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Aus dem Koma zurück an die Universität: Was leistet die Natur? Was kann die Medizin? Was kostet ein Mensch? Ein Erfahrungsbericht
Aus dem Koma zurück an die Universität: Was leistet die Natur? Was kann die Medizin? Was kostet ein Mensch? Ein Erfahrungsbericht
Aus dem Koma zurück an die Universität: Was leistet die Natur? Was kann die Medizin? Was kostet ein Mensch? Ein Erfahrungsbericht
Ebook159 pages1 hour

Aus dem Koma zurück an die Universität: Was leistet die Natur? Was kann die Medizin? Was kostet ein Mensch? Ein Erfahrungsbericht

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About this ebook

Beim Befahren einer Wehranlage kentert der Physiker Wolfgang Kerber am 13. 3. 1999 mit seinem Kajak. Als er geborgen wird, hat er eine Körpertemperatur von 24 Grad. Er ist klinisch tot. Nur drei Monate später arbeitet er wieder in seinem alten Beruf, unternimmt Klettertouren und Kajakfahrten. In diesem Buch berichtet er von seinem Nahtod-Erlebnis und der Rückkehr ins Leben und dankt zugleich für die sprichwörtliche zweite Chance. Kerber gelingt dabei mit wissenschaftlich geschulter Beobachtungsgabe eine frappierend genaue Schilderung seines Zustands, die nicht nur Einblick in die ärztliche Kunst gewährt, sondern auch Aufschlüsse über Extremsituationen und die Psychologie eines Betroffenen gibt. Glück oder Vorsehung oder Ergebnis medizinischer Höchstleistungen? Kerbers behandelnder Arzt Michael Zimpfer schildert diesen seinen spektakulären Fall aus medizinischer Sicht und stößt unweigerlich auf Fragen, die uns immer wieder bedrängen: "Was leistet unsere Natur?", "Was kostet ein Mensch?" und "Was kann unsere Medizin – wenn man sie lässt?"
LanguageDeutsch
Release dateMar 25, 2020
ISBN9783904123266
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    Book preview

    Aus dem Koma zurück an die Universität - Wolfgang Kerber

    doch …

    1

    Wiedererinnern

    … Ich kann mich erinnern, dass Eiszapfen von den Bäumen hingen.

    Es war ein bitterkalter Tag. Wir fuhren entlang der Traisen, und wo das nicht möglich war, gingen wir zu Fuß zum Fluss. Bei Dickenau erreichten wir ein Wehr.

    Ein Wehr ist eine Anlage, um Wasser zu stauen. Wehre dienen Bewässerungszwecken, der Bereitstellung von Trinkwasser und Brauchwasser, der Schiffbarmachung, der Flussregulierung u. Ä. Für einen Wassersportler aber stellen sie eine besondere Herausforderung dar, oft auch eine besondere Gefahr, sie steigern den Reiz einer Fahrt, und damit den Nervenkitzel.

    Jedes Flusswehr besitzt einen anderen Gefahrenbereich. Die Stärke der Strömung ist vom Wasserstand abhängig. Man kann eigentlich nie genau vorhersagen, welche Situation man vorfinden wird. Über das Wehr, von dem hier die Rede ist, führte eine Stahlkonstruktion, sodass man es zu Fuß überqueren konnte. Aber sonst war daran nichts Besonderes; außer vielleicht, dass es von Vornherein unbefahrbar war, weil gar kein Wasser mehr darüberfloss.

    Irgendwann in Türnitz kam eine Brücke in Sicht. Sie erinnerte mich in ihrer Bauweise an den Stil ­Friedensreich Hundertwasser. Eine wirklich sehr markante Brücke.

    Jetzt ist meine Erinnerung wieder sehr vage, oder besser, ich erinnere mich in einer besonderen Weise, fast so wie eine Ahnung: Da ist etwas, das könnte so gewesen sein … Da waren diese Eiszapfen, die kommen mir jedes Mal in den Sinn.

    Immer wieder kreisen meine Gedanken um diesen Tag und diese Stunden. Zum Beispiel waren wir auf der Fahrt entlang der Traisen nicht allein. Ein Freund aus Tschechien hatte uns begleitet: Peter Schier. Aber interessanterweise fehlt dieser dritte Mann in meiner Erinnerung vollkommen. Ich kann mich absolut nur an Gerhard Neuwirth erinnern.

