Komplexe Seelenschäden
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About this ebook
Julia Freiberg
Ich wurde 1985 in Berlin geboren. Tief verbunden bleibt meine Seele mit dieser Stadt, auch wenn ich seit 2007 in Göttingen wohne. Schreiben ist schon seit der Grundschule meine Leidenschaft. Das Schreiben und die Werkzeuge der Meditation und des Yoga erlauben es mir, das Leben als bunten Ort der Fülle zu betrachten. Jeder Mensch in der U Bahn, jeder Passant birgt für mich einen Geschichtenreichtum, eine Inspirationsquelle.
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Book preview
Komplexe Seelenschäden - Julia Freiberg
Impressum
Teil 1_Sophie
Kapitel 1
Island_Reydarfjördur
Dienstag, 29. Dezember
Die Wolken schoben sich vor den Mond und verschleierten sein klares Gesicht. Die Nacht war kalt, die Wellen laut. Es würde einen Sturm geben. Einen von jenen Stürmen die aufräumen. Mit ihrer Wucht und ihrer Intensität. Die etwas bewegen.
Sophie stand auf. Es war vier Uhr früh. Sie konnte nicht schlafen und wusste warum. Es hatte sich etwas verändert in ihrem Leben. Und jetzt auch noch der Sturm. Vor ein paar Tagen noch war ihr alles so vertraut gewesen. Und jetzt fühlte sie sich in ihrem Körper fremd. In ihrer Wohnung, ihrem Leben. Alles war zweitrangig geworden und raste an ihr vorbei, wie Züge in belebten Bahnhöfen. Das was zählte, war, dass ihr Herz in ihren Ohren pochte, seit dem Moment, in dem er zur Tür des kleinen Cafés hineingestürmt war. Er er er. Sie kannte weder Schuhgröße noch sein Alter und ... konnte sich noch nicht einmal erinnern, ob seine Haare dunkelbraun oder schwarz waren. Sie sah viel mehr.
Reydarfjördur – das einzige Café im Ort. Hier arbeitete sie seit ihrem Schulabschluss vor sieben Jahren. Sie liebte ihre Heimat Island, vor allem Islands Norden und die Ostfjorde, in denen auch ihre Heimatstadt Reydarfjördur lag. Ja, sie war ein wenig gereist nach der Schule. Und kannte die, die es nach Italien zog. Oder Schweden. Die Leute von der Schule, die Weltreisen machten und die, die nicht wiederkamen, weil sie sich verliebten. Oder dann doch zurückkehrten, weil die Liebe nicht blieb. Sie hatte sich Kalifornien angesehen und war in Italien zur Olivenernte gewesen. Ihr hatte Rom gefallen und sie hatte Antonioni lieben gelernt, der mit seinen Filmen auf einen Teil ihrer Persönlichkeit antwortete, wie noch niemand es mit Kunst vermocht hatte. Ihr hatte gefallen, wie die italienischen Männer auf sie reagiert hatten und sie sah sich gern die Fotos an mit Giu – Giuseppe, den sie die Olivenernte lang in ihr Bett eingeladen hatte. Auf den Bildern, die die Olivenbauern von ihrer Gruppe gemacht hatten, saßen sie nebeneinander. Seine dunklen Locken und sanften Augen harmonierten mit ihren grünen Fjordaugen. Ihr blondes Haar floss auf ihre Schultern und da sie ihren Kopf an seinen gelehnt hatte, auch auf die seinen.
Wie ein Geschenk hatte sie diese Zeit empfunden. Aber immer gewusst, wo ihr Platz war. Island. Und so war sie zurückgekehrt und hatte im Café zu arbeiten begonnen, dass es schon gab, als sie ein kleines Mädchen gewesen war.
War der Sturm überhaupt draußen? Waren es die Wellen? Oder war es vielmehr in ihr, dieses Tosen?
Vier Tage nach Weihnachten war er hereinspaziert. Es war los, was eben um diese Zeit des Jahres los war. Eldur, der einsame Fischer trank den dritten Kaffee, weil er sich vorm Heimgehen fürchtete, das wusste Sophie. Die drei Damen, die um die 80 waren, an Tisch vier, kamen jeden Dienstag. Sie strickten und wiederholten ihre Geschichten über Enkel und Urenkel. Sie genossen das Beisammensein und die Kekse.
