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Das Fluchtspiel: Reacher-Reihe
Das Fluchtspiel: Reacher-Reihe
Das Fluchtspiel: Reacher-Reihe
Ebook289 pages3 hours

Das Fluchtspiel: Reacher-Reihe

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About this ebook

Rachels Vater nannte es das Fluchtspiel: Die Ausgänge zählen, die Routen berechnen und immer bereit sein, zu fliehen. Sie gehört zu den Reachern, die Regierung und die Unterwelt wollen sie fangen, wegen ihrer telekinetischen Kräfte.

Charlie und sein Bruder John haben den Ruf, das Unmögliche möglich machen zu können. Nachem sie ihre Eltern jedoch verloren hatten, ist Charlie ein gebrochener Mann und John kann ihn kaum mittragen. In ihrer Verzweiflung, nehmen sie den Auftrag eines skrupellosen Gangsterbosses an, nur um dann festzustellen, dass das Mädchen, das sie jagen, zu den Reachern, zu denen auch sie gehören, gehört.

Kann Rachel mit der Hilfe gefährlicher und zweifelhafter Verbündeter, das Blatt wenden und sich selbst retten?

LanguageDeutsch
PublisherNext Chapter
Release dateApr 12, 2020
ISBN9781071537589
Das Fluchtspiel: Reacher-Reihe

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    Das Fluchtspiel - L. E. Fitzpatrick

    Sei immer bereit zu laufen, denn sie können dich immer kriegen. Was auch passiert, sie werden dich kriegen ...

    1

    Fünf nach Elf.

    Rachel‘s Schicht hätte schon vor drei Stunden vorbei sein sollen. Sie schob ihre Stempelkarte in das Lesegerät. Nichts. Sie trat dagegen, dann nochmals, bis die Schranke sich öffnete, die Karte ausgegeben wurde und sie Feierabend machen konnte. Im Umkleideraum des Krankenhauses war es ungewöhnlich still. Eine Krankenschwester stempelte gerade aus, zwei Ärzte begannen ihre Schicht. Sie sprachen nicht miteinander, das war hier normal. Sie nahm ihren abgetragenen Mantel aus dem Spind und zog ihn über ihren Arztkittel. Nur er und ihr Mantel trennten sie von der eiskalten Oktobernacht. Sie lief durch den Wartesaal der Notaufnahme, die Augen auf den Ausgang gerichtet. Nur nicht verzweifeln. Eine zwölfstündige Schicht und drei Überstunden. Sie musste so tun, als wäre es ihr egal. Vorbei an den Müttern, die ihre kranken Kinder brachten, als könne man ihnen nur die Hand auflegen und alles wäre wieder gut. Vorbei an den Fabrikarbeitern, deren Blut auf den Gang tropfte. Die Tür aufgemacht und endlich raus. Nichts wie ab nach Hause. Das war jetzt nötig. In sechs Stunden würde alles von vorne beginnen.

    Der erste kalte Windhauch flößte ihrem schmerzerfüllten Körper wieder Leben ein. Der zweite Windhauch stieß sie fast wieder hinein. Sie schlang den Mantel enger um die Hüften, aber der eisige Wind kam dennoch durch den dünnen Stoff und die losen Nähte. Der November nahte schnellen Schrittes. Sie lief nun schneller, versuchte dem Winter davonzulaufen.

    Vorbei an der Ruine einer weiteren bankrotten Bank, einem Relikt aus Tagen, bevor die Wirtschaft zusammenbrach und das Land im Chaos versank. Nun beherbergte dieses Gebäude Obdachlose: Diejenigen, die entweder zu alt, zu jung, zu schwach oder nicht intelligent genug waren. Schon bald kämen die Polizisten und würden sie verjagen. Sie würden die Obdachlosen entweder jagen, bis der Morgen dämmerte, oder so lange, bis sie tot umfallen würden, was halt zuerst kam. Für den Augenblick jedoch, kauerten sie um brennende Kanister und nahmen still die Wärme in sich auf, so als könnten sie diese eine Flamme den ganzen Winter behalten. Sie bemerkten Rachel nicht. Selbst die bösesten Männer, die im Gang lauerten und darauf warteten, dass hilflose Menschen vorbeikamen, übersahen die junge Ärztin, als sie sich auf den Heimweg machte. Niemand hat sie je wahrgenommen. Zumindest nicht bewusst.

