Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Morde en passant: Suzanne & Michel 1 - 3
Morde en passant: Suzanne & Michel 1 - 3
Morde en passant: Suzanne & Michel 1 - 3
Ebook321 pages4 hours

Morde en passant: Suzanne & Michel 1 - 3

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Der Privatier und Hobby-Paläontologe Michael Baumann hat sich in einer kleinen Stadt in der Provence niedergelassen. Als zufälliger Zeuge einer Katastrophe lernt er die junge Journalistin Suzanne Fresson kennen, die zu den Ereignissen recherchiert. Während sie einander privat näher kommen, werden sie immer wieder mit Verbrechen konfrontiert, die von ihnen aufgeklärt werden wollen. Dabei geraten sie selbst das eine oder andere Mal in größte Gefahr, sei es im provençalischen Bergland, an der Côte d'Azur oder in den österreichischen Alpen.
LanguageDeutsch
PublisherMediagency
Release dateMar 17, 2019
ISBN9783966103770
Morde en passant: Suzanne & Michel 1 - 3

Read more from Bruno Moebius

Related to Morde en passant

Related ebooks

Thrillers For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Morde en passant

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Morde en passant - Bruno Moebius

    Moebius

    Morde en passant

    Suzanne & Michel

    1 – 3

    Impressum

    Text: Bruno Moebius

    Layout: Bruno Moebius

    Cover Design: Bruno Moebius

    © Mediagency, 2019

    Kapitel 1: Zerschellt

    Die beiden Männer stiegen den schmalen Pfad hinan, bis sie den Waldrand erreichten. Von einem Schritt zum nächsten gab es keine Bäume mehr, keine Gräser oder Kräuter. Nur felsiger Boden lag vor ihnen. Der Hang war von der Morgensonne beschienen und kleine steinerne Grate warfen lange Schatten.

    Der Ältere bereute bereits, dass er mitgekommen war. Michel, wie er den Jüngeren nannte, hatte ihn gewarnt, dass es ein wenig anstrengend werden könnte, doch er hatte nur gelacht.

    »Ich lebe seit mehr als fünfzig Jahren hier. Ich kenne mich aus. Sieh du nur zu, dass du mit mir Schritt halten kannst!«, hatte er am Vorabend großmäulig verkündet, als sie den Ausflug bei einem letzten Glas Wein besprochen hatten.

    »Ich denke, hier machen wir Pause«, schlug der Jüngere vor und Antoine atmete auf.

    »Meinetwegen können wir gleich bis zum Gipfel weitergehen«, scherzte er, zugleich hoffend, dass er sich damit kein Eigentor schoss.

    »Pause. Basta!«

    Michel ließ sich auf dem quer liegenden Stamm einer Buche nieder und öffnete seinen kleinen Rucksack. Er spülte mit dem ersten Schluck aus seiner Wasserflasche den Mund aus, spie das Wasser in weitem Bogen aus, dann erst trank er bedächtig. Antoine hing an seiner eigenen Flasche, als wäre er kurz vor dem Verdursten. Michel registrierte es mit Missfallen, aber er schwieg. Er war nicht hier, um den Oberlehrer zu geben. Es stand ihm nicht zu, umso weniger, als er selbst eine Zigarette aus einer Packung klopfte und sie anzündete.

    »Meinst du, dass wir etwas finden werden?«, fragte Antoine nach einem befreienden Rülpsen.

    »Ich finde fast immer etwas. Diese Gegend ist – wie sagt man? – eine Fundgrube. Aber nur selten lohnt es sich, etwas mitzunehmen.«

    »Ich bin schon mit einem kleinen Stück zufrieden. Egal, was es ist. Zur Gesellschaft für meine Sirenia.«

    Antoine spielte darauf an, dass er seit Jahren einen Stein besaß, etwa so groß wie zwei Fäuste, mit dem Abdruck eines kleinen Teils einer Seekuh, die vor zwanzig Millionen Jahren an der damaligen Meeresküste verendet sein mochte und sich in Stein verewigt hatte. Im ‚Tal der Sirenen‘ oberhalb von Castellane fand man solche Steine wie anderswo Bachkiesel.

    »Wir werden sehen.« Michel blickte auf seine Uhr, drückte die Zigarette sorgfältig aus und schob den Stummel zurück in die Packung.

