Radikal jung 2020: Das Festival für junge Regie
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Über dieses E-Book
Lucia Bihler
Daniel Cremer
Katrin Hammerl
Florentina Holzinger
Selen Kara
Ewelina Marciniak
Bonn Park
Max Pross
Anta Helena Recke
Sasha Marianna Salzmann
Rieke Süßkow
caner teker
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Das vom Volkstheater München ausgerichtete Festival Radikal jung sollte zum 16. Mal stattfinden. Der Gefahr Rechnung tragend, die vom Corona-Virus ausgeht, wurde das Festival kurzfristig abgesagt.
Im vorliegenden Buch werden die zwölf Inszenierungen präsentiert, die von der Jury, bestehend aus Jens Hillje, C. Bernd Sucher und Christine Wahl, ausgewählt wurden.
Die Textbeiträge renommierter Theaterkritiker sollen den Lesern einen Eindruck vermitteln von den Arbeiten des Regienachwuchses in der Spielzeit 2019/20.
Berlin, März 2020
Verlag Theater der Zeit
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Buchvorschau
Radikal jung 2020 - Verlag Theater der Zeit
Bihler
Hedda Gabler
von
Henrik Ibsen
Premiere
27. September 2019
Münchner Volkstheater
Bühne
Jana Wassong
Kostüme
Laura Kirst
Dramaturgie
Mats Süthoff
Musik
Jörg Gollasch
Falscher Mann, richtige Optik
Christine Wahl
Hedda Gabler, die durchaus zweifelhafte Heldin aus Henrik Ibsens gleichnamigem Drama, pflegt ein verwegenes Hobby. Wenn ihr langweilig wird, flüchtet sie sich zu ihrer Waffensammlung. Dass das öfter vorkommt, als ihr lieb ist, liegt auch an einem tragischen Fehlgriff bei der Gattenwahl. Als Kind des 19. Jahrhunderts hat sich die Generalstochter für eine gleichermaßen auf- wie anregungsfreie Versorgungsehe entschieden. Ihren Mann Jörgen Tesman – einen biederen Geisteswissenschaftler, dem es derart an Inspiration mangelt, dass jeder fachliche Konkurrent automatisch eine Gefahr für seine Karriere darstellt – verachtet sie zutiefst.
Kein Wunder, dass Frau Gabler – angeekelt vom Mittelmaß, aber ihrerseits auch nicht fähig zu Überdurchschnittlichem – auf den Theaterbühnen gern in die Gegenwart versetzt wird. Selbst, wenn das Motiv der Versorgungsehe im 21. Jahrhundert deutlich an Anschlussfähigkeit verloren hat: Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen der Welt als Wille und Vorstellung und dem banal-pragmatischen Alltag, in dem sie einem gemeinhin gegenübertritt, dürfte kaum einer Generation vertrauter sein als uns Selbstoptimiererinnen und Selbstoptimierern mit dem massiven Glücksimperativ im Nacken.
So hat Thomas Ostermeier „Hedda Gabler in den nuller Jahren an der Berliner Schaubühne als unzufrieden alterndes Berlin-Mitte-Girlie inszeniert; gefangen mit dem falschen Mann im sprichwörtlichen goldenen Käfig, der in diesem Fall ein stylisher Glaskasten im Bauhaus-Design war. Und in Dresden brachte der Regisseur Tilmann Köhler die Generalstochter in den 2010er Jahren als Egoshooterin auf die Bühne, die sich in Ballerspielen erging, weil ihr Mann die versprochenen Pilates-Stunden nicht bezahlen konnte: zwei Beispiele nur, die für den dramatischen Umgang mit „Hedda Gabler
seit der Jahrtausendwende aber exemplarisch sind.
Umso bemerkenswerter ist es, dass die Regisseurin Lucia Bihler in ihrer Inszenierung am Münchner Volkstheater nun einen völlig anderen Weg geht; und zwar den umgekehrten. Sie verpflanzt Henrik Ibsens Drama, das 1891 – übrigens ebenfalls in München, am damaligen Hof- und heutigen Residenztheater – uraufgeführt wurde, nicht in die Gegenwart, sondern in ein sehr weit zurückliegendes Rokoko.
