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Darkness - Leuchtende Dunkelheit: Lachende Gefühle
Darkness - Leuchtende Dunkelheit: Lachende Gefühle
Darkness - Leuchtende Dunkelheit: Lachende Gefühle
Ebook768 pages10 hours

Darkness - Leuchtende Dunkelheit: Lachende Gefühle

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About this ebook

Dunkelheit und ein Labyrinth aus kalten Gefühlen. Das ist alles, was Summer seit dem Verlust ihrer Erinnerungen in ihren Träumen erwartet. Jede Nacht. Ausnahmslos.
Bis sie dem charismatischen Phoenix begegnet. Nicht nur, dass er ihre Welt auf den Kopf stellt, plötzlich fangen auch ihre Träume an sich zu verändern. Genau wie ihre Gabe. Denn, während Summer die Gefühle ihrer Mitmenschen lediglich spüren kann, kann sie seine Fühlen und sie erkennt, dass Gefühle selbst in der tiefsten Dunkelheit leuchten können.
LanguageDeutsch
Release dateMay 11, 2020
ISBN9783751939997
Darkness - Leuchtende Dunkelheit: Lachende Gefühle
Author

Jayna Dark

Jayna Dark lebt mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern, den Hunden Emma und Chester und dem Kater Ramses in einem gemütlichen kleinen Seelendorf in Nordrhein-Westfalen. Bücher üben seit jeher eine Faszination auf sie aus. Denn Wörter können einen nicht nur in eine magische Welt voller Wunder entführen, nein, sie können sogar die Dunkelheit zum Leuchten bringen.

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    Darkness - Leuchtende Dunkelheit - Jayna Dark

    Wenn du die Hoffnung

    Deine Hoffnung

    in den Herzen aller fühlen kannst, wenn du den leisen Stimmen,

    dem Flüstern der Herzen zuhörst, erkennst du, dass es andere gibt, so viele andere, die denselben

    Traum träumen,

    wie du, und du wirst deine Gefühle

    lachen hören, während die

    Dunkelheit

    anfangen wird zu leuchten.

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Summer

    Phoenix

    Summer

    Summer

    Summer

    Prolog

    Tief in mir spürte ich, dass es falsch war. Feige. Aber das interessierte mich nicht. Nicht mehr. Ich hielt das alles nicht länger aus, und so fällte mein Unterbewusstsein eine Entscheidung, zu der ich nicht mehr in der Lage war.

    Vergessen.

    Vergessen.

    Einfach nur…

    VERGESSEN.

    „Verzeih mir", flüsterte ich, während mir die Tränen unkontrolliert vom Gesicht liefen. Rote Tränen, die sich, bevor sie auf die Erde aufschlugen, in rote Eiskristalle verwandelten. Ich streckte die Hand aus, spürte das Wasser an meinen Fingerspitzen und schloss die Augen. Es wurde dunkel, stockdunkel.

    Die Dunkelheit, sie hatte keinen Anfang und kein Ende. Alles, was ich sah, war das Nichts. Dieses befreiende erdrückende, furchteinflößende Nichts. Suchend huschte mein Blick hin und her. Doch die in der Nachtschwärze existierende Leere verschluckte alles: Mich eingeschlossen. Erleichterung durchflutete mich, erfüllte mich. Denn das war alles, was ich wollte. Vergessen.

    Ich wollte konnte nichts sehen. Nichts hören. Noch nicht einmal etwas fühlen. All meine Sinne – weg.

    Ich fiel und fiel. Immer weiter. Immer tiefer. Verwandelte mich in einen Schatten, ein Echo meiner Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die zu Asche und Staub zerfiel, sich in Luft auflöste, genau wie die Zeit. Erinnerungen verblassten, legten sich wie ein Schleier um die Nacht. Bilder und Gedanken befreiten sich, suchten sich einen Weg hinauf zu den Sternen. Ich schloss die Augen und entleerte meine Seele, schickte mein ICH auf eine unbekannte Reise, einem ungewissen Ende entgegen.