    Die Bilder, die in mir auftauchen, haben einen zumeist sehr spontanen Charakter: Ich erreiche das Gasthaus, von diesem Punkt aus zieht sich die Allee dahin, die Plätze sind da, und dann kommen die Kinder. Dass mein Freund diese in mir auftauchenden Wahrnehmungsbruchstücke später bestätigte, war für mich sehr wichtig. Ich wertete diese Tatsache als Erfolg. Und ich dachte mir: »Aha, ich komme jetzt an diesen Bereich heran, der lange Zeit in meinem Gedächtnis zugedeckt war.«

    Es war Christian May, der mir empfahl, mich in Hypnose versetzen zu lassen, um den Ereignissen von damals wirklich unmittelbar nahe zu kommen.

    Sigmund Freud hatte bekanntlich die Hypnose als therapeutische Maßnahme noch abgelehnt. Seither hat sich aber eine neue Generation in der Medizin dieser Form der Behandlung angenommen und auch erstaunliche Ergebnisse damit erzielt. Allerdings hat diese Form der Hypnose mit der Hypnose als Zirkusnummer, die manchmal in der Trivialliteratur herumgeistert, nichts zu tun.

    Einfach gesprochen, ist Hypnose ein Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Im EEG werden Alpha-Wellen sichtbar, die auf Wachheit des Gehirns und dennoch Entspanntheit deuten. Mediziner nutzen sie heute meist dazu, das Schmerzempfinden zu unterbinden. Man setzt sie dabei sogar bei Operationen als Narkosemittel ein, und manche Zahnärzte ersparen ihren Patienten dadurch die herkömmliche Lokalanästhesie durch Spritze.

    Im Bereich der Psychotherapie wird die Hypnose gerne bei Angstpatienten und Zwangsneurotikern angewendet. Der Patient befindet sich zu keinem Zeitpunkt in tiefer Trance, sondern er verfolgt das Therapie­geschehen mit. Er ist also keineswegs willenloser Befehlsempfänger. Körperlich und seelisch völlig ruhig, kann er miterleben, wie der Therapeut in seinem Inneren die einzelnen Erinnerungslagen Schicht für Schicht abträgt und Traumata interpretiert bzw. uminterpretiert.

    In meinem Fall rieten mir aber die Ärzte schließlich doch davon ab. Denn es ist zu bedenken, dass der Körper den Mechanismus des Vergessens spontan auch aus Selbstschutz entwickelt, damit, so sagte man mir, der traumatisierte Mensch nie in die Nähe jener Geschehnisse kommt, die ihn belasten könnten.

    Auch meine Therapeutin Billie Rauscher-Gföhler teilte diese Ansicht: Ich möge mich darauf lieber nicht einlassen. Was die Natur so tief verschlossen habe, das solle man nicht mutwillig heraufholen. Und irgendwie glaube ich, dass sie recht hatte, obwohl es mich in Gedanken immer wieder zu jenem Ereignis zurückzieht.

    Wenn ich diese Allee heute sehe, taucht ein konkretes Bild auf, das ich sogar eine kurze Weile nach dem Vorfall bereits richtig beschreiben konnte. Ich erzählte plötzlich eines Tages, was sich abgespielt hatte. Entscheidend für mich war, wie gesagt, die Überprüfung durch meinen Freund; denn diese Erinnerung hätte ja genausogut Teil eines anderen Geschehens sein können.

    Aber Gerhard Neuwirth konnte und kann die Richtigkeit meiner Angaben bestätigen. Alle Touren, die ich je unternommen habe, sind seither wie in einem Film wieder und wieder vor meinem inneren Auge abgelaufen:

    Ich denke etwa an die Seebachwalze auf der Lieser, an die Rennstrecke, unmittelbar nach der Seebach-Brücke, die erste Rechtskurve, alles bei relativ hohem Wasser und mit sehr vielen Felsen. Ich war damals mit einer Gruppe unterwegs, in der auch unsere Söhne Wolfgang und Mike fuhren. Es ist einfach ein fantastisches Erlebnis, diese Strecke zu durchfahren. Es gibt teilweise keinen Fluss zu sehen, weil zu viel Gischt die Sicht behindert, nur Paddel hoch, ein wenig balancieren; wenn man hineinfällt, ist man sowieso unter Wasser, wenn man nicht hineinfällt, kommt schon wieder eine Welle und so weiter. Diese rasche Abfolge von Aktionen, mit dem Ziel, im Boot zu bleiben und nicht zu kentern – ein extrem spannender Prozess! Sportarten wie Laufen oder Judo, die ich ebenfalls betreibe, finde ich nicht annähernd so faszinierend wie das Bootfahren oder auch das Bergsteigen und Klettern. Außer man fährt ein Zahmwasser auf der Traisen, wie wir damals.

