wenn ich nach Erinnerungen suchte und sie nicht fand, ließ die Leere diese Angst wachsen. Wer war ich?

    Ich wurde das Gefühl nicht los, dass mit den Erinnerungen etwas auf mich einstürzen würde, dem ich vielleicht nicht gewachsen war. War es besser sich nicht zu erinnern? Nie wieder?

    Aber eine solche Wahl hatte ich nicht, das war mir klar.

    Hank fand drei wirklich sehr dünne Akten, die kaum mehr als vier Blätter enthielten, und reichte sie mir. Ich schlug sie nacheinander auf. Zwei Mal die Verdächtigung von Ehebruch. Die eine Akte war über den Mann, dem Charlee und ich gefolgt waren. Mein erster Fall, und Charlee hatte mich bei den Recherchen, ähm ... unterstützt. Im anderen Fall wurde die Ehefrau verdächtigt, aber ich fand meinen Bericht am Ende und erinnerte mich wieder, dass sie nur heimlich zur Therapie ging und ihr Mann davon nichts erfahren sollte. In der dritten Akte waren Nachforschungen erforderlich, über die mutmaßliche Größe eines vererbten Vermögens. Die Erben hegten die Annahme, dass es Unterschlagungen im Nachlass gab. Ich hatte bisher kaum mehr getan, als Kontakt mit dem Auftraggeber aufzunehmen und ein paar Namen erfragt. Nichts, wofür Blut fließen musste. Auch bei den beiden Ehebruchsachen erschien mir die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass sie die Ursache für eine solche Gewalttat sein sollten.

    Ich suchte auf dem Schreibtisch einen Platz für die Akten, und als ich keinen fand, warf ich sie einfach auf den Tisch. Sie landeten in einem überquellenden Aschenbecher. Ich tat so, als hätte ich es nicht bemerkt. „Nein, da ist nichts."

    Schweigend saßen wir da. Hank und Charlee gaben sich wirklich Mühe, aber im Augenblick würden wir kaum etwas rausfinden.

    „Ich denke, wir reden morgen weiter, schlug ich vor. „Ich bin noch ein wenig angeschlagen.

    „Natürlich. Nimm dir frei, solange du

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