    Der Schmerz schwächte ab, und irgendwann hörte es auf wehzutun. Die Traurigkeit verschwand und ich spürte nichts mehr. Nichts. Außer diese unendliche Leere, in einer nie enden wollenden Dunkelheit…

    Summer

    Keine Ahnung, wo ich mich befand. Ich wusste nur, dass dieser Ort das Grauen widerspiegelte. Mein persönliches Grauen. Kein Weg schien aus diesem Labyrinth herauszuführen. Für immer verloren. Eingesperrt. Vergessen. Ein beklemmendes Gefühl erwachte und mit jedem weiteren Herzschlag wuchs die Verzweiflung. Nahm mir die Luft zum Atmen. Hoffnung. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben! flüsterte eine leise Stimme, kaum hörbar.

    Hoffnung dachte ich zynisch… Wozu? Wie? Wie hält man an der Hoffnung fest, wenn man den Glauben verliert? Den Glauben daran, dass man einen Weg aus der Dunkelheit herausfindet? Oder ist der Glaube letztendlich nichts weiter als eine Entscheidung? Eine Entscheidung, wie so viele unzählige andere auch?

    Ich durfte mich der Hoffnung nicht freudig, nicht überstürzt, in die ausgestreckten Arme werfen. Meine Finger ballten sich zur Faust. Furcht erwachte, schlug ihre Krallen in mein Herz und die einsetzende Kälte lähmte mich, betäubte mich. Die Gedanken überschlugen sich, hielten mich gefangen.

    Wie lange irrte ich schon allein durch die falsche Nacht? Durch eine grausame, kalte Einsamkeit? Hier, wo auch immer ich mich befand, gab es niemanden. Niemanden – außer mich. Noch während ich darüber nachdachte, ob ich bereit war der Hoffnung zuzuhören, spürte ich, wie sie erwachte. Sich befreite. Meine Seele befreite.

    Völlig unerwartet wurde ich zu Boden gerissen. Die mich umgebene Finsternis drückte mich mit ihrer tonnenschweren Last, scheinbar völlig mühelos, unbarmherzig nieder. Mein Verstand weigerte sich aufzugeben. Fieberhaft suchte ich nach einer Fluchtmöglichkeit. Irgendeiner.

    Viel zu lang schon war ich dieser heimtückischen Leere hilflos ausgesetzt gewesen. Viel zu lang schon, war ich nicht in der Lage gewesen, mich zur Wehr zu setzen, zurückzuschlagen.

    Mein Kampfgeist erwachte, genau wie meine Entschlossenheit. Ich wollte zurück, zurück ins Leben… in mein Leben. Keine Ahnung, wie lange mich der Urwald der Isolation schon festhielt, einsperrte. Denn Zeit existierte hier nicht.

    Jetzt, wo die Hoffnung leise lachend zurückkehrte, begannen die Ketten, die mich an diesen trostlosen Ort fesselten, zu schmerzen. Und zwar bei jedem Atemzug. Alles, was ich mir wünschte, alles, wonach ich mich sehnte, war, endlich wieder Luft holen zu können, ohne dem damit verbundenen Schmerz hilflos ausgesetzt zu sein.

    Ich schlug um mich, wehrte mich, versuchte die unsichtbaren Fesseln des Grauens abzustreifen, endlich loszuwerden.

    Der Nachtschatten spürte meinen Widerstand und griff nach mir. Kämpfte um mich. Er wollte mich nicht gehenlassen. Immer stärker werdend zerrte er an mir. Meine Seele schrie. Wehrte sich. Verteidigte sich. Wie eine Ertrinkende suchte ich nach Etwas, wo ich mich dran festklammern konnte. Nach etwas Greifbarem. Doch ich fand nichts.