    Natürlich nahmen wir den Fluss, soweit er parallel zur Straße floss, vom Auto aus gründlich in Augenschein. Man sieht von der Straße her sehr viel: den Fluss­verlauf, eventuelle Hindernisse im Wasser wie umgestürzte Bäume, die Wehranlagen. Bei manchen Wehren machten wir auch Halt. Das weiß ich noch, es war ja vor dem Unfall. Wir sahen, dass der Fluss reichlich Wasser führte. Als er nur noch so breit war wie ein Paddel lang ist, wollten wir starten.

    An dieser Stelle befand sich eben jenes Gasthaus. Als wir hinkamen, trafen wir auf eine Familie mit zwei Kindern, die gerade ein Picknick veranstaltete. Eines der Kinder, ein Junge, erwies sich als ungeheuer neugierig, er wollte unbedingt das Boot näher besichtigen. Er probierte Helm und Paddel aus. Als ich ihn aufforderte, doch einmal eine kurze Fahrt zu versuchen, hielt ihn der Vater zurück. So setzte der Kleine sich zwar hinein, aber das Boot blieb auf dem Trockenen.

    All das, was ich jetzt geschildert habe, spielt für mich eine wichtige Rolle, weil es Ereignissplitter sind, die eng mit Amnesie und Wiedererinnern zu tun haben: Es sind Teile des letzten Bildes, das ich aus der Zeit unmittelbar vor dem Unfall im Gedächtnis behalten habe bzw. das durch eine entsprechende Assoziation unversehens wieder zurückgekehrt ist.

    Die Amnesie, der Verlust des Gedächtnisses, wird nicht zu Unrecht als etwas bezeichnet, das an den Grundfesten des Ichs rüttelt. Sie bedeutet den partiellen Verlust der eigenen Identität. Ein Stück Lebenszeit, ein Stück Persönlichkeit ist plötzlich verschwunden.

    Nicht immer ist ein Unfall die Ursache: Auch Herzinfarkt, Epilepsie, Migräne, Alkohol- bzw. Medikamentenmissbrauch oder auch Stress u. a. können den Gedächtnisverlust verursachen. Und ebenso vielfältig wie die Auslöser sind die Erscheinungsformen.

    Während man früher annahm, dass Amnesie einen Menschen prinzipiell unfähig macht, neue Informationen zu speichern und alte abzurufen, trifft man heute genauere Unterscheidungen. So gibt es die psychogene Amnesie, meist hervorgerufen durch ein Trauma oder extremen Stress, oder vorübergehende Gedächtnisstörungen, die nicht länger als 24 Stunden dauern, schließlich auch Amnesien, die nur Teile des Gedächtnisses beeinträchtigen.

    In meinem Fall ist es so, dass die Zeit vor meinem Unfall bis etwa dreißig, vierzig Tage danach durch eine Totalamnesie mehr oder weniger komplett aus meinem Gedächtnis verschwunden ist. Diese Phase liegt im Dunkeln und scheint, abgesehen von wenigen Eindrücken, völlig gelöscht zu sein.

    Irgendwann dazwischen muss ich wohl kurz zu Bewusstsein gekommen sein, darauf nehme ich jedoch später noch Bezug.

    Im Wesentlichen weiß ich aber von allem nur das, was mir Gerhard Neuwirth oder meine Kinder, meine Frau und meine Schwester erzählten oder was punktuell in einem vagen Erinnerungsbild auftaucht. Und irgendwie lässt mir das keine Ruhe. Ich versuche nach so vielen Jahren immer noch, mir die Minuten und Sekunden vor dem Unfall ins Gedächtnis zurückzurufen.

    2

    Der Unfall

    Von nun an beginnt sich meine Erinnerung zu verdunkeln. Was in der Realität auf die Szene mit dem kleinen Jungen in unserem Boot folgte, die ich im letzten Kapitel geschildert habe, das ist auf dem Foto (siehe Bildteil) festgehalten, das mein Freund in einem der ersten Wehre oberhalb von Türnitz von mir aufnahm.

    Davon weiß ich schon nichts mehr. Ich erinnere mich nur an eine Brücke, die übrigens schon zum Ortsgebiet von Türnitz gehört. An jener Stelle befindet sich ein

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