    »Weiter geht‘s. Es ist schon halb elf. Wir müssen dort hinüber.«

    Antoine sah mit einiger Erleichterung, dass sein Gefährte nicht hinauf zum Gipfel, sondern seitwärts zeigte.

    Sie machten sich auf den Weg, wobei dies nur eine Redensart war, denn Weg gab es hier keinen mehr, nur noch Fels und Geröll, dazwischen Flecken mit Erde, die der Erosion früher oder später zum Opfer fallen würden wie überall oberhalb der Baumgrenze.

    Wenige Minuten später hatten sie den Hang gequert, mussten nur noch einen kleinen Grat überwinden, um auf die Schattenseite zu gelangen, als sie wie auf Kommando den Schritt verhielten.

    »Merde!«

    Antoine brachte es auf den Punkt.

    Dicht vor ihnen, nicht viel höher als da, wo sie standen, raste lautlos bis auf ein dünnes Pfeifen der Luft etwas Glänzendes so schnell vorüber, dass es bereits außer Sicht war, als Antoine sein Wort zu Ende gebracht hatte.

    »Was zum …«, brachte Michel heraus, als ein fernes dumpfes Geräusch ertönte, ein Knirschen, wie es vielleicht die Buche von sich gegeben hatte, sich vor Zeiten dem Sturm ergebend.

    »Wir müssen Hilfe rufen«, sagte Antoine heiser. »Du hast doch dein Smartphone dabei, wie ich dich kenne.«

    »Kein Empfang, glaube mir«, antwortete Michel. »Ich bin schon öfter hier gewesen. Mit etwas Glück finde ich kurz vor Le Vernet ein Netz.«

    »Also laufen wir!« Antoine machte kehrt und rannte los, Michel folgte ihm.

    »Pass auf! Brich dir kein Bein! Wenn ich dich tragen muss, brauchen wir noch länger«, rief er dem Älteren hinterher. So schnell hatte er ihn noch nie sich bewegen gesehen. Nun, beim Pétanque wäre das kaum vorstellbar gewesen. Michel rannte jetzt ebenfalls, sorgsam darauf achtend, wohin er seine Füße setzte.

    Was hatte er da bloß gesehen? Zweifellos ein Flugzeug. Es musste ziemlich groß gewesen sein. Vielleicht eine der Mirages, die gelegentlich über die Gegend donnerten und die Leute mit ihrem Überschallknall erschreckten. Nein, das konnte nicht sein. Die waren doch nicht viel größer als die kleinen Propellermaschinen, mit denen man von Digne oder Sisteron aus Rundflüge machen konnte. Es war ein Verkehrsflugzeug gewesen, dessen war er sicher. Viel zu tief und viel zu schnell, um vielleicht eine Notlandung zu versuchen. Sie waren am Waldrand angelangt, als ein gewaltiges Fauchen sie aufschreckte und nach oben blicken ließ. Es war unverkennbar eine Mirage, die über sie hinwegfegte und auch schon wieder verschwand. Sie musste eine unglaublich enge Kurve geflogen sein, oder es war eine zweite Maschine, die keine halbe Minute später in die gleiche Richtung donnerte.

    »Die sind auf der Suche«, rief Antoine und setzte sich wieder in Bewegung, den Pfad durch den Wald hinab. Zwanzig Minuten später saßen sie in Michels Geländewagen und holperten auf die Schotterstraße zu, die sie nach Le Vernet bringen würde.

    *

    »Guillaume aus Prads hat eben angerufen. Sie haben es auch gesehen!«

    Der Mann, der eben durch die Tür des Le Moulin ins Freie stürzte, war Albert Meunier, der Bürgermeister von Le Vernet und stolzer Besitzer des Cafés. Es war das einzige gemauerte und mit Putz versehene Haus neben einer Gruppe von Natursteinhäusern, die bereits seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben waren. Mühle gab es hier längst keine mehr, aber Imbisse für Touristen, die die Route Napoléon in Digne verlassen hatten und hier nach Norden wollten, und an Vormittagen wie diesem standen Bauern, Forstarbeiter und Lieferanten gern ein Weilchen beisammen, rauchten und hielten ein Schwätzchen, während sie sich mit dem einen oder anderen Pastis stärkten.

