Widerstand der Vernunft: Ein Manifest in postfaktischen Zeiten
By Susan Neiman
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About this ebook
Wenn heute den Fakten, der Vernunft und dem politischen Mitdenken nicht der Raum gegeben wird, den es bracht, werden die Lügen der "postfaktischen" Populisten Konsequenzen haben.
Susan Neiman ruft dazu auf, für Wahrheit und Moral öffentlich einzutreten, Alternativen zu denken und zu leben und den bedenklichen politischen Entwicklungen in den USA und Europa so die Stirn zu bieten.
Susan Neiman
Susan Neiman is the director of the Einstein Forum. Her previous books, which have been translated into many languages, include Why Grow Up?: Subversive Thoughts for an Infantile Age; Moral Clarity: A Guide for Grown-Up Idealists; Evil in Modern Thought: An Alternative History of Philosophy; The Unity of Reason; and Slow Fire: Jewish Notes from Berlin. She also writes cultural and political commentary for diverse media in the United States, Germany, and Great Britain. Born in Atlanta, Georgia, Neiman studied philosophy at Harvard and the Free University of Berlin, and was a professor of philosophy at Yale and Tel Aviv Universities. She is the mother of three grown children, and lives in Berlin.
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Widerstand der Vernunft - Susan Neiman
Autorin
Glatte Lügen
Am 4. Dezember 2016 packte ein 28-jähriger Mann zwei Kampfgewehre in sein Auto und fuhr 500 Kilometer von seiner Heimatstadt in North Carolina zu einem Restaurant in Washington, D. C. Das Comet Ping Pong, in der US-Hauptstadt für gute Pizza und Tischtennis bekannt, war vor den Präsidentschaftswahlen zum Gegenstand einer Verschwörungstheorie geworden. Demnach betrieben Hillary Clinton und ihr Wahlkampfmanager John Podesta in diesem Gebäude einen Kinderpornoring. Es hieß, in einem Keller würden Kinder gefangen gehalten und missbraucht. Als Beweise dienten von Wikileaks veröffentlichte E-Mails, in denen mehrmals von »cheese pizza« die Rede war. Das, so die Verschwörungstheoretiker, sei nichts anderes als ein Codewort für child pornography.
Die Theorie war pikant genug, um die New York Times am 21. November 2016 zu einem Bericht darüber zu veranlassen – mit bemerkenswerten Folgen. Der Artikel wurde von den Anhängern der Theorie als Beweis dafür betrachtet, dass die sogenannte »Lügenpresse« unter Druck stand und damit versuchte, den Pornoring zu beschützen. Statt weniger verschwörungstheoretische Berichte erschienen nun noch mehr. Eine Website nahm den Artikel aus der New York Times Satz für Satz kritisch auseinander. Indem er sich dabei den Anschein der Vernunft gab, gelang es dem anonymen Autor, die Vertrauenswürdigkeit der wichtigsten Zeitung Amerikas in Zweifel zu stellen. Gab es etwa keine Kindersklaverei auf dieser Erde? Hatte die katholische Kirche nicht jahrelang versucht, pädophile Priester vor der Öffentlichkeit und der Justiz zu schützen? Und hatte die BBC sich nicht geweigert, ihren Publikumsliebling Jimmy Saville selbst dann nicht zu überprüfen, als sich immer mehr Beweise dafür häuften, dass er im Lauf seiner Karriere Hunderte von Kindern missbraucht hatte?
Schon eine knappe Stunde verbrachter Zeit auf solchen Websites genügt, um einen nachdenklichen Leser zur Verzweiflung zu bringen. Viele der anonym schreibenden Autoren geben sich hier einen seriösen Anstrich. Forscher und Experten werden zitiert, Bilder analysiert, herzzerreißende Interviews mit schönen Mädchen, die angeblich von ihren Großmüttern als Sexsklavinnen verkauft wurden, vorgeführt. Sogar die Fragen nach der Plausibilität eines Befunds werden regelmäßig von den Autoren selbst gestellt: »Ich weiß, es klingt verrückt, aber je mehr ich forschte, desto deutlicher wurde es …« Die Art und Weise der Beweisführung erscheint auf den ersten Blick dermaßen überzeugend, dass es kaum überrascht, wenn Millionen von Menschen offensichtlich sogar Theorien glauben, wonach Michelle Obama ein Mann, Barack Obama schwul und ihre Kinder adoptiert seien.
Angesichts des Wirrwarrs, das im Internet zu finden ist, hat Edgar Maddison Welchs Mission fast etwas Rührendes. »Ich wollte selbst herausfinden, was an der Geschichte wahr war.« Schade nur, dass er dafür mit seinem Maschinengewehr im Anschlag in das Restaurant eindrang. Allerdings verhielt er sich relativ besonnen: Statt wild um sich zu schießen, feuerte er nur auf ein Türschloss, das zum Keller führte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass hier unten keine Kinder gefangen gehalten wurden, ließ er sich widerstandslos festnehmen. Tage später beteuerte er vom Gefängnis aus: »Ich wollte nur Gutes tun, aber irgendwie ist es schiefgelaufen.« Als der Vorfall durch die Nachrichten ging, verbreiteten einige Unbelehrbare die Meldung, dass Welch ein Schauspieler sei, bezahlt von den liberalen Medien, um Theorien wie jene vom Kinder-pornoring zu diskreditieren.
Diese Tat veranlasste Papst Franziskus zu einer Kritik, die noch schärfer ausfiel als seine bisherigen scharfen Botschaften. In einem Interview mit dem belgischen Magazin Tertio sagte er: »Die Medien sollen klarer und transparenter sein und nicht, entschuldigen Sie den Ausdruck, in eine Koprophilie verfallen, die stets bereit ist, Skandale und widerliche Dinge zu verbreiten. Da die Menschen dazu tendieren, an Koprophagie zu leiden, kann das sehr gefährlich sein.« Wer hätte gedacht, dass der Papst den Terminus technicus für »Scheiße fressen« kennt, den wir Normalsterblichen erst einmal nachschlagen müssen? Doch Welchs Tat war unter denen, wo Falschmeldungen oder fake news sehr reale Folgen hatten, die harmloseste.
Bei einem anderen Fall gab es neun Tote. Nachdem der 21-jährige Dylann Storm