    Drei, zwei, eins.

    Neun Minuten nach Elf. Wie gerufen.

    Ihr war so, als beobachte sie jemand. Er war immer an der gleichen Stelle, am dritten Fenster des alten Bankgebäudes. Er versteckte sich nicht in der Bank, aber in der Nähe. Er war ihr so nahe, dass sie fast seinen Atem im Nacken spüren konnte. Sie war schon Zeugin von Überfällen gewesen. Das waren schlimme Zeiten und die Menschen nahmen sich was sie konnten, wenn sich die Gelegenheit bot. Es gab auch Vergewaltigungen. Diese Woche waren es fünf, zumindest mussten fünf medizinisch versorgt werden. Die Stadt war gefährlich und wurde immer gefährlicher. Dies aber war etwas anderes. Er, und aus irgendeinem Grund wusste sie, dass es ein Er war, tat nichts. Seit einer Woche kam er immer wieder hierher. Er verriet nie, wo er wirklich war oder was er vorhatte. Sie jedoch spürte, dass er da war und je länger er wartete, desto mehr litt sie. Er wusste, wo sie wohnte, wo sie arbeitete, kannte den Weg, den sie zur Umkleidekabine nahm. Und er folgte ihr jeden Abend nach Hause, ohne dass sie ihn je zu Gesicht bekam. Es machte einfach keinen Sinn. Und das machte es umso schlimmer.

    Sie war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, denn Ärzten im St. Mary‘s Krankenhaus durfte das nicht passieren. Es war egal, dass sie nur 1,50 m groß war und so aussah, als könne sie ein starker Wind umpusten, sie konnte dennoch gut selbst auf sich aufpassen. Aber dieser Stalker machte ihr Angst. Sie hatte schlaflose Nächte, in denen sie sich fragte, wer er wohl sei und was er wollte. Ob ihm das bewusst war?

    In der Stadt konnte sie nirgends hin, hatte kein Versteck und keine Fluchtmöglichkeit. Wollte sie leben, so musste sie arbeiten, er aber würde draußen vor dem Krankenhaus auf sie warten, sie beobachten, nichts tun. Sie hatte genug davon und einfach von allem hatte sie genug. Aber sie konnte etwas unternehmen. Sie konnte machen, dass es aufhörte. Irgendwie. Was auch immer er vorhatte oder ihr antun wollte, er müsste ihr dabei in die Augen sehen. Sie war es leid abzuhauen.

    Sie hielt an und machte kehrt.

    Die Straße war menschenleer. Sie konnte aber noch immer spüren, dass er da war. Die Gebäude warfen dunkle Schatten auf die Straße und das Flackern von summenden Laternen konnte die nächtliche Gefahr nicht vertreiben. Es war laut. Immer war es laut: Stimmen, Fahrzeuge, immerwährendes Surren, wenn der Strom durch die Stromleitungen floss. Es war so viel los, man bekam aber wenig mit. Das ideale Versteck.

    „Okay, du perverses Schwein, flüsterte sie vor sich hin. „Wo versteckst du dich?

    Die Straße führte weiter, bis zu einem Seil, das darüber gespannt war. Vorsichtig eilte sie zurück, zu der heruntergekommenen Bank. Sie schaute auf die Gebäude um sich herum, die oberen Fenster, die Eingangstüren im Erdgeschoss und wartete auf ihn. Er sollte nur kommen. Ein Schritt, zwei Schritte. Hier. Nichts. Sie lief zum nächsten Gebäude. Dann zum übernächsten. Ihr war so, als wäre er ganz nah. Warum konnte sie ihn nicht sehen?

    „Du willst mich? Schön. Hier bin ich, du Psycho. Fang mich doch!"

    Aus Richtung der Bank hörte sie einen Schrei. Jemand rannte davon. Ein Mann. Ihr wurde flau im Magen. Sie stützte sich ab. Er eilte an ihr vorbei. Er war es nicht.

    Sie schaute sich um und versuchte irgendwie zu verarbeiten, was sie gesehen hatte. Dann fühlte sie einen warmen Atem im Nacken.