    NEIN! Nicht! Ich wollte nicht zurück zu der finsteren Einsamkeit. Ich wollte LEBEN.

    Mit Allem, was mich ausmachte, trat ich dem schwarzen Phantom der Isolation gegenüber. Stellte mich ihm entgegen. Kämpfte. Kämpfte. Kämpfte gegen ihn an.

    Die Taubheit brach durch meine Haut, gab mich frei und im gleichen Atemzug realisierte ich, was ich fühlte. MICH. Mit jedem Herzschlag entfernte ich mich ein klitzekleines Stückchen mehr von dem Gefühl des Eingesperrtseins.

    Ich verwandelte mich in Sternenstaub, für den Nachtschatten nicht mehr zu greifen.

    Endlich. Die Zeit, sie existierte wieder, gewann ihre Bedeutung zurück. Sekunden verwandelten sich in Minuten und rieselten wie winzige Sandkörner durch eine kaputte Sanduhr, ohne festen Boden. Ich schloss die Augen, blendete alles aus.

    Es wurde still.

    Ich wurde still.

    Ich hörte nichts mehr. Nichts, bis auf das leise Pochen meines Herzens. In Gedanken zählte ich meine Atemzüge.

    Schlagartig erwachten verlorengeglaubte Gefühle zu neuem Leben. Wuchsen. Steigerten sich ins Unermessliche.

    Es war Ewigkeiten her, dass ich Gefühle, egal welcher Art, zugelassen empfunden hatte. Jede Emotion – wie ein Wirbelsturm, in dessen Kern Funken tanzten, glitzerten. Leuchtend hell. Leuchtend schön.

    Lichter.

    So unendlich viele Lichter.

    Dann, mit einem Schlag änderte sich alles.

    Ein stechender Schmerz explodierte in meinem Kopf, zerstörte meine Konzentration. Der Druck stieg, verwandelte sich in einen Tsunami. Meine Gefühle und Gedanken wurden unter Wasser gedrückt. Von einem Moment auf den anderen wurde es plötzlich still. Unerträglich still. Gespenstisch still.

    Gefühle kollidierten, überschlugen sich. Gedanken zersplitterten.

    Irgendetwas stimmte hier nicht.

    Irgendetwas war hier vollkommen falsch.

    Ich konnte nur nicht sagen WAS.

    Die Vergangenheit, meine Vergangenheit, wurde von der Dunkelheit verschluckt.

    Ganz langsam erwachte ein mulmiges Gefühl, breitete sich aus, schlängelte sich durch jede Zelle meines Körpers. Ich versuchte die Augen zu öffnen, mich zu bewegen. Vergeblich. Es geschah nichts. Absolut nichts.

    Was zum Teufel passierte hier? Panik überkam mich. Ich wartete auf eine Reaktion, irgendeine Reaktion meines Körpers… aber nichts passierte. Ich versuchte einst vertraute Worte über meine Lippen zu bekommen, um Hilfe zu schreien, doch kein Laut befreite sich. Ich schrie, ohne gehört zu werden. Was passiert mit mir? Warum kann ich mich nicht bewegen? Warum?

    Fragen.

    Fragen.

    Fragen.

    So viele Fragen.

    Die Antwort war immer dieselbe.

    Gefangen.

    Ich war gefangen.

    Gefangen in meinem eigenen Körper.

    Erneut streckte der Nachtschatten seine Fühler nach mir aus.

    Griff nach mir.

    Packte mich.

    Dabei wollte ich nicht zurück.

    Heute nicht.

    Morgen nicht.

    Nie wieder!

    Die Panik nahm zu, als ich versuchte mich zu erinnern und feststellte, dass da NICHTS war, woran ich mich erinnern konnte. Meine Entschlossenheit geriet ins Wanken. Die Dunkelheit kehrte zurück, schloss mich in ihre vertrauten Arme.

    Plötzlich wurde alles wieder schwarz.