Sophie hörte gegen drei Uhr nachmittags die Tür klappen, während sie Eldur Kaffee nachschenkte. Voller Ungeduld schaute der Mann mit Hut im Raum herum, als suche er jemanden. Sie sah sich um, plötzlich sicher, jemanden übersehen zu haben. Aber da war niemand sonst. Sie sah zurück zu der breiten Gestalt. Und da war die plötzliche Sehnsucht in ihrem Körper, näher zu gehen und den Schnee von seinem Mantel zu schütteln. Als er sie ansah, schaute er noch ein wenig unruhiger, noch ein wenig grimmiger. Und sie verliebte sich sofort. Sie liebte die Aufrichtigkeit der Stürme ebenso wie die der Menschen. Nur dass die Menschen sehr viel seltener aufrichtig waren. Sie lachten und lächelten, auch wenn sie sich nicht so fühlten. Sophie bewunderte den Mut derer, die ihr Lächeln nur schenkten, wenn auch ihr Herz davon erfüllt war, nicht um zu gefallen. Sie brachte die Kaffeekanne zurück zur Theke und schaute kurz in den Spiegel, der über dem Kamin hing. Das Licht im Café war schummrig, zu dieser Zeit wurde es kaum hell in Island. Als sei der Tag zu müde, um richtig zu erwachen. Das Licht draußen war eine Auswahl tiefer Blauschattierungen. Die Masten der Boote ein dunkleres, als das Blau des Himmels. Die Wolken als Scherenschnitte davor. Es brannten Kerzen und etliche kleine Lampen im Café. Sie drehte sich schnell um, ehe sie es sich anders überlegen konnte, und schritt mit den schweren Schritten einer Wikingerin, wie sie es immer tat, wenn die Furcht vor etwas sie erfasste, zu ihm. Ihr „Was darf ich dir bringen?", entwischte ihr viel zu hastig. Aber er schien nicht irritiert zu sein.
Mit angenehm tiefer Stimme fragte er: „Könntest du mir eine Fischsuppe und Brot bringen? Ach, und gibt es ein Hotel im Ort?"
Er kam aus Reykjavik.
Sophie ging die Fischsuppe holen. Als sie ihm die angeschlagene rauchblaue Tasse mit der cremigen frischen Suppe brachte, zusammen mit dem Brot, was nach dem Holzofen roch, hatte er Mantel und das grimmige Gesicht abgelegt. Als er sie jetzt ansah und sich bedankte, wirkte er jünger. „Setzt du dich kurz zu mir?", fragte er und rückte mit einer Hand den Stuhl neben sich vom Tisch ab, sodass sie sich einfach darauf fallen lassen konnte. Fragend sah sie auf. Er lächelte – nicht nur sein Mund, auch seine Augen und Stirn. Er begann zu essen. Sophie fühlte sich beschenkt von diesem Lächeln.
„Wie lebt es sich so in Reykjavik?"
„Gut, sagte er, „aber die Stadt verändert sich.
Die vielen Touristen führten dazu, dass neue Hotels, ganze Ketten, entstanden. Aber die alten Orte der Magie, die kleinen Ecken, an denen das Wellblech blieb und nicht den Glasfassaden wich, an denen kein Fusion Food, sondern Fischspezialitäten angeboten wurden, die waren schon noch zu finden.
„Und hier? fragte sein Lächeln, „Wie lebt es sich hier?
Sophie überlegte. Ihre Stadt, die, wenn man an der Aluminiumfabrik vorbeifuhr, den Blick auf diesen unsagbar tiefen Fjord freigab. Wo man Walen zuschauen konnte. Und wandern, ohne Wege oder Menschen zu kreuzen.
„Darf ich es dir zeigen?" Hörte sie sich fragen.
Eine Stunde später packte Isak seinen Rucksack und folgte ihr aus der Wärme des Cafés. Sie hatte Elin bitten müssen, früher gehen zu dürfen. Feierabend hatte sie eigentlich immer erst, wenn das Café schloss. Aber Elin, der das Café gehörte und die so backte und kochte, dass das kleine Café es sogar in ausländische Reiseführer als Tipp schaffte, mochte Sophie. Sie dachte sich nichts dabei, als diese nun mit dem bärtigen Mann mit Hut das Café verließ. Sophie zeigte sicher nur einem weiteren Touristen den Weg zum Taergesen, dem urigen Hotel in der Stadt.