    „Runter mit dir!"

    Die Welt war auf einmal ganz weiß.

    Rachel wartete, ihr Gesicht auf die dreckige, kalte Straße gepresst. Der Boden unter ihr bebte. Das war aber schon alles. Sie runzelte die Stirn, wartete und versuchte zu verstehen, was sie da tat, als sie da so lag, neben der Straße, in einer stinkenden Pfütze. Mit den Händen half sie sich wieder auf die Beine. Sie drehte sich um zur Bank, die war aber weg. Wo sie zuvor noch gestanden hatte, flackerten nun Flammen um einen Haufen Schutt. Menschen stapften aus dem zerstörten Gebäude, husteten und keuchten, andere starrten nur apathisch vor sich hin. Es war aber nichts zu hören oder zu spüren, außer einzelne Bewegungen und aufsteigende Hitze. Rachel schaute sich um. Sie fühlte mehr Neugier als Angst. Diese stille Panik faszinierte sie. Sie wollte gerade weg, da wurde es so laut, sie meinte, ihr Trommelfell platze. Die Erschütterung war so groß, sie wurde zurückgeschleudert. Geschrei, Hilferufe und heulende Sirenen waren von überall zu hören.

    Die Erde bebte noch einmal und das Gebäude stieß wieder eine Erosion aus Mörtel auf die Straße. Sie spürte, wie ihr Körper wegrutschte. Es eilten aber Leute herbei, um zu helfen. Es lebten immer noch ein paar Menschen. Sie war Ärztin und wurde jetzt gebraucht.

    „Ich kann diesen Menschen helfen", schrie sie, als sie versuchte, den Mann abzuschütteln, der sie festhielt.

    „Es ist eine Bombe." Die Stimme war so eisig, dass es ihr kalt den Rücken herunterlief. Sie schaute den Fremden an und schluckte die Kieselsteine hinunter, die ihr hinten im Rachen steckten. Sie wollte ihn von Angesicht zu Angesicht treffen, aber nicht so.

    Er starrte sie mit blassen Augen an. Die Toten und Sterbenden bedeuteten ihm nichts. Er war nur für sie da. Für sie allein. Er hatte noch immer ihre Schulter umschlungen und hielt sie zurück. Durch seine Hand war sie gerettet worden. So viele Fragen gingen ihr durch den Kopf, sie aber konnte sich nur eine stellen:

    „War die Bombe nur ein Köder?"

    Eine kleine Explosion, welche die Polizei auf den Plan rief, schoss es ihr durch den Kopf. Gefolgt von einer größeren Bombe, die alle in Stücke reißen würde. Sie drehte sich zu der Stelle um, wo die Bank hätte stehen müssen. Immer mehr Menschen eilten herbei, um zu helfen. Sie zogen an den Armen und Beinen der Verschütteten. Wenn sie Glück hätten, konnten sie ein paar von ihnen retten.

    „Warnen wir..." Der Mann war tot.

    Die Sirenen wurden lauter.

    Rachel atmete immer wieder tief ein. Eine zwölfstündige Schicht und drei Überstunden gemacht: - man musste gute Miene zum bösen Spiel machen.

    Sie fing an zu rennen.

    2

    Charlie schreckte in seinem Stuhl hoch, sein Gesicht schweißgebadet. Mit dem Ärmel wischte er sich über die Stirn. Es fuhr ihm ein Schmerz durch den Rücken und er erinnerte sich an seinen Albtraum. Der Traum von jenem Tag, als alles den Bach runter ging, kehrte wieder. Er suchte in seinen Taschen, bis er seine Tabletten fand. Das Placebo wirkte sofort und bald darauf wurde der Schmerz erträglicher. Er rieb sich die Augen und ging wieder zu der Kamera, die auf die Wohnung im gegenüberliegenden Wohnblock gerichtet war.

    Das Licht brannte und die Vorhänge waren offen. Jemand war nach Hause gekommen, das hatte er verpasst. Sein einziger Job und er hatte es vermasselt. Er trat gegen die Krücke, die am Stuhl lehnte und schaute zu, wie sie über den Flur rutschte, aus seinem Sichtfeld. Er streckte die Hände aus und wollte sie zurückholen. Nichts geschah.

    „Scheiße."