    Sieben oder acht Männer standen da, den Blick nach Osten gerichtet, wo hinter den niedrigeren Vorbergen die Tête de l‘Estrop aufragte. Irgendwo zwischen Prads-Haute-Bléone und dem Estrop war das Flugzeug verschwunden, das lautlos wie eine Eule vom Süden her gekommen war, so dicht über den Bergkämmen, dass jeder der Männer wusste, dass es unweigerlich zur Katastrophe kommen würde.

    »Wo ist es niedergegangen? Sollen wir hinauffahren und helfen?«, fragte einer.

    »Mit deinem Truck kommst du niemals nach Prads hinauf«, sagte ein Anderer.

    »Na, wenn sie es nicht gesehen hätten, hätte Guillaume doch nicht angerufen, oder?«, sagte Meunier. »Er war völlig aus dem Häuschen. Die Maschine war so tief, dass sie Angst hatten, sie würde ihnen die Dächer von den Häusern abreißen.«

    »Wenn ich nicht zufällig in die Richtung gesehen und geschrien hätte, hätte keiner von euch etwas bemerkt«, meldete sich der alte Ricard. »Die Maschine war so schnell, dass wir sie nur wenige Augenblicke lang gesehen haben. Wenn ihr mich fragt, haben die oben in Prads gerade einmal einen Schatten gesehen, dann war es auch schon vorbei. Die haben sich bestenfalls nachher in die Hosen geschissen.«

    Er kicherte. Niemand lachte mit.

    »Ich fahre hinauf.« Einer der Forstarbeiter blickte um sich. »Wer kommt mit mir?«

    Fünf Männer zwängten sich in seinen Allrad-Suzuki und er fuhr los.

    »Wir halten hier die Stellung«, sagte Meunier. Ricard nickte.

    »Ich hänge mich ans Telefon. Mal hören, was die in Beaujeu und La Javie erzählen. Die müssten doch auch etwas gesehen haben.«

    Er verschwand im Inneren des Hauses.

    Ricard setzte sich und zündete mit etwas zittrigen Händen seine Pfeife an, die ausgegangen war. Ein paar halb volle Gläser standen verlassen auf dem Tisch. Welches davon war seines? Er sog an der Pfeife, dann zog er die Flasche, die Meunier nicht mitgenommen hatte, an sich und setzte sie an die Lippen.

    Pastis pur. Zur Beruhigung, dachte er. Hier würde bald einiges los sein.

    *

    Michel brachte seinen Wagen gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Beinahe wäre er in einen verwaisten Truck geknallt, als er viel zu schnell in den kleinen Parkplatz beim Le Moulin kurvte. Antoine und er sprangen heraus, stürmten ins Lokal und prallten mit dem Wirt zusammen, der eben hinaus wollte.

    »Telefon!«, brüllte Michel ganz entgegen seiner Art und rempelte Meunier zur Seite.

    »Langsam, langsam!«, sagte dieser. Er wusste, wie man mit Rabauken umgehen musste, die einen über den Durst getrunken hatten und den starken Mann spielten. Er wusste aber auch, dass der Neuankömmling nicht betrunken, sondern höchst aufgeregt war. Das lief beinahe auf dasselbe hinaus.

    »Geht es um den Flugzeugabsturz?«

    Michel sah ihn verblüfft an.

    »Sie wissen davon? Haben Sie etwa auch beobachtet, was …«

    »Und ob! Und mittlerweile weiß das ganze Tal davon. Der Bürgermeister von Prads hat einen Rundruf gemacht. Die Maschine ist anscheinend ganz in ihrer Nähe heruntergekommen.«

    »Wir waren oben. Nicht in Prads. Zwischen hier und Prads«, meldete sich Antoine zu Wort. »Es war … gespenstisch. Erst die riesige Maschine, lautlos. Dann die Mirages …«

    »Mirages?« Meunier blickte erstaunt von einem zum anderen. Er hatte keine Mirage gesehen. Auch die Anderen nicht, so viel er wusste.

    »Also, von Mirages weiß ich nichts. Aber lautlos war das Flugzeug – ich weiß gar nicht, wie wir darauf aufmerksam wurden.«

    Nun waren es Michel und Antoine, die ihn erstaunt ansahen.