Mit blonder Turmfrisur und ausladendem Reifrock unterm hellgrünen Rüschenkleid (Kostüme: Laura Kirst) steht die großartig gestikulierende Anne Stein als Hedda Gabler auf der Bühne, als sei sie geradewegs einem opulenten Ausstattungsfilm entstiegen. An ihrer Seite: der nicht minder grandiose, sie umtänzelnde Jakob Immervoll als Tesman, mit weißer Kniebundhose und rot geschminkten Apfelbäckchen im gepuderten Gesicht. Was Bihlers Abend vom Historienschinken à la Hollywood allerdings deutlich unterscheidet, ist die umfassende Ironie-Getränktheit des Settings. Die Bühnenbildnerin Jana Wassong hat eine riesige weiße Drehscheibe ins Volkstheater gebaut, die zu seichten Klängen vor sich hin rotiert wie eine Spieluhr. Über dieser Drehbühne hängen watteweiße Schäfchenwolken, für die man den Ausdruck Kitsch dringend erfinden müsste, wenn es ihn nicht schon gäbe. Und auf ihr rollt, manchmal fast mit dem Witz und dem Tempo einer Screwball-Comedy, ein Intrigenstadl ab, der an Choderlos de Laclos’ legendäre „Gefährliche Liebschaften" erinnert. Vordergründig tanzt man miteinander beziehungsweise scheinbar freundlich umeinander herum, ergeht sich in bodentiefen Verbeugungen und bietet großzügig vom Schaumgebäck an, das adrett auf einer barocken Etagere arrangiert ist. Und hinterrücks bekämpft man verbissen die Konkurrentin ums begehrte Liebesobjekt oder den akademischen Kollegen mit den originelleren Theorien und kujoniert mit festgefrorenem Lächeln im Gesicht den eigenen Ehepartner wegen seiner himmelschreienden Mediokrität. Das Volkstheater-Ensemble spielt das wirklich großartig: Selten dürfte Ibsen so pointiert und amüsant geklungen haben!
Dass Lucia Bihler mit Verfremdungen arbeitet, ist an sich natürlich nicht verwunderlich. Wer ihre Inszenierungen kennt – etwa die Bühnenadaption von Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt am Schauspielhaus Wien, mit der sie bereits letztes Jahr zum Festival Radikal jung eingeladen war –, dürfte kaum mit psychologischem Realismus gerechnet haben. „Mir sind verfremdete Figuren in künstlichen Welten prinzipiell näher als Figuren, die auf der Bühne ein real-psychologisches Abbild des Menschen versuchen
, bestätigt die Regisseurin. „Ich erschaffe Kunstwelten, die in der Bildsprache klare Referenzen aufmachen."
Warum nun aber speziell dieses Rokoko-Ambiente? „Die Mischung aus Materialismus, Zwang und Ennui sind für mich im Rokoko sinnlich sehr stark verortet, erklärt Bihler. „Die Welt, in der sich Hedda bei uns befindet, erzählt etwas über die Mechanismen und Zwänge, in denen sie – und die Figuren um sie herum – gefangen sind.
Tatsächlich ist Ibsens Hedda Gabler eine ziemlich widersprüchliche Figur. Mit Erörterungen darüber, was sie im Grunde ihrer unzufriedenen Seele wirklich an- und umtreibt, ließen sich wahrscheinlich ganze Regalkilometer in theaterwissenschaftlichen Fachbibliotheken füllen, und in psychologischen erst recht. Kaum mit Tesman verheiratet, ist Hedda – so weit noch recht gut nachvollziehbar – des Langweilers bereits überdrüssig. Der akademische Bürokrat strebt eine Professur an – die allerdings dadurch gefährdet wird, dass sein alter Studienfreund Eilert Lövborg plötzlich wieder in seinem beruflichen Dunstkreis auftaucht. Lövborg hat alles, was Tesman fehlt: durchschlagende Ideen, einen beweglichen Geist, ein gewisses Verwegenheitsimage – allerdings auch ein massives Alkoholproblem. Das konnte er nun zur allgemeinen Überraschung mit Hilfe der herzensgut-naiven und unendlich selbstlosen Thea Elvsted (Paulina Alpen), einer Ex-Geliebten von Tesman, vorläufig in den Griff kriegen und seine geistigen Ressourcen endlich dazu nutzen, ein bahnbrechendes kulturgeschichtliches Werk zu verfassen, das kurz vor der Veröffentlichung steht und gegen das Tesmans uninspiriertes Geschreibsel verdammt blass aussieht. Hedda, die ihrerseits – vor Tesman – auch mit Lövborg geliebäugelt, die Verbindung aber beendet hatte, fällt es nun offenbar wie Schuppen von den Augen, dass sie alles, aber auch wirklich alles in den Sand gesetzt hat: falscher Mann, falsches Leben – und dann auch noch von einer als drittklassig eingestuften Geschlechtsgenossin überholt! Von Thea Elvsted, die nun mit dem akademischen Alphamann an ihr vorbeimarschiert. Also entwickelt Hedda eine umfassende Zerstörungsenergie, beginnt aufs Hinterhältigste zu intrigieren, verführt Lövborg wieder zum Alkoholkonsum, in dessen Folge er das Manuskript seines Buchs verliert, und treibt ihn schließlich sogar – weil sie sich nach Größe und wahrer Schönheit sehnt in ihrem kleinen unspektakulären Leben – in den Tod, bevor sie sich final selbst die Kugel gibt.
Das Beste, was man über Hedda sagen könnte, ist also, dass sie ihr langweiliges, zeittypisch stereotypes Frauenleben ablehnt, das sich nur über den Ehemann und den von ihm abhängigen familiären Status definiert. In dieser Lesart wäre ein gewisser emanzipatorischer Furor am Werk – wobei freilich gleichzeitig die Gegenmaßnahmen, die sie ergreift, ihrerseits die Frauenbewegung alles andere als voranbringen. „Für mich ist Hedda Gabler eine sehr ambivalente Figur, bringt es Lucia Bihler auf den Punkt, „gefangen in Strukturen, die sie selbst mitproduziert.
Und komplexerweise belässt die Regisseurin die Generalstochter auch in diesem Widerspruch und versucht nicht, sie feministisch oder anderweitig zurechtzubiegen. „Mich interessiert es, Mechanismen freizulegen, die hinter den Handlungen der Figuren liegen; sehr eindeutige Lesarten reizen mich nicht, erklärt Bihler. „Vereindeutigung ist für mich nicht mit Haltung gleichzusetzen.
Und gerade dadurch, dass sie den Stoff eben nicht verengt, beginnt diese fremde Rokoko-Welt interessanterweise plötzlich auch eine Menge über unsere Gegenwart zu erzählen. Auf die Frage, ob sie Hedda Gabler für eine zeitgenössische Figur halte beziehungsweise in ihr zumindest noch gegenwartsrelevante Aspekte sehe, antwortet die Regisseurin denn auch: „Existenzielle Konflikte, bei denen es um Leben und Tod geht, bleiben aktuell. Was sich ändert, sind gesellschaftliche Strukturen und Umstände. Es macht Spaß, sich diese genau anzuschauen und die Parallelen zu heute zu finden. In Heddas Fall ist es die Frage nach den strukturellen Möglichkeiten von Frauen, die ja bis heute noch nicht abschließend geklärt ist, aber auch die Frage nach einer Zeit des ‚Um-sichselbst-Kreisens‘, des nach innen gerichteten Blicks, der Sattheit, des Überfressens, der Übersättigung, der Langeweile, des Rückzugs ins Private bei gleichzeitig permanenter Selbstdarstellung."
Dass das Rokoko für Bihler keine hermetische gestrige Welt, sondern lediglich ein formales Mittel zum inhaltlichen