    Summer

    Müdigkeit. Einsamkeit. Meine Augenlider – schwer wie Blei. Noch immer war die Furcht mein einziger ständiger Begleiter. Dabei war ich es leid, ich wollte mich nicht länger fürchten.

    Die Hoffnung explodierte. Ein Funkenregen aus schillernden Regenbogensplittern verlieh mir Kraft, vertrieb die Angst. Meine Konzentration löste die Versteinerung, befreite meine Gedanken.

    Unbekannte Geräusche lenkten mich ab, durchbrachen das Eis der Stille.

    Leise Schritte.

    Gebrochene Worte.

    Ein Flüstern im Wind.

    Stimmen!

    Fremde Stimmen.

    Endlich, die Zeit der unerträglichen Stille war vorbei.

    Jedes Wort – wie Musik in meinen Ohren.

    „Auch, wenn es dir schwerfällt, du musst dich beruhigen. Okay? Hör zu… sie schafft das. Ich weiß es. Versprochen!"

    Eine Frauenstimme. Fremd. Und doch seltsam vertraut. Ein Gefühl, dass sich nicht greifen, nicht packen, ließ.

    Obwohl die Worte Trost spenden sollten, spürte ich die Verzweiflung, die sich dahinter verbarg. Und zwar auf eine Art, die ich nicht nachvollziehen konnte.

    „Was macht dich nur so sicher? Sie liegt hier jetzt seit Monaten. Verstehst du… seit Monaten! Und es passiert nichts. Absolut nichts", antwortete eine weitere unbekannte Frauenstimme.

    Wut, Enttäuschung und Trauer ergriffen von mir Besitz. Aber es waren nicht meine Gefühle, die erwachten, genau deshalb ignorierte ich sie, blendete sie aus. Erneut konzentrierte ich mich auf die Stimmen.

    „Sie ist eine Kämpferin. Lass ihr einfach noch etwas Zeit."

    „Zeit?! Was, wenn die Zeit des Kämpfens vorbei ist? Ich weiß, du willst es nicht hören Holly, aber… vielleicht will sie nicht aufwachen, vielleicht weigert sie sich dem Leben hier gegenüberzutreten."

    „Nein! Nein, das glaub ich nicht. Ich meine… Nein! So darfst du nicht denken."

    „Aber…"

    „Nichts aber! Ich will es nicht hören! Sie hat nicht aufgehört zu kämpfen. Das spüre ich einfach. Und ganz ehrlich, ich weigere mich irgendetwas anderes zu glauben. Nur, weil sie bisher keinen Weg zurückgefunden hat, bedeutet es nicht, dass sie für immer verloren ist. Hast du verstanden?! Summer würde NIEMALS aufgeben und wir dürfen es auch nicht. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Wir dürfen sie nicht aufgeben."

    „Meinst du das wüsste ich nicht?! Aber…verdammt… ich ertrag diese Hoffnung nicht länger. Sie so zu sehen… so verletzlich, ohne einen Hauch von Leben. Es bricht mir das Herz. Verstehst du?! Wenn ich sie dort liegen sehe, werde ich das Gefühl nicht los, dass ihre Seele zerbrochen ist, in unendlich viele Splitter und ganz egal, wieviel Zeit wir ihr auch geben, die Dunkelheit wird sie nicht freigeben."

    „Nicht. Sag das nicht…"

    „Hier, bei uns… würde ihre Seele leiden… und keine Zeit der Welt könnte sie heilen."

    „Wenn er erfährt, dass Summer…"

    „Sei still. Es gibt nur einen Grund, warum er nicht hier ist und wir wissen beide, was das bedeutet. Holly, wo auch immer sie jetzt ist… dort hat sie Frieden. In der Dunkelheit existieren keine Gefühle."

    „Was, wenn du dich irrst? Was, wenn sie dort, wo sie gefangen gehalten wird, schrecklichen Qualen ausgesetzt ist…?"

