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Das doppelte Ich: Zwei phantastische Erzählungen
Das doppelte Ich: Zwei phantastische Erzählungen
Das doppelte Ich: Zwei phantastische Erzählungen
Ebook327 pages5 hours

Das doppelte Ich: Zwei phantastische Erzählungen

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About this ebook

Zwei phantastische Erzählungen, beinahe Märchen, handeln von Wölfen und vom Teufel. Die erste berichtet von Wölfen im Oberlausitzer Revier und von einem Wildbiologen, den man sich aus Rumänien "ausgeborgt" hat. Mit unkonventionellen Methoden geht er zu Werke. Die Einheimischen finden ihn unheimlich. Kann er mit den Wölfen reden? Ist er eine Art Wehrwolf? Bald gibt es Konflikte mit den Behörden und der Jägerschaft. Als man die Wölfe vergrämen will, verschwinden sie ebenso wie der Rumäne. Die Region scheint noch nicht reif für wilde Wölfe...
In der zweiten titelgebenden Erzählung erscheint kein Geringerer als der Teufel. Er mischt sich unter eine Urlaubsgesellschaft, es entstehen turbulente Szenen. Plötzlich glauben manche ihn auch schon woanders gesehen zu haben. Unerklärliches geschieht. Verwirrung bleibt zurück. Spannend und schaurig.
LanguageDeutsch
Release dateMar 13, 2020
ISBN9783750450714
Das doppelte Ich: Zwei phantastische Erzählungen
Author

Klaus Funke

Klaus Funke, in Dresden geboren, ist Autor zahlreicher bekannter und erfolgreicher Romane, Novellen und Erzählungen. Die meisten davon sind bei bekannten Verlagen erschienen.

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    Book preview

    Das doppelte Ich - Klaus Funke

    Meinem lieben Freunde E.T.A. Hoffmann gewidmet

    Zum Buch:

    Zwei Fantasy - Erzählungen in der Tradition der deutschen Romantik. In der ersten wird von Wölfen erzählt, die in der Oberlausitz aufgetaucht sind. Man hat einen Wildbiologen aus Rumänien engagiert, dr den cdeutschen Kollegen zur Hand gehen soll. Doch der Mann ist ein Rätsel. Kann er mit Wölfen reden? Ist er gar ein Wehrwolf? Konflikte mit Behörden und Jägern eskalieren. Man will die Wölfe vertreiben. Der Rumäne hält zu den Wölfen. Wird er die Tiere retten können? In der zweiten Erzählung tritt der Teufel auf. Eine verwirrende und turbulente Geschichte wird erzählt. Schaurig und sehr spannend. Das Ende ist überraschend.

    Zum Autor:

    Klaus Funke, 1947 in Dresden geboren, ist dein bekannter Autor von Erzählungen, Novelllen und Romanen. Einige sind hier bei BoD erschienen. Darunter „Die Betrogenen – „Meine Verlage – Der Teufel in Dresden"

    Inhaltsverzeichnis

    Die Wölfe von Horkau

    Das doppelte Ich

    Die Wölfe von Horkau

    Erzählung

    Meine Aufzeichnungen sind undatiert, aber ich erinnere mich, sie begannen an einem heißen Junitag.

    Der erste Satz lautet: Gerald D. hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis!

    Heute rief er an und sagte mir genau das, und beinahe wörtlich, was er mir schon im April angekündigt hatte: Er möchte bis Ende August eine Reportage, einen Bericht, eine packende Story über das Wolfsprojekt im östlichen Deutschland herausbringen. Wenn die gut würde, könne er sich sogar eine Broschüre, ja ein Taschenbuch vorstellen. Nein, er wolle mich nicht ködern. Am Honorar würde das Vorhaben keinesfalls scheitern, fügte er generös an und bestellte mich für übermorgen in die Redaktion. Die schriftliche Vereinbarung wäre reine Formsache, lachte er, dann der Piepton, er hatte aufgelegt.

    Zwei Tage später: Bin in die Redaktion gefahren. Gluthitze. Und bald ist der Siebenschläfertag. Das kann ein Sommer werden. Ich hasse Temperaturen über 28 Grad. Gerald D. residiert im fünften Stock. Riesige Glasfenster. Wunderbarer Ausblick von hier oben auf die Stadt und den Fluss. Bin beeindruckt. Auch vom Vertrag, den man mir anbot. Wirklich, das Honorar ist großzügig, überaus großzügig. Der Redakteur empfing mich mit einem geheimnisvollen Lächeln. Im Ministerium, sagte er wichtigtuerisch, wäre man an einem groß angelegten Artikel, einer Art Fortsetzungsgeschichte interessiert. Erfolge im Naturschutz wären politische Erfolge. Und dass diese Wölfe sich hier im Freistaat angesiedelt haben, käme einer Auszeichnung gleich. Auch international. Machen Sie was draus, rief Gerald D., breitete die Arme aus, es ist Ihre Chance. Und die Ihre, entgegnete ich. Wir lachten.

    Am Nachmittag meldete ich mich dann in dieser Forschungsstation an. Keine Zeit, sagte man mir zunächst, wir telefonieren morgen wieder. Okay?

    Nein, nicht auflegen. Ich bat, bettelte, erklärte. Schließlich hörte ich eine andere Stimme. Eine Frauenstimme. Ja, hier Elsa – Elsa Gluht. Wie die Glut nur mit „h". Ich bin die Projektleiterin. Die Stimme klang angenehm. Irgendwie selbstbewusst, dennoch nett, freundlich, warm. Ja, am siebten Juli könne ich kommen.

    Vier Wochen wollen Sie bleiben? Tatsächlich? Es ist eng bei uns. Und wir haben Besuch aus Rumänien. Ein Fachkollege. Ziemliche Kapazität. Radon Lupescu! Schon mal von ihm gehört? Nein? Also gut, dann bis zum siebten. Tschüß.

    Wie befürchtet ist es tatsächlich furchtbar heiß heute, an diesem Siebenschläfertag. Habe den ganzen Tag Literatur gewälzt. Fachliteratur über Wölfe, überall liegen die Bücher und Zeitschriften. Renate hat den Kopf geschüttelt und ist zu ihrer Freundin gefahren. Wieder mal. Ich las und las, notierte. Habe mir eine Datei im Rechner angelegt. Wusste nicht, was es für Unmengen Geschriebenes zu diesem Thema gibt. Auch im Internet. Allerdings ist viel Phantasterei darunter, reiner Blödsinn und aufkeimender Kommerz. Wölfe scheinen eine Einnahmequelle zu werden. Habe mir allerhand Fragen notiert, fast fünfzig verschiedene, die man mir beantworten soll, dort in der Station, oder die ich selbst herausfinden will. Je nachdem.

    Renate hat angerufen. Sie bleibt in Dohna bei ihrer Freundin. Ich wäre ja die nächsten Wochen sowieso zu nichts zu gebrauchen. Hätte das Wolfsfieber. Ja, stimmt. Sie hat Recht. Ein Fieber ist es, was mich zu packen beginnt.

    In den Skizzen, die ich später zur einer Story zusammenfügen wollte, steht: Es ist jetzt elf Uhr am Vormittag. Ich habe beschlossen, jeden Tag, diese ganze Woche lang, etwas aufzuschreiben. Immer, wenn es geht, die Eindrücke des vergangenen Tages, auch Gehörtes, Erzähltes. Eine ganze zusammenhängende Geschichte. So, hoffe ich, geht nichts verloren und bleibt authentisch.

    Bin also gestern am frühen Abend losgefahren. Würde gegen Mitternacht bei der Station ankommen. Unterwegs könnte ich ja noch eine Kleinigkeit essen. Irgendwo in einer Dorfkneipe. Ich soll nicht zu früh da sein, hat man mir gesagt. Auf dem Beifahrersitz habe ich den kleinen Voice-Rekorder bereit gelegt, um meine Eindrücke während der Fahrt festzuhalten. Einzelne Worte nur wollte ich draufsprechen, Stimmungen in Stichworten ...

    Später, da war ich schon ein paar Tage in der Station und all die seltsamen Ereignisse hatten mich gefangen genommen, hörte ich das Band ab:

    Meine Stimme klang fremd, die ersten Worte waren: Kleine Ortschaften, unter den deutschen Ortsnamen etwas kleiner ihre sorbische Entsprechung, niedrige Häuser, höchstens zweigeschossig. Dann beschrieb ich die Landschaft: Mischwald geht immer mehr in Kiefernwälder über, anfangs noch mit Laubbäumen. Birken, sogar Eichen sind darunter. Schließlich nur noch Kiefern, immer niedriger werdend. Sandhügel, dahinter stillgelegte Tagebaue. Am Horizont, jedoch nicht sehr weit, weiße, bauchige Wolken, dann sehe ich die Kühltürme des Kraftwerkes. Alles modern, die neusten Entstaubungsanlagen. Silberne Verkleidungen. Es blinkt in der untergehenden Sonne. Dann große Schneisen in den Kiefernwäldern, darüber schwingen Stromleitungen in die Ferne. Hier fließt er entlang, der östliche Strom, hin zur Hauptstadt, zu den Zentren, die nur wenige Hundert Kilometer entfernt liegen. Ich biege von der Bundesstraße ab und fahre weiter nach Osten. Im Rekorder höre ich meine Worte: Die Landschaft wird immer ursprünglicher, beinahe eine Heide, kleine Kiefern, vereinzelte Birken, niedrige Sträucher, trockenes Gras dazwischen. Ich durchfahre kleine Ortschaften...

    Da ein Gasthof. Ich hielt an, schaltete den Recorder ab, stieg aus. Ein bemaltes Holzschild über der Tür, grellbunt, wie man es bei Schaustellern sehen kann. „Gasthof Zum letzten Wolf" steht darauf, darunter ein von ungeübten Händen gemalter Wolfskopf. Zwei moderne Halogenleuchten links und rechts. Welch irrer Zufall, ausgerechnet dieser Gasthof auf meinem Weg zu den echten Wölfen, dachte ich belustigt, dann trat ich ein. Ich erinnere mich an die niedrige Gaststube: Gemütlich, Holztäfelung aus Fichtenimitat, an den Wänden Rehgehörne, Bilder von Jagden. Es roch nach Bier und kaltem Zigarrenrauch. In einer Ecke ein paar Einheimische. Misstrauisch schauten sie. Bei meinem Eintreten waren die Gespräche verstummt. Nur leises Radiogedudel kam von der Theke. Ein Ventilator summte. Dass man mir den Großstädter überall ansieht, war mir in diesem Moment peinlich. Vielleicht hätte ich doch nicht den modischen Blazer anziehen sollen. Ich nickte freundlich und setzte mich an den leeren Nachbartisch. Keine Reaktion, kein Gruß, man blickte schweigend zum Wirt. Der kam heran, legte die Speisekarte auf den Tisch, rückte das Kunstblumensträußchen zurecht. Ein Bier? Nein, einen Kaffee mit Milch und Sahne, wegen des Essens schaue ich in die Karte. In Ordnung. Er ging breitschultrig und schwer zur Theke. Ich schaute mich um. Auf einem der Fotografien eine Jägergruppe, vor ihnen, langgestreckt, die Zähne gefletscht, mit entblößten Zähnen – ein Wolf. Darunter in Kursivschrift, etwas ausgebleicht: Der letzte Wolf auf deutschem Boden! Ein unleserliches Datum. Wann ist denn das gewesen? fragte ich zum Nachbartisch und streckte den Arm nach dem Bild. Schweigen, feindselige Blicke. Das wees keener su genau, kam es vom Wirt hinter der Theke, aber mein Grußvater sagte, es wär im Sommer 1905 gewesen ...

    Die Fahrt ging weiter. Es begann dunkel zu werden. Ich hörte meine Stimme vom Recorder: Geduckte Häuser wie man sie jenseits der Grenze auch in Polen findet. Manche im Backsteinbau, andere weiß angestrichen. Kleine Vorgärtchen, liebevoll gepflegt. Dann wieder verfallene Stallanlagen, eine zusammengestürzte Scheune, verkohlte Balken ragen wie Finger daraus empor. Seltsam, ich sehe nirgendwo Menschen. Ab und zu Gegenverkehr. Die Straße wird schmaler. Sie ist aus Betonplatten gefügt. Die Stöße erschüttern den Wagen. Der Wald rückt bis zum Straßenrand vor, einmündende Zufahrten mit rot-weißen Schranken, immer wieder Hinweisschilder: „Betreten und Befahren des Militärbezirkes verboten. Zuwiderhandlungen werden bestraft! Der Kommandant."

    Es wurde immer dunkler. Vom Horizont, den ich nur vor mir über der schnurgerade dahinführenden Straße sah, zog die Nacht herauf, verfärbte sich der Himmel vom Dunkelviolett zum Blauschwarz.

    Das waren also die letzten Worte, die ich während der Hinfahrt aufgenommen hatte, doch der Recorder war eingeschalten geblieben, und so hörte ich vom Band in meinem Stübchen auf einmal wieder jenes andere Geräusch. Stark verrauscht und leise, aber dennoch gut zu verstehen.