    »Ihr könnt ja den alten Ricard fragen. Der sitzt draußen und säuft meinen Pastis leer.«

    »Ich rufe Suzanne an. Das wäre doch mal eine Story für sie«, sagte Antoine. An Meunier gewandt, erklärte er mit Stolz in der Stimme: »Suzanne ist meine Tochter. Sie arbeitet für den Matin.«

    »Das Telefon hängt neben der Theke. Aber machen Sie es kurz, Monsieur. Ich erwarte einen Anruf meines Schwagers. Er ist Gendarm in Digne.«

    Antoine beeilte sich, ans Telefon zu kommen.

    Michel war irgendwie erleichtert. Man wusste also schon Bescheid. Er musste niemanden mehr alarmieren. Die Anspannung der letzten Stunde legte sich allmählich und erst jetzt fiel ihm auf, dass er seit der Verschnaufpause am Waldrand nicht mehr geraucht hatte.

    Er wandte sich um und trat ins Freie. Vorhin hatte er nicht darauf geachtet, doch jetzt sah er den alten Mann, der da saß und an seiner Pfeife zog.

    »Es waren Deutsche«, nuschelte Ricard, ohne die Pfeife abzusetzen, sodass ihn Michel nur mit Mühe verstehen konnte. »Ich bin ziemlich sicher. Meine Augen sind noch sehr gut.«

    »Es war so schnell – ich konnte nichts erkennen«, sagte Michel. »Wir waren auch sehr nahe dran.«

    »Oben im Mal Vallon? Auf der Suche nach diesen Meeresungeheuern?« Ricard kicherte.

    Meunier kam durch die Tür und enthob Michel einer Antwort.

    »Sie haben Hubschrauber hinaufgeschickt. Sagt mein Schwager. Und sie haben die Compagnie des Guides in Les Menuires alarmiert. Sie haben die Absturzstelle anscheinend gefunden. Irgendwo am Col de Mariaud.«

    Antoine kam nun ebenfalls zum Vorschein.

    »Stell dir vor, Michel – Suzanne wusste bereits von einem vermutlichen Absturz. Ist das zu fassen? Sie ist schon auf dem Weg hierher.«

    »Was kann sie hier tun? Hier ist ja nichts. Die Maschine ist dort oben irgendwo. Oder was davon übrig ist.«

    »Na, Augenzeugen interviewen. Von den Bergungsarbeiten berichten. Fotos machen. Was weiß ich? Was Journalisten eben so tun, wenn ein Unglück geschehen ist.«

    »Ein Jammer, dass die Straße hinauf nach Prads schon unten bei La Javie abgeht und die zum Col de Mariaud weiter oben. Es kommen ja alle vom Süden oder vielleicht auch von Seyne. Hier wird niemand vorbeikommen.«

    Meunier wirkte bekümmert.

    »Ja, das Geschäft werden die dort oben oder unten machen«, nuschelte Ricard. »Und die hier …«, er deutete auf die halb leeren Gläser und die mittlerweile völlig leere Flasche auf dem Tisch, »… kannst du wohl auch abschreiben.«

    »Der Letzte bezahlt«, knurrte Meunier, er meinte es aber nicht so. Ricard war so etwas Ähnliches wie die Fossilien in den Bergen. Immer schon hier gewesen, mit der Umgebung verwachsen. Und irgendwann würde er versteinert das Café Le Moulin bewachen, und in Neumondnächten könnte man den Tabak in seiner Pfeife glühen sehen.

    *

    In Castellane gab es – wie im restlichen Europa –  nur ein Thema: Absturz eines mit hundertfünfzig Personen besetzten Passagierflugzeugs der Germanhoppers auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf. Überflüge waren hier stündliche Routine. Man schenkte den Flugzeugen in zehntausend und mehr Metern Höhe keine Beachtung und kaum jemandem war aufgefallen, dass die Unglücksmaschine viel tiefer geflogen sein musste, sonst hätte sie nicht ungefähr fünfunddreißig Flugkilometer weiter in weniger als zweitausend Metern Höhe aufgeschlagen.