    Zerbrochene Seele? Schmerzen? Qualen? Wovon sprachen die beiden? Von wem sprachen sie? Etwa von mir? Sie sprachen in Rätseln. Dem weiteren Gesprächsverlauf konnte ich nicht länger folgen. Auf einmal erwachten so viele Fragen in meinem Kopf.

    Fragen, die mich beschäftigten, mich nicht mehr losließen.

    Fragen, die sämtliche Gedanken in meinem Kopf in ein Gefängnis sperrten. In ein viel zu enges Gefängnis.

    Anstatt Antworten zu bekommen, tauchten immer mehr Fragen auf.

    Keine einzige konnte ich beantworten.

    Je mehr Wörter durch die Luft wirbelten, wie lästige Fliegen, desto aufgewühlter wurde ich.

    Verwirrung.

    Ein komplettes Durcheinander.

    Verflucht, ich brauchte Antworten.

    Dringend.

    Wenn nicht, würde ich durchdrehen.

    Und… ich brauchte sie jetzt.

    Jetzt sofort.

    Summer

    Wer war ich? Was war mit mir passiert? Mit meiner Vergangenheit? Warum erschien mir alles so seltsam fremd? Was waren das für Gefühle und Gedanken, die mich quälten? Folterten? Warum konnte ich mich an nichts erinnern? Nicht einmal an MICH? Und… warum war die Furcht vorm Spiegel so erdrücken? So beängstigend?

    Diese Fragen stellte ich mir, seitdem ich vor ein paar Tagen die Augen aufgeschlagen hatte, ununterbrochen. Immer und immer wieder. Das Echo dieser Fragen wollte einfach nicht verstummen. Ich erkannte nichts und niemanden. Alles war fremd. Vollkommen fremd.

    Der Geruch von Vergessen erfüllte den Raum und schwebte durch die stickige Luft des Krankenzimmers, während draußen der Regen von der Fensterscheibe perlte. Ich lehnte die Stirn gegen das kühle Glas und zeichnete gedankenverloren die Wege der Regentropfen nach. Die zarten Spuren des Wassers waren wie winzige Fußabdrücke. Wie blauschimmernde Spuren auf dem Grund des Ozeans. Und ich erinnerte mich, dass auch ich einen Weg, eine Reise, hinter mir hatte. Nur, dass meine Spuren von den Wellen des tosenden Meeres in meinem Kopf fortgespült worden waren. Der Tsunami hatte meine Vergangenheit verschluckt.

    Erneut stolperte ich über unzählige Gefühle und Gedanken, ohne festen Boden unter den Füßen. Taumelte einer ungewissen Zukunft entgegen. Auf erschreckende Weise flackerte, für den Bruchteil einer Sekunde, ein Gefühl in mir auf, dass ich im ersten Moment nicht zu fassen bekam. Ein Gefühl, das mich sanft streichelte, wie eine Feder, so zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Ein Gefühl, dass tief in mich hineinkroch, sich versteckte und versuchte ein Geheimnis vor mir zu verbergen. Ein Geheimnis namens Erleichterung.

    Völlig in Gedanken versunken bekam ich nur am Rande mit, was die Ärzte, die sich wie jeden Morgen aufgrund ihrer täglichen Visite in meinem Zimmer versammelt hatten, meiner Tante Holly versuchten zu erklären.

    Mein Blick verlor sich in den Regentropfen…

    Ich wurde zu einem Regentropfen.

    Zu einem Regentropfen, der von all dem nichts hören wollte.