    Was für ein seltsamer Ton, hatte ich damals gedacht, während ich den eingeschalteten Recorder vollkommen vergessend ein Heulen gehört hatte, das wie eine Fabriksirene auf- und abschwoll, sich von tieferen Tönen bis zu ganz hohen steigerte, das einem Jodeln ähnlich war und plötzlich abbrach, um sofort, aus anderer Richtung kommend, wieder von vorn zu beginnen, etwas verändert zwar, aber doch deutlich dem ersten ähnlich.

    Ich erinnerte mich, um ganz sicher zu sein, mich nicht verhört zu haben, dass es nicht etwa eine Sinnestäuschung gewesen wäre, hatte ich den Wagen angehalten, den Motor abgeschaltet. Vorsichtig kurbelte ich die Scheibe herunter und lauschte. Doch, da war nichts als die Stille der Nacht. Sollte es, dieses Heulen, dachte ich, tatsächlich nur in meiner Einbildung vorhanden gewesen sein, in meiner Vorstellung, die, seit ich meine Fahrt begonnen hatte immer intensiver geworden war, aber auch gestern und seit ein paar Tagen schon ganz von meiner neuen Arbeit bestimmt wurde, diesem Vorhaben, wie ich es nennen möchte, jener Reportage über das Wolfsprojekt im östlichen Deutschland. Ich löschte die Scheinwerfer, kletterte aus dem Auto, und stand nun am Rand des hell leuchtenden schnurgeraden Betonbandes inmitten des mit niedrigen Kiefern und Birken bestandenen weiten Waldgebietes, das sich schwarz und drohend zu beiden Seiten der Straße ins Unendliche dehnte. Ich schaute nach oben, sah den Sternen übersäten Himmel, sah das bleiche Gesicht des Mondes, das sich am Horizont eine Handbreit über die Wipfel der Bäume erhoben hatte. Es war ein und eine halbe Stunde vor Mitternacht, und wir schrieben den siebten Juli.

    Was würde mich erwarten, dachte ich. Da vorn, irgendwo im Dunkel lag die Forschungsstation, zu der ich wollte. Etwas außerhalb des kleinen Dörfchens Horkau mitten im Walde, auf dem Gelände eines ehemaligen Truppenübungsplatzes fände ich sie, hatte man mir gesagt. Natürlich, in meinem Navigationsgerät könne ich vergeblich suchen. Eine wegwerfende Handbewegung folgte. Sowas hilft hier bei uns nischte, hier an der polnischen Grenze, wo das zivilisierte Europa trotz aller EU in Wahrheit zu Ende ist. Immer auf der Bundesstraße Richtung Boxberg müsse ich bleiben, dann, ungefähr zwei Kilometer vorm Ziel, an einer Weggabelung wäre ein Hinweisschild, scharf rechts führe die Straße weiter nach Boxberg, halb rechts ginge es nach Neudorf, dann links zum Bärwalder See, und geradeaus nach Horkau. Nicht zu übersehen. Im Ort könne ich dann fragen, vom Kind bis zum Greis, jeder wüsste wo die Wolfsstation wäre. Aus dem Dörfchen „naus", würden sie sagen, dann auf den mit alten Betonplatten belegten Weg weiter in den Wald, „immer nei in de Kiefern", irgendwann hören die Platten auf und es geht auf einem sandigen Weg weiter, keine Angst, breit genug für Ihr Auto, und, „wie nischte" wäre ich da. Ich schaute auf das Leuchtzifferblatt meiner Uhr. In einer knappen Stunde also würde ich am Ziel sein.

    Ich ging langsam auf den Wagen zu. Auf einmal hatte ich das Gefühl, nicht allein zu sein. Es beschlich mich diese Urangst, die in uns ist, seit fernen Jahrtausenden, diese Warnung vor unbestimmter Gefahr, die man nicht beschreiben kann, diese dumpfe Ahnung, nicht messbar, nicht greifbar und dennoch gegenwärtig. Ich fühlte, dass da neben mir im Unterholz des niedrigen Waldes etwas ist, dass da etwas lauert und mich beobachtet, mich im Blick hat, viel länger schon, als mir mein Unterbewusstsein die Warnung gegeben hat. Zu allem Unglück knackte es jetzt auch noch. Ja, da ist etwas, dachte ich, leise, kaum hörbar, aber doch nicht zu den Geräuschen der Nacht passend. Ein Zweiglein schien zerbrochen. Es barst und gab diesen Ton. Meine Nackenhaare standen aufrecht. Der Puls hämmerte in den Schläfen. Ich stand ganz still, lauschte und strengte die Augen an, versuchte das Dunkel zu durchdringen. Vor Anstrengung standen mir Tränen in den Augenwinkeln.

    Und da sah ich es, dieses Etwas. Mir war, als schauten mich aus dem dichten Unterholz zwei glühende, metallisch leuchtende Pupillen an. Doch, nur für einen kurzen Augenblick, einen Lidschlag lang sah ich dieses Leuchten, dann verschwand die Erscheinung. Und im selben Moment hörte ich wieder diese auf- und abschwellenden Töne, wie eine klagende Melodie. Sie kamen von weit jenseits des Waldes. Aber sie waren deutlich und laut. Ein Winseln und Heulen, ein Jammern war darunter. Einem Stimmen von Instrumenten in einem großen Orchester glichen sie, diese Töne. Und dann einem großen Singen, Arien mit begleitendem Chor. Eine urzeitliche Musik, dachte ich. Vielleicht hat dieses Heulen, dieses Singen unsere Vorfahren zum Nachspiel auf ihren ersten knöchernen Instrumenten angeregt, ist dieser von tierischen Kehlen erzeugte vielstimmige Orchesterton der Widerklang einer frühgeschichtlichen Musik, ihr Anbeginn, dachte ich vor meinem Wagen stehend. Mich schauderte und ich war zugleich ergriffen, wollte fliehen, doch stand ich gebannt, vergaß für den Augenblick sogar die Erscheinung, die ich beobachtet hatte.

    So also klingen sie, die Wölfe! dachte ich.

    Seltsam, das Heulen war mit einem Mal verstummt, aber auch die Gefahr, dieses Etwas, das um mich gewesen war, schien verschwunden. Mit dem verklungenen Heulen schien die Angst besiegt. Es hatte mich irgendwie gestärkt, mir Kraft und Zuversicht gegeben. Ich fühlte mich wieder sicher. Tief sog ich die Nachtluft in die Lungen, schüttelte mich, wie ein Hund, der das Wasser aus seinem Fell vertreiben will, stieg in den Wagen und fuhr meinem Ziel entgegen ...

    Ich war nach dieser seltsamen Begegnung noch eine dreiviertel Stunde gefahren, dann sah ich ein paar Lichter durch den Wald schimmern. Es waren die erleuchteten Fenster der Station, zu der ich wollte. Über eine kleine mit Schotter bedeckte Auffahrt fuhr ich in den Hof. An einem schiefen Tor, welches aus rostigem Maschendraht, notdürftig gehalten von einem Stahlrahmen, bestand, kam ich vorbei. Es stand weit offen, was mich wunderte. Ich parkte den Wagen vor dem Haus, über dessen Eingang ein kleines Lämpchen schaukelte. Nachdem ich ausgestiegen war, sah ich mich um. Aber es war so dunkel und die wenigen erleuchteten, auf den Hof reichenden Fensterchen reichten nicht aus, dass ich hätte etwas erkennen können. Gegenüber dem Haus schien eine Art Schuppen zu sein, vielleicht zum Unterstellen der Gerätschaften oder kleinerer Fahrzeuge. Neben dem Hauseingang eine verlassene Hundehütte. Eine in Windungen davor liegende Kette zeigte, dass der hier angebundene Hund frei umherlief oder vielleicht bei den Menschen im Haus war. Ich schlug die Wagentür zu, ein ziemlich lautes Geräusch um diese Zeit hier mitten im Wald, aber nichts rührte sich. Keiner kam aus dem Haus, um mich zu begrüßen. Ich schaute auf die Uhr, eine Viertelstunde über die vereinbarte Zeit war vergangen. Der Versuchung auf das Signalhorn zu drücken, widerstand ich. Sie mussten mich doch auch so gehört haben. Das ungute Gefühl, das ich auf der Fahrt hierher empfunden hatte, befiel mich wieder. Vielleicht wurde es auch dadurch ausgelöst, dass ich, als ich mich zur Seite, dem offenen Tor zuwandte, ein Knacken von Ästen jenseits dieses Tores zwischen den Bäumen vernahm, welches so klang, als sei jemand unachtsam auf trockenes Reisig getreten, und dieser Jemand musste von beachtlichem Körpergewicht sein, denn das Geräusch erklang mehrfach und verriet Unachtsamkeit oder Eile, ein kleineres Tier konnte es kaum sein, eher ein Wildschwein oder ein Mensch. Doch ich wandte mich dem Haus zu und ging hinein. Im Flur links und rechts große Bildtafeln über einheimische Wildtiere und die neu angesiedelten Wölfe, in einem Rahmen eine Auszeichnung des Ministeriums. Vor mir eine angelehnte Tür, dahinter hörte ich Stimmen, dazwischen Musik – eine Fernsehsendung oder eine Videovorführung vielleicht. Die Dielen knarrten als ich weiterlief, es roch nach trockenem Holz, irgendwie auch nach frischen Tannenzweigen und Zigaretten. Im Zimmer hinter der halb offenen Tür sah ich, als ich eintrat, zwei Menschen, ein Mann und eine Frau auf einfachen Stühlen, neben ihnen ein großer blaugrauer Weimaraner auf einer Decke. Er wandte mäßig interessiert den Kopf und beschaute mich aus seinen gelben Augen. Er gähnte, machte Anstalten aufzustehen. Der Mann und die Frau, beide rauchten hastig und nervös, starrten gebannt auf einen Bildschirm. Es lief ein Naturfilm. Irgendwie kamen mir die Landschaften vertraut vor, Heide, niedrige Kiefern, Sandwege, Ginsterbüsche, auf dem breiten Sandweg eine Wildspur, Trittsiegel von einem Wolf, die Kamera wanderte weiter, ein Menschenkopf erschien, es war der Kopf eben jener Frau, die jetzt gespannt vor dem Fernseher saß, ein Interview begann. Ich hüstelte. Der Hund stand endgültig auf, streckte sich und kam auf mich zu, er schnüffelte an meinem Hosenbein. Mit den Fingerspitzen kraulte ich ihm den Kopf. Ich räusperte mich lauter. Da wandte sich die Frau, eine hübsche, sportlich wirkende brünette Dreißigjährige, um, stutzte, lächelte, sprang von ihrem Stuhl auf.

    Da, schau Frank, rief sie mit einem Lachen, unser Besuch ist angekommen.

    Der Mann, Frank, ein blonder Hüne mit einem offenen Jungengesicht, war mit zwei Schritten bei mir. Er duzte mich. Sei willkommen, hier in unserer Einöde! Er klopfte mir kumpelhaft auf die Schultern. Ich stellte mich vor: Ich bin der Max! Und ich der Frank und das ist Elsa, unser Fernsehstar. Er zeigte auf den Bildschirm. Ich nickte, als ob ich Bescheid wüsste.

    Komm setz dich. Er drückte die Zigarette aus. Willst du einen Happen essen? Oder ein Bier?

    Ich setzte mich an den groben Tisch, auf dem eine Kamera, ein paar Landkarten und ein halb aufgezehrtes Abendbrot, bestehend aus zwei Bechern Joghurt, ein paar Äpfeln, weichem Bauernbrot und einem halben Brathähnchen stand.

    Im Fernseher sagte der Sprecher, während wieder die Heidelandschaft und die breiten Sandwege gezeigt wurden: „Ein bisschen sieht es aus, als wäre hier kürzlich die Arche Noah beladen worden: Dutzende Spuren von Wildschweinen, Rehen, Hirschen und Hunden zeichnen sich auf dem Sandboden am Rande des Truppenübungsplatzes Oberlausitz ab. Und doch sticht für unsere Wildbiologen aus dem scheinbaren Wirrwarr eine Spur heraus: Ein junger Wolf ist vor kurzem in raschem Schritt über die Lichtung gelaufen. Eines von mittlerweile vermutlich 18 Tieren, die in der sächsischen Region an der Grenze zu Brandenburg und Polen, einzigartig in Deutschland, heimisch geworden sind. Eine Heimat gefunden haben hier mittlerweile auch Frank Schirmer und Elsa Gluht, inzwischen oft das «Wolfspärchen» genannt. Im Auftrag des Umweltministeriums beobachten die beiden seit Mitte vergangenen Jahres die ursprünglich aus Polen eingewanderten Wölfe und leisten Aufklärungsarbeit: Sie informieren die Öffentlichkeit über die Tiere und beraten Schäfer, wie sie ihre Herden vor den Räubern schützen können. So ganz nebenbei lenken sie mit ihrer Arbeit auch noch ein bisschen das Interesse auf die strukturschwache Region, wo die Wölfe den Tourismus ankurbeln könnten." Frank erklärte: Wir brauchen diese Filme. Du glaubst ja gar nicht, was für eine Agitation hier zu leisten ist. Manchmal sei es wie im Mittelalter, ergänzt er und zündet sich wieder eine Zigarette an, die unheimlichsten Geschichten würden erzählt, uralte Mythen und Legenden, dass einem das Blut in den Adern gefriere, und jedes neue tote Schaf, das sie hier mit aufgerissener Kehle fänden, gäbe neue Nahrung, selbst aufgeklärte Leute fielen immer wieder darauf herein. Sogar von Wehrwölfen und solchem Unsinn werde geredet, jawohl von Wehrwölfen, stell dir das vor, sie träten im Gefolge der Wölfe auf, sagt man, und geisterten als Gespenster durch unsere Wälder, fänden immer wieder neue Opfer, die sich dann ebenfalls in einen Wehrwolf verwandeln müssten. Frank schüttelt den blonden Lockenkopf. Erst gestern sei ein alter Schäfer ganz aufgeregt in die Station gekommen und hätte davon berichtet, wie ihm auf einem nächtlichen Kontrollgang ein solches Wesen begegnet sei. Rote Augen und furchterregende Zähne und einen halb aufrechten Gang, zottiges Fell. Zum Verrücktwerden, diese albernen Geschichten.

    Erst nach dem dritten Schnaps, den ich ihm spendiert habe, lachte Frank, ist er wieder zu Verstand gekommen und abgezogen.

    Nur gut, dass wir unseren Radon haben.

    Wer denn dieser Radon wäre, fragte ich.

    Radon? Radon Lupescu heißt er.

    Ein lieber Gast aus Rumänien, antwortete Elsa, ein anerkannter Wolfsforscher, der uns hilft, die Station aufzubauen. Internationaler Wissenschaftleraustausch. Wir beide sind im vergangenen Jahr drei Monate in den Karpaten gewesen. Jetzt haben Sie uns Radon geschickt. Du wirst ihn noch kennen lernen. Zur Zeit macht er seinen abendlichen Kontrollgang. Doch, Du wirst Hunger haben, iss nur, sagt Elsa. Sie stand auf, tätschelte den Hund und ging zu einer Kochnische. Ich werd Dir einen Tee aufbrühen.

    Während ich mir ein Stück von dem kalten Brathähnchen nehme, erzählte ich von der Reportage, die ich schreiben wollte, spreche von Organisatorischen, fragte nach Diesem und Jenem. Dann schauten wir alle drei noch ein Stück des Videos an. Elsa blickte auf die Uhr. Ich glaube, sagt sie, Radon kommt doch erst später. Vielleicht sogar erst, wenn der Tag graut. Frank nickt schweigend und gähnt. Elsa zu mir: Du wirst ihn morgen kennen lernen. Komm Max, ich will Dir Dein Zimmer zeigen, Du wirst müde sein. Und tatsächlich, ich war während der Filmvorführung ein paar Mal eingenickt.

    Elsa führte mich über eine gewundene Holztreppe in den ersten Stock. Das Zimmer sah aus wie ein gemütliches Bauernstübchen. Holzgetäfelte Wände und eine Kassettendecke von heller Birke, ein schmuckes Schränkchen, ein Bett mit artigen blaukarierten Bezügen, dazu ein kleines dreibeiniges Tischchen mit einem dunkelblauen Deckchen, zwei Stühle, unter dem Fenster eine Kommode, links ein Wandregal, bestehend aus zwei Brettchen, die in einem Drahtgestell hingen, alle Holzteile in sandfarbener Birke - wie im Märchen dachte ich. Elsa zeigte mir, wo die Handtücher lagen und hinter einer Wandtür das winzige Bad.

    Schlaf gut, sagte sie. Baldur (das war der Weimaraner Jagdhund) wird dich um sieben Uhr wecken. Dann war sie hinaus. Nicht einmal „Danke hatte ich gesagt, und „Gute Nacht auch nicht. Was wäre ich doch für ein ungehobelter Klotz, dachte ich.

    Die Nacht war warm und ich hatte das Fenster, das zum Wald hinausschaute, geöffnet. Ich packte meine Tasche aus, brachte den Rasierapparat und die Waschutensilien ins Bad, legte den Schlafanzug wie ein ordentlicher Mensch aufs Bett. Dabei musste ich an Renate denken, ich stellte mir vor, wie sie lächeln würde, wenn sie mich so sähe. Plötzlich war ich nicht mehr müde. Also nahm ich den Labtop und wollte noch ein paar Seiten schreiben. Als ich vielleicht drei Seiten geschrieben hatte, ein Pensum, mit dem ich zufrieden war, klappte ich das Gerät zu. Aber jetzt hatte ich erst recht nicht die geringste Lust zum Schlafengehen. Ich schritt vor dem offenen Fenster hin und her und überdachte das soeben Geschriebene. Mitten in diesem Nachdenken, das mich gänzlich gefangen nahm, hörte ich ein Geräusch, das sich anhörte, als schleppe jemand unter großer Anstrengung einen schweren Gegenstand vom Waldrand zur Zaungrenze der Station. Dieser Jemand keuchte und zerrte, kleine Äste brachen, Laub raschelte. Es entstand eine Pause, doch kurze Zeit später war wieder das Keuchen und Zerren, das Schleppen und Rascheln zu hören. Der Weimaraner, der jetzt frei lief, war offenbar zum Zaun gestürmt. Von dort vernahm ich sein Knurren und dann wütendes Gebell. Ich trat ans Fenster. Doch, obwohl das Licht meines Zimmers ein wenig ins Dunkel vor dem Haus leuchtete, konnte ich nichts erkennen. Da dachte ich an meine Taschenlampe, die ich eingepackt hatte. Ich leuchtete hinunter und sah im Schein der Lampe zu meinem Entsetzen mitten im Laubwerk des dichten Unterholzes, wenige Meter vom Zaun entfernt, einen Menschenkopf. Die Erscheinung währte nur einen Augenblick, aber das eigenartige Aufblitzen der Augen, die meinem Blick begegneten, beeindruckten mich mehr, als ich sagen kann. Und, obwohl ich mir bewusst war, dies sei Unsinn, Phantasterei, ich sei nur übermüdet und es würde sich alles ganz sicher natürlich aufklären, fielen mir die Schauergeschichten wieder ein, die ich vor zwei Stunden unten von dem blonden Frank gehört, auch ähnliche Geschichten, Bücher, Filme, von denen ich wusste und von denen ich gelesen oder die ich vor langer Zeit gesehen hatte, ich dachte an Wehrwölfe und Lemuren, an Untote wie Graf Dracula, an aufgerissene Schafskehlen, verschwundene Kleinkinder, blutleere Jungfrauen und eine gewisse Unruhe befiel mich mit aller Macht. Ich fuhr unter hastigem Atmen zurück. Doch, als ich kurz darauf wieder ans Fenster trat, und ein paar wenige Worte, wie „He, Hallo oder „Wer ist da? oder „Zeigen Sie sich!" hinab gerufen hatte, konnte ich nichts mehr entdecken. Die seltsame Erscheinung war verschwunden.

    Die Tür wurde aufgerissen, Elsa kam herein. Was ist los? Ich habe unten noch gearbeitet, da hörte ich von hier oben deine Schreie.

    Ich erzählte ihr, was vorgefallen war.

    Du wirst dich getäuscht haben, sagte Elsa und lächelte, sie war mit schnellen Schritten zum Fenster gegangen, hatte sich hinausgebeugt, dann, rasch entschlossen, fast hastig, verriegelte sie es.

    Nein, nein, antwortete ich, als sie mir wieder gegenüber stand, ganz unmöglich, ich habe ganz deutlich da unten im Unterholz vorm Zaun einen Menschen gesehen, einen Menschen, der sich ins Gebüsch duckte, als er sich entdeckt glaubte. Sie sind hier nahe der Grenze, passiert da nicht manchmal was? Asylanten, stammend von den wildesten Völkern, die durch Polen gezogen, die durch die Neiße gewatet sind, zu allem entschlossen, durstig, hungrig, ohne Geld, vielleicht auch Kriminelle, Gewaltverbrecher, Mörder, Diebe, Einbrecher, Betrüger ...

    Ach Max, so reden sie an den Stammtischen. Was gibt´s denn hier zu holen? Nein, hier ist noch nichts vorgekommen, die ganze Zeit, die wir in der Station leben, nicht das Geringste. Fast zwei Jahre! Wir fühlen uns sicher, wir sind eine Forschungsstation. Wir sind harmlose Biologen. Wer sollte ...

    Dann muss

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