    Zu schnell erhob er sich aus seinem Stuhl und sein rechtes Bein knickte ein, worauf die Kamera, das teuerste, das sie besaßen, umfiel. Die Linse zerbrach.

    „Scheiße, Scheiße, Scheiße", schrie er vom Gang aus. Die Schockwellen aus Schmerz brachen sich Bahn. Wie üblich hatte er mit Wut und Scham zu kämpfen und eine innere Stimme sagte ihm, er möge es für heute gut sein lassen. Dann holte ihn ein immerwährender Druck seiner Blase wieder auf den Boden, wie üblich. Er war schon genug gedemütigt worden und was er jetzt gar nicht gebrauchen konnte war, dass man ihn fand, wie er in einer Lache aus seiner eigenen Pisse hockte.

    So hatte er sich sein Leben nicht vorgestellt. Charlie Smith war eine Legende gewesen. Er hatte was erreicht, war geboren mit unglaublichen Kräften und einer Arroganz, die ihm alles ermöglicht hatte. Er hatte sein früheres Ich vage in Erinnerung und legte seinen Kopf auf den Boden, wieder auf die Krücke konzentriert, nach der er seine Finger ausstreckte. Mit all seiner Kraft konnte er gerade noch sein Körpergewicht wahrnehmen und es spüren, aber seinen Körper zu bewegen, das war für sein Gehirn zutiefst problematisch. Das hätte einfach sein sollen, aber seine telekinetischen Kräfte versagten. Die Kamera wackelte, drehte sich seitlich und hielt dann an. Der Aufwand war anstrengend und beschämend.

    Langsam, da heutzutage alles langsam vonstattengehen musste, kroch er auf seine Krücke zu und wie er sie in der Hand hielt, schaffte er es auch ins Badezimmer. Es war ein kleiner Sieg, jedoch reichte der fast schon, ihn wieder aufzuheitern. Das war bevor er sich selbst im zerbrochenen Spiegel sah, der über dem Waschbecken befestigt war. Er war mal ganz charismatisch gewesen. Mit einem Lächeln bewältigte er Schwierigkeiten. Nun hatte er Glück, wenn die Leute nicht die Straßenseite wechselten, um ihm aus dem Weg zu gehen. Er hatte schütteres Haar, taube und rote Augen, blasse Haut. Mit 33 schaute er aus wie 50 und fühlte sich wie ein alter Mann. Der einst große Reacher, Charlie Smith, war zu dem hier geworden. Innerhalb eines Jahres hatten sich die Dinge so dramatisch geändert.  Ein Jahr, zwei Monate und acht Tage.

    Das Schloss an der Vordertür war abgeriegelt. Charlie breitete seine Kleider aus. Alles war normal, alles war gut. Er kam zurecht. Natürlich kam er zurecht. Er lächelte in den Spiegel und ging aus dem Bad, als sein Bruder die Tür aufstieß und dann wieder zustieß, um seinen Standpunkt klarzumachen.

    „Alles okay?" fragte Charlie.

    Sein jüngerer Bruder machte ein solch mürrisches Gesicht, es hätte in seinen Schädel eingemeißelt werden können. Es war natürlich nicht alles okay. Aber bei John konnte man nie sagen, wie angespannt die Lage schon war. Charlie hatte diesen Gesichtsausdruck bereits gesehen, als ein Job in die Hose ging und dann nochmals, als jemand Kaffee auf John‘s Anzug gekippt hatte.

    „Was ist los?"

    John schaute weg. Er war wütend auf sich selbst - das war nie ein gutes Zeichen. Charlie traute sich, mit seiner Krücke auf ihn zuzulaufen. Zwischen ihnen lag ein Altersunterschied von vier Jahren. Das war niemals offensichtlicher.

    Charlie machte eine Geste in Richtung des Esstisches. Meistens hatte John alles unter Kontrolle. Es kam selten vor, dass er Fehler beging oder sich verrechnete und wenn doch, dann machte er sich selbst deswegen tagelang fertig. Er würde Charlie brauchen, einen Profi, wenn es darum ging, Dinge zu vermasseln. Ihm konnte er dann die Schuld geben.

    „Sie hat mich gesehen", sagte John.

    „Sie hat dich gesehen?!, erwiderte Charlie ungläubig. „Du bist wie ein Nachttier. Wie konnte sie dich sehen? Mein Gott. Die meiste Zeit sehe ich dich noch nicht einmal und weiß trotzdem, du kommst.

    John ballte die Fäuste und entspannte sie wieder. Er stand auf, um sich zu lockern und machte kleine, schnelle Schritte. Seine Lederschuhe quietschten auf dem Linoleumboden.

    „Es gab eine Explosion. So ein Scheißkerl zündete direkt auf ihrem Weg eine Bombe. Ich musste sie wegziehen, ehe das ganze verdammte Gebäude über ihr zusammengebrochen wäre."

    Charlie fasste sich an die Nasenspitze. Selbst wenn sein Bruder Mist baute, so konnte er alles wieder ins Lot bringen. „Willst du behaupten, du hast sie gerettet?"

    John starrte ihn an. „Du begreifst nicht, worum es geht."

    Charlie verdrehte die Augen. Nur John konnte sich so dabei ins Zeug legen, das Leben ihrer Zielperson zu retten. „Meinst du, er bezahlt uns, wenn er herausfindet, dass wir sie sterben ließen?", fragte Charlie.

    „Das kannst du nicht wissen. Wir wissen nicht, was er mit ihr vorhat!"

    Das stimmte. Sie wussten es wirklich nicht und diese Tatsache machte sie nervös. Die berüchtigten Gebrüder Smith wussten immer schon Bescheid, bevor die Karten verteilt waren. Charlie plante seine Aufträge, als schreibe er ein Drehbuch. Keiner von ihnen ließ sich je eine Chance entgehen. So war es zumindest noch vor einem Jahr gewesen. Vor einem Jahr, zwei Monaten und acht Tagen. Seitdem hatten sie keine Aufträge mehr gehabt. Sie hatten Glück, den Fall Rachel Aaron zu erhalten und auch nur deshalb, weil Charlies alter Mentor für sie ein gutes Wort eingelegt hatte. Aber Glück und der Rückhalt eines alten Priesters ließen die Ungewissheit nicht weniger bedrückend werden. Sie hatten ihre besten Zeiten hinter sich und waren nur noch ein Schatten ihrer selbst.

    „Vielleicht möchte er sie tot sehen", meinte John.

    „Würde er das wollen, hätte er uns gebeten, sie zu töten, antwortete Charlie. „Und hätte er sie tot sehen wollen, hätte er sich nicht an einen Priester gewandt, um festzustellen, ob jemand sie findet. John, er möchte, dass man sie findet. Das ist alles.

    „Das gefällt mir nicht, sagte John. „Dieser ganze Auftrag fühlt sich schlecht an.

    „Ich weiß. Charlie atmete tief ein. Sein nächster Satz hätte ihn nicht nervös machen dürfen, aber das tat er. „Deshalb werde ich selbst etwas auf Streife gehen.

    John sah nie überrascht, unglücklich oder leicht ungeduldig aus, aber wenn ihm etwas zusagte, dann zuckte seine rechte Augenbraue immer etwas. Als sie zuckte, spürte Charlie so ein plötzliches Schuldgefühl, dass er es nicht eher gesagt hatte.

    „Ich dachte, auf dich wäre Verlass", stichelte John.

    „Er ist in einem Krankenhaus und unter Beobachtung, John. Wer passt dort besser hin, du oder ich?"

    John‘s Augenbraue zog sich jetzt noch höher. Er hatte Geduld mit John. Mehr Geduld als ihm nach Charlies Meinung zustand. Er wartete darauf, dass sein Bruder bei dem ganzen Spiel wieder mitmachte, anstatt einsam auszusteigen. John hatte nicht die Fassung verloren. Er hatte kein Problem mit Treppen. Er konnte trinken, was er wollte. Er schlief, wenn es nötig war. Seine Fähigkeiten passten. Charlie war für sich und ihn eine Belastung, wusste aber, dass John sich immer noch an eine Hoffnung klammerte: Die Hoffnung, dass eines Tages Charlie wieder der Alte würde und alles sich wieder normalisierte. Und Charlie war zu sehr auf ihn angewiesen, als dass er ihm hätte sagen können, dass dies nie passieren würde.

    „Da bist du ganz sicher?", fragte John.

    „Wir brauchen das Geld."

    „Was, wenn er sie umbringen will oder Schlimmeres?"

    Egal, was Charlie sagte, das war immer möglich. Sie arbeiteten hier nicht für die Guten und es war schwer gewesen, das Mädchen ausfindig zu machen, selbst mit Charlies Fähigkeiten. Es würde für sie nicht gut ausgehen und vielleicht hatte Charlie deshalb auch nicht allzu viele Fragen gestellt.

    „Wir brauchen das Geld, bläute Charlie ihm ein. „Das hat Vorrang. Das war nicht er. Natürlich hatte er fragwürdige Sachen gemacht, schlechte sogar, aber er hatte Moral und gerade schrie eine Stimme in seinem Kopf, dass all das falsch war.

    John nickte und Charlie war erleichtert zu sehen, dass John seine Gefühle teilte. „Gut. Aber wenn es getan werden muss, dann mach ich das."

    „Nein. Das musst du nicht auf dich nehmen. Ich mach es."

    John schaute ihn an. „Streiten wir jetzt ernsthaft darüber, wer sie umbringen darf?"

    „Sie umbringen muss, erwiderte Charlie. „Wenn du sagst, „umbringen darf, dann hört es sich fast an, als wäre es ein zusätzlicher Bonus. Und nein, wir streiten uns nicht, denn ich mach das." Er musste nichts mehr sagen, denn es war seine Schuld. All das war passiert. Es war Schicksal.

    John verschränkte die Arme „Okay. Aber ich schaffe die Leiche weg."

    Charlie schaute finster. „Meintest du echt, „darf?

    Sein Bruder grinste. Er hatte seinen ganz eigenen Humor.

    3

    Acht Jahre dauerte es, bis das britische Empire zerbrach.

    Wie Dominosteine kollabierten die großen Länder in Europa; eines nach dem anderen. Jedes Land fiel so hart, dass weltweit eine katastrophale Kettenreaktion ausgelöst wurde. Die Historiker sind sich uneins darüber, wo der ganze Ärger anfing. Manche meinen, er reiche bis zum Zweiten Weltkrieg zurück, als die Großmächte die Bruchstücke der Welt einsammelten und sie wieder zusammensetzten. Andere sind etwas zynischer. Sie meinen, dass es das Schicksal des Menschen sei, sich auszumerzen, seit die ersten Kolonien von primitiven Affen gegründet wurden.

    Wie auch immer das geschah, die Risse hatten sich schon lange unter der Oberfläche gebildet. Sie wurde schwächer und instabiler. Der interne Konflikt verursachte bei vielen Ländern einen Stillstand. Wo auch immer Krieg und Armut herrschten, hatte das, was geschehen würde, kaum Einfluss auf die Richterskala. In Ländern wie Amerika, Frankreich oder Großbritannien jedoch, Ländern wo der Frieden eingezogen war und die durch ihre sich bekriegenden Nachbarn reich wurden, waren die Unruhen Nebensache.

    Der erste Schlag kam mit der Finanzkrise. Jedes Land hatte Schwierigkeiten, seinen Staatshaushalt zu regeln. Deshalb nahmen sie höhere Kredite auf und liehen sich mehr Geld, bis der Wert der Währungen sank. Als das Finanzsystem schließlich kollabierte, sammelten die Regierungen die letzten Krümel ein, wobei sie der Gier der Politiker und der öffentlichen Hand nicht Einhalt gebieten konnten. Da revoltierten die Menschen, denn sie sahen, wie in den Großstädten die hohen Tiere das Geld verprassten, während ihre Familien in den Vororten hungerten. In Frankreich und Großbritannien hielten die Unruhen fünf Jahre an, wobei sie in einen kleinen, zerstörerischen Bürgerkrieg mündeten. Orte wie Red Forest und die Bezirke, die  weiter nördlich lagen, wurden unpassierbare Konfliktherde, denen nicht einmal die Armee Herr wurde.

    Die zivilen Unruhen kamen vorübergehend zum Erliegen, als in Yorkshire und Lancashire Krankheiten ausbrachen. Die Sorge um deformierte Babys, Viren und Verunreinigungen

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