    Genau aus diesem Grund blendete ich alles aus. Ich versuchte Nichts an mich und meinen, im Moment völlig leeren Kopf, rankommen zu lassen. Ich fühlte mich viel zu verloren, als dass ich in der Lage gewesen wäre, dem Gerede die Beachtung zukommen zu lassen, die nötig gewesen wäre. Nötig, um zu verstehen, was da im Einzelnen gesprochen wurde. Ich bezweifelte einfach, dass ich auch nur ein Wort von diesem Fachlatein verstehen würde. Vereinzelt schnappte ich irgendwelche Wortfetzen auf. Wörter wie Hieroglyphen. Wörter, mit denen ich nichts anfangen konnte.

    Wobei, ehrlich gestanden, interessierte es mich ohnehin nicht. Es war egal, wie so vieles. Mich beschäftigten Gedanken, die ich mir nicht erklären konnte. Gedanken, die so laut in meinem Kopf schrien, dass ich mir am liebsten den ganzen Tag die Ohren zugehalten hätte.

    Dann passierte es. Vollkommen unerwartet.

    Gegen meinen Willen erregte etwas meine Aufmerksamkeit.

    Seufzend kehrte ich den Regentropfen den Rücken zu, drehte mich um und sofort begegnete ich dem Blick des Arztes.

    Dr. Whitefield stand auf seinem Kittel. Widerwillig schenkte ich ihm meine Aufmerksamkeit und versuchte, mich auf seine Worte zu konzentrieren, auf den Klang seiner Stimme. Er erklärte, dass mein prozedurales Gedächtnis, in dem Fähigkeiten wie Lesen, Laufen, Fahrradfahren und Ähnliches verankert sind, nicht beeinträchtigt wäre, genauso wenig wie mein Allgemeinwissen. In meinem Fall wäre lediglich das episodische Gedächtnis betroffen. Nachdenklich runzelte ich die Stirn. Ich verstand kein einziges Wort.

    „Das heißt? Was bedeutet das jetzt in meinem Fall", fragte ich, während sich meine Finger zur Faust ballten.

    Unzählige Augen starrten mich an.

    Augen, die versuchten meine Seele zu berühren.

    Augen, die versuchten in mir zu lesen, wie in einem verschlossenen, geheimen Tagebuch.

    Mitgefühl und Bedauern schlugen ihre Krallen in mein Herz.

    Der Augenblick hielt mich gefangen, ließ mich schwerelos in der Unendlichkeit zurück. Gebannt wartete ich auf eine Antwort.

    Dr. Whitefield legte den Kopf leicht schräg. „Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das, dass deine ganzen autobiographischen, sprich persönlichen Erlebnisse, weg sind."

    Was meinte er mit weg?

    Weg – wie für immer verloren?

    Klar, im Moment war meine Vergangenheit für mich nicht zu greifen, aber die Möglichkeit, dass meine Erinnerungen sich unwiderruflich in Luft aufgelöst haben könnten, hatte ich nicht eine Sekunde lang ernsthaft in Betracht gezogen. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass alles mit der Zeit zu mir zurückkehren würde. Erst jetzt realisierte ich wie naiv dieser Gedanke gewesen war.

    Ein Gefühl der Ohnmacht überkam mich, breitete sich aus und vergiftete jede Zelle meines Körpers. Erschrocken zuckte ich zusammen. Meine Gedanken zersprangen in tausend Splitter, als ich begriff, dass ich in ein paar Tagen, wenn ich entlassen werden würde, mit zu Tante Holly und Onkel Charlie nach Hause gehen müsste. Zu mir völlig Fremden.

    „Wie meinen Sie das weg?" Meine Stimme zitterte, genau wie der Rest meines Körpers.

    FUCK! schoss es mir durch den Kopf. Ganz langsam drang die Bedeutung dieses winzigen Wortes in mein Gehirn vor. Alles war FUTSCH. Weg. Einfach ALLES.

    Meine Vergangenheit war ausgelöscht.

    Ich war ausgelöscht.

    Als hätte es mich nie gegeben.

    Dr. Whitefield antwortete und riss mich aus meinen düsteren Gedanken.

    „Nicht direkt weg, vielmehr ist der Zugang zu deinen Erinnerungen blockiert."