Draußen vor dem Café packte Sophie jedoch die Angst, dass ihr Vorschlag vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war. Sie hatte vorgehabt, bis zum Feierabend zu arbeiten und dann bei sich zu Hause auf ihre Couch zu sinken, mit einem Glas Rotwein und dem Australien-Reiseführer, den sie las. Um mit dem Schnurren ihres kauzigen Katers im Ohr an nichts zu denken, als an kurvige Küstenstraßen in Tasmanien. Sophie las nur Reiseführer. Sie mochte keine Romane. Sie fesselten sie nicht. Aber Reiseführer beflügelten ihre Fantasie. Jetzt hatte sie diesem Fremden das Angebot unterbreitet. Und sie standen so selbstverständlich miteinander schweigend im kalten pfeifenden Wind, inmitten der Halbdunkelheit des Nachmittags, dass sie sich ein wenig entspannte. Sophie zog ihre Zigaretten aus dem Rucksack und bot ihm eine an. Die Flamme des Feuerzeugs, die zweimal leuchtete, war wie der Auftakt eines Theaterstücks. Sie rauchten schweigend und es begann wieder zu schneien. Mit dem Rücken zum Café stehend sahen sie über die dreckige und niedrige Mauer auf das Meer. Schwarz wie Tinte schlug es flüsternde Wellen. An der anderen Seite des Fjordes blinkten ein paar Lichter.
Sophie warf ihre Zigarette weg. Sie genoss den Moment. Und legte den Kopf in den Nacken, um zu sehen, was der Himmel zu bieten hatte. Es blinkte, es leuchtete, es begann ... Die Nordlichter. Wie oft hatte sie sie schon sehen dürfen. Nie würde sie müde werden, diesen Tanz zu beobachten. „Schau", sagte Sophie und legte ihre Hand in Isaks. Ganz warm war sie. Und hielt ihre fest umschlossen. Sie schauten beide in den Himmel und sahen einen blauen Kreis, der zu pulsieren schien. Ihr Herz pulste, sie schaute zu Isak und hielt den Atem an. Er schaute zurück. Mit so viel Freude im Blick und so vielen Lachfalten, wie Sternen am Himmel über Island. Der Druck seiner Hand wurde angenehm fester und er zog sie ein Stück näher zu sich. In ihrem Körper breitete sich ein zartes Kribbeln aus, wie Millionen Schmetterlingsflügel, die ihre Haut von innen zu berühren schienen. Ihr Atem, ihr Herz, alles pochte im Gleichklang mit den Lichtern über und wurde gelenkt zu diesem Mann neben ihr. Der Himmel veränderte sich und es kam ein blutiges Orange zum Vorschein. Es wob sich in das sanfte Blau und strich über den Himmel, wie sein Daumen begonnen hatte, über ihren Handrücken zu streicheln. Sanft und doch fordernd. Isak sah in den Himmel und zu Sophie, entschieden zog er sie an sich und hielt sie im Arm. Beide sahen sie gleichzeitig wieder nach oben. Das Orange und Blau waren verschwunden und ein frisches Grün war nun zu sehen. Sanfte Wellen zog es in den Himmel.
„Wie ist es an Silvester in Reykjavik Isak? Sophie sah ihn an und es war eigentlich keine Frage. Er verstand es auch nicht als solche. Und er nickte. Niemand hätte es gesehen, sie aber spürte es bis in ihre Zehenspitzen. „Wir fahren morgen um eins. Ich zeige es dir.
Und sie spürte das Glück sich entrollen, wie ein Farnblatt.
Sophie und Isak sahen in den nun nachtschwarzen Himmel. Dann einander an. Sophie lächelte, nein, es war kein Lächeln. So grimmig Isak vorhin geschaut hatte, so verhängnisvoll war nun ihr Lächeln. Voller Versprechungen und Freude. Voll von Möglichkeiten. Und trotzdem so leicht. Dann drehte sie sich um, löste sich von ihm. Und ging. Leicht wie ihr Lachen und fest, wie die Wikingerin, die vorhin auf ihn zu geschritten war.
Sophie ging durch ihre Wohnungstür und ließ das schwere Holz zufallen. Dann setzte sie sich auf die Bank, die in ihrem Wohnzimmer, welches direkt hinter der Tür begann, an der Wand stand. Eine alte Lederbank. Dunkelgrau. Verlebt könnte man sagen. Ohne Rücken. Also lehnte sie ihren Rücken an die Wand und genoss das Gefühl, sich anlehnen zu können. Ihre Hand strich über das kühle Leder. Zarte Risse hatten sich im Leder gebildet und zogen ein Muster durch das Material. Ihr Finger folgte einer Linie, die sich mäandernd verzweigte und auf einmal aufhörte. Seufzend zog Sophie ihren Mantel aus und ließ ihn zu Boden gleiten. Sie