    Michel saß an einem der kleinen Tische vor dem Hotel, wo er stets frühstückte, wenn es das Wetter erlaubte. Jetzt, gegen Ende April, war es schon am Morgen warm genug, um draußen zu sitzen und das Erwachen des Städtchens zu beobachten. Noch waren kaum Touristen hier. Sie würden erst um die Pfingstfeiertage herum kommen, der große Ansturm folgte üblicherweise aber erst Anfang Juli.

    »Ist es nicht schrecklich?«

    Jeanne stellte die Tasse mit köstlich duftendem Espresso und ein Croissant auf einem kleinen Teller vor Michel auf den Tisch.

    »Danke. Ja, es ist schrecklich. All die unschuldigen Opfer«, sagte er. Jeanne setzte sich ihm gegenüber. Es war unsinnig, denn alle Welt hatte heute wohl schon gefrühstückt, aber er dachte plötzlich, es wäre pietätlos, jetzt herzhaft in ein Croissant zu beißen.

    »Ich werde in Nôtre-Dame du Roc ein Licht anzünden. Für die armen Menschen in dem Flugzeug. Und aus Dankbarkeit, dass es Antoine – und natürlich auch dich – nicht erwischt hat.«

    »Wir waren weit genug entfernt«, sagte Michel. »Allerdings … es hätte uns auch auf den Kopf fallen können. Oder auf die Häuser in Prads-Haute-Bléone. Oder mitten auf die Place de l‘Église.«

    Jeanne bekreuzigte sich. Michel hatte sich im Lauf der Zeit daran gewöhnt. Immerhin bewohnte er das Zimmer in Ma Petite Alberge am Boulevard de la République schon seit beinahe drei Jahren. Jeanne und Antoine waren die Besitzer des Hotels. Nach und nach hatten sie sich angefreundet, und außer ihnen wusste so gut wie niemand, wo er herkam. Die meisten hielten ihn wegen seiner Aussprache für einen Schweizer oder Elsässer und Michel ließ sie in dem Glauben. In Wahrheit hieß er Michael Bergmann, war Österreicher, stammte aus der Nähe von Wien, hatte aber einige Jahre in Zürich und Genf gearbeitet.

    »Suzanne ist noch oben in Seyne-les-Alpes. Sie haben dort eine Zentrale eingerichtet. Wir haben spät am Abend noch telefoniert. Sie weiß gar nicht, was sie zuerst tun soll. Es gibt so viele Augenzeugen, das glaubt man gar nicht. Jeder hat etwas gesehen. Jeder etwas anderes. Und dann die Politiker. Aus Spanien, aus Deutschland. Und unser Präsident war dort.«

    »Ja, es war gestern im Fernsehen. Und hier steht es auch drinnen.« Michel schwenkte den Matin, den ihm Jeanne wie jeden Morgen auf den Frühstückstisch gelegt hatte.

    Er zeigte auf die dicke Schlagzeile. Darunter stand ‚Suzanne Fresson berichtet direkt vom Unglücksort‘.

    »Ja, das ist meine Suzanne«, sagte Jeanne stolz. Sie hätte es zwar lieber gesehen, wenn ihre Tochter daheimgeblieben wäre, um im Hotel und im Restaurant mitzuarbeiten, irgendwann geheiratet und mit ihrem Mann den Betrieb übernommen hätte, doch Suzanne hatte sich anders entschieden. Es sah ganz so aus, als hätte sie das Richtige getan, denn immer wieder erschienen Artikel mit ihrem Namen darunter, und jetzt sogar auf der Titelseite des Matin.

    »Wo steckt denn Antoine?«

    »Er ist drüben bei Martin. Er muss ja allen von seinem Erlebnis berichten. Du kennst ihn doch.«

    Michel nickte. Er konnte sich gut vorstellen, wie Antoine an der Theke der Kneipe lehnte und dem Halbkreis der Rentner ausführlich schilderte, wie er um Haaresbreite dem Tode entronnen war.

    »Dabei gibt es gar nicht viel zu erzählen«, sagte er. »Wir standen da, das Flugzeug raste an uns vorüber, dann war alles schon wieder vorbei.«

    »Ich habe das ein wenig anders gehört.« Jeanne lächelte. »Aber egal. Ich muss jetzt in die Küche. Es ist viel zu tun bis Mittag.«

    Sie überließ Michel sich selbst, seinem Frühstück und dem Matin, und er biss endlich in sein Croissant, während er die Zeitung aufschlug und zu lesen begann.

    *

    Suzanne Fresson diskutierte bis spät in die Nacht hinein in einer Bar mit ihren Kollegen von anderen Zeitungen und Nachrichtenagenturen. Sie spekulierten, wie es wohl zu dieser Katastrophe gekommen sein könnte, wobei der Fantasie kaum Grenzen gesetzt waren, denn brauchbare Fakten gab es keine. Kaum eine oder einer hatte sich darüber Gedanken gemacht, dass man sich rechtzeitig um ein Nachtquartier kümmern sollte, und um zwei Uhr war es zu spät. Suzanne hatte Glück, denn ihre Kollegin Marie Lecomte vom France Soir war schlauer als Andere gewesen und hatte sich schon am frühen Abend ein Zimmer gesichert und lud Suzanne kurzerhand ein, das Zimmer mit ihr zu teilen.

    Frühstück gab es gegen neun Uhr in einer Bäckerei zwei Häuser weiter, wo schon ein paar Kollegen Croissants und Puddingschnecken in sich hineinstopften.

    »Um elf Uhr gibt es eine Pressekonferenz«, wusste einer zu berichten, der aussah, als hätte er im Auto geschlafen.

    »Und wo findet die statt?«, fragte Marie mit vollem Mund. Sie hatte eines der letzten Croissants ergattert. Die Bäckerei war wohl nie zuvor um diese Zeit schon so gut wie ausverkauft gewesen.

    »In der Mairie«, sagte ein Anderer. »Die dient jetzt vermutlich als Hauptquartier.«

    Suzanne holte ihr Smartphone hervor und schickte eine Kurznachricht mit dieser Information an ihre Redaktion, dann organisierte sie sich Kaffee in einem Pappbecher und trat hinaus auf die Straße. Es war kühl, aber die Sonne, die schon über den Berggipfeln stand, würde das Tal bald wärmen. Genau in dieser Richtung sah Suzanne ein paar Helikopter, die zum Unglücksort unterwegs waren oder von dort zurückkehrten. Die Absturzstelle war zu Fuß nur mühsam zu erreichen. Die Hubschrauber konnten dort nicht landen, das hatte sich schon am Vortag herausgestellt. Die Helfer mussten sich abseilen.

    Für Journalisten gab es keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen, außer es hatte einer gute Beziehungen und wurde bei einem der Flüge mitgenommen. Suzanne begann sich zu fragen, was sie eigentlich hier noch tun konnte. Es erschien ihr wenig sinnvoll, auf die Verlautbarungen dieser und vermutlich folgender Pressekonferenzen zu warten. Die Leute von der Agence France Presse waren ja auch hier, und was die erfuhren, konnte jede Redaktion Minuten später abrufen. Der Besuch weiterer Promis war auch nicht zu erwarten, nachdem schon die wichtigsten Vertreter der betroffenen Regierungen vor Ort gewesen waren; worauf sollte sie also noch warten?

    Sie winkte durch das Schaufenster in die Bäckerei hinein und ging dann die Straße hinunter, in der sie ihren kleinen Renault geparkt hatte, stieg ein und fuhr los. Am südlichen Ortsende von Seyne kam sie an eine

    Straßensperre. Sie musste den Wagen anhalten, da einer der Gendarmen mit seiner Kelle winkte.

    »Bonjour, Madame«, sagte er nach einem Blick auf den Presseausweis, den sie hinter die Windschutzscheibe geklemmt hatte. »Wenn Sie Seyne verlassen, kann ich nicht garantieren, dass wir Sie später wieder einfahren lassen. Die Gegend soll angeblich völlig abgeriegelt werden.«

    »Warum denn dieses?«

    »Anordnung von ganz oben, sagt man. Die Angehörigen der Opfer werden eingeflogen. Vermutlich kommen sie dann von Nizza oder Marseille in Bussen.«

    »Eher Nizza«, sagte Suzanne. »Ist viel näher als Marseille. Allerdings … von Marseille bis Digne gibt es die Autobahn. Sie fliegen also die Angehörigen ein? Das geht aber schnell. Man hat ja noch nicht einmal die Opfer geborgen. Oder was von ihnen übrig ist. Es soll dort oben ja alles in kleine Stücke zerfetzt sein.«

    Suzanne erschauerte bei der Vorstellung.

    »Waren Sie oben an der Absturzstelle?«, wollte der Gendarm wissen. Er war neugierig, aber noch mehr gefiel ihm die hübsche junge Journalistin. Den Typen vorhin hatte er ohne Weiteres passieren lassen.

    »Nein, sie lassen keine Journalisten hinauf. Sie brauchen den Platz in den Helikoptern für die Helfer. Ist ja auch einzusehen. Ich frage mich bloß, wer die Fotos oben gemacht hat.«

    In so gut wie allen in-und ausländischen Zeitungen und im Internet waren Fotos von der Absturzstelle zu sehen, es waren vielleicht vier oder fünf, und immer die gleichen.

    »Die Helfer vor Ort, denke ich«, sagte der Gendarm. »Oder die Hubschrauberpiloten. Vorhin ist einer hier durchgekommen, der hat etwas von Fotos gesagt, die er schnell irgendwohin bringen muss. Ach ja, und zum nächsten Telefon wollte er dringend.«

    »Eigenartig. Warum hat er nicht in Seyne telefoniert? Er kam doch wohl von dort.«

    »Er kam von Norden, also kann er nur von Seyne gekommen sein. Ist ja auch egal. Hinaus darf jeder, hinein nur mit Passierschein.«

    »Und das ist Befehl von oben?«

    Der Gendarm nickte.

    »Ist wahrscheinlich immer so bei solchen Katastrophen. Ich bin zum ersten Mal bei so etwas im Einsatz.«

    »Ja, wahrscheinlich«, sagte Suzanne und verschwieg, dass es auch ihr erster Einsatz bei einem solchen Ereignis war. »Wo ist denn hier das nächste Telefon?«

    »In Le Vernet, nur wenige Kilometer die Straße hinunter. Wenn Sie telefonieren wollen, fahren Sie einfach daran vorbei. Nach dem Ortsende ist an der rechten Seite das Café Le Moulin, dort können Sie ungestört telefonieren und auch eine Kleinigkeit essen. Das Café gehört meinem Onkel. Sagen Sie ihm, Bastien hat Sie geschickt.«

    »Danke, das werde ich tun. Darf ich jetzt durch?«

    »Selbstverständlich!« Bastien bekam einen roten Kopf. Gut, dass sein Vater, mit dem er gemeinsam zum Dienst eingeteilt war, schnell nach Le Vernet gefahren war, um ihnen einen Imbiss zu holen. Er hätte ihm die Ohren lang gezogen, wenn er Privatgespräche führte und die Leute ohne Grund aufhielt. Er hob den Absperrbalken zur Seite und winkte.

    Suzanne fuhr los, und als sie an dem Gendarmen vorbeirollte, rief sie aus dem Fenster:

    »Ich heiße Suzanne!« Dann stieg sie aufs Gas und der Renault beschleunigte rasant.

    *

    Michel machte nach dem Frühstück einen Spaziergang hinauf zur Kapelle Nôtre-Dame du Roc. Er hatte nicht vor, eine Kerze anzuzünden, wie Jeanne Fresson angekündigt hatte – sie würde es ohnehin nicht tun, da sie gar keine Zeit für so etwas hatte –, sondern wie schon einige Male den Blick ins Tal zu genießen und sich dabei zu erinnern.

    Vor sechs, nein vor sieben Jahren hatte er zum ersten Mal hier oben, einhundertvierundachtzig Meter über dem malerischen Ort, gestanden; mit Doris, seiner Frau.

    »Das ist ein wirklich nettes Städtchen«, hatte sie gesagt, »und der Blick von hier oben …«

    »Wenn wir uns einmal zur Ruhe setzen, können wir ja hierher übersiedeln«, hatte er scherzhaft erwidert, nicht ahnend, dass es beinahe so kommen würde – aber eben nur beinahe. Wenige Monate später hatte ein betrunkener Autofahrer Doris mitten aus ihrem Leben gerissen.

    Die Katastrophe in den Bergen, die sich so unmittelbar vor seinen Augen ereignet hatte, hatte Michel einmal mehr daran erinnert, wie sich von einer Sekunde auf die andere

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1