    „Dann lösen Sie diese Blockade, murmelte ich mit tränenerstickter Stimme. „Bitte…, flehte ich und senkte den Kopf, weil ich die Blicke, die mich durchbohrten, nicht länger ertragen konnte.

    Summer

    Die Tür fiel ins Schloss. Keine Fremden mehr um mich herum. Kein wildes Durcheinander. Keine mitleidigen Blicke. Keine falschen Gefühle. Gefühle, die nicht mir gehörten.

    Nur Stille.

    Die Stille der Einsamkeit.

    Es war das erste Mal, seitdem ich die Augen aufgeschlagen hatte, dass ich tatsächlich allein war. Eingesperrt mit einer riesigen Uhr, deren Zeiger mich seit 345.600 Sekunden ununterbrochen daran erinnerten, dass ich im Körper einer Fremden gefangen war. MICH aussperrte.

    Suchend huschte mein Blick durchs Zimmer, wobei ich nicht einmal wusste, wonach ich überhaupt suchte. Die kahlen weißen Wände wirkten so verloren, wie ich mich in diesem Moment fühlte. Bei dem Versuch meine Gedanken zu ordnen, das soeben Gehörte zu verarbeiten oder besser gesagt verstehen zu können, scheiterte ich. Erneut schlängelte sich das beklemmende, klaustrophobische Gefühl durch meinen Körper. Legte sich um meine Lungen. Würgte mich. Ließ mich innerlich schreien, ohne dass ich gehört werden konnte.

    Das Plätschern des Regens durchbrach die Geräuschlosigkeit meiner Gedanken, die unerträgliche fröstelnde Ruhe.

    Ich schaute zum Fenster und konnte sehen, wie vereinzelte Regentropfen versuchten sich an der Glasscheibe festzukrallen. Doch, sie fanden keinen Halt, tropften ungehört, stumm, still und leise zu Boden. Begegneten auf dem harten Asphalt, den kalten Straßen dieser Welt, anderen Regentropfen, weiteren verlorenen Seelen. Wo sie sich zusammenschlossen, gegenseitig retteten, indem sie eine Pfütze, einen Zufluchtsort, eine Auffangstation bildeten. Winzig klein. Doch mit jedem weiteren, nicht geretteten Tropfen, wuchs und wuchs die Pfütze. Verwandelte sich schließlich in einen reißenden Fluss. Die Strömung verhinderte, dass sie zurückblicken konnten. Verhinderte, dass sie umkehren konnten. Der Fluss der Zeit, der Strom der Vergangenheit, konnte nicht aufgehalten werden. Nicht angehalten werden. Nicht zurückgeholt werden. Von Niemanden. Weder von den unzähligen Regentropfen. Noch von mir.

    Ich war ein Regentropfen.

    Ein verirrter, einsamer Regentropfen.

    Seufzend legte ich mich ins Bett und starrte teilnahmslos rauf zur Decke. Ich weigerte mich das Offensichtliche anzuerkennen, es zu glauben. Es musste einen Weg geben, um mich zurückzuholen. Wollte ich denn gerettet werden?

    Ich merkte, dass ich auf dem besten Weg war, den Kampf gegen die aufsteigende Verzweiflung zu verlieren. Tränen verschleierten mir bereits die Sicht. Allerdings weigerte ich mich, auch nur eine einzige davon zu vergießen. Tapfer biss ich die Zähne zusammen, hielt sie zurück. Ich sperrte sie weg. In ein Gefängnis. Genau wie meine Gefühle und Gedanken.

    SPIEGEL – schoss es mir blitzartig durch den Kopf.

    Bisher hatte ich zwar bewusst den Blick in den Spiegel vermieden, aber nur, weil ich eine Scheißangst vor den Augen hatte, die mir entgegenblicken würden.

    Augen – der Spiegel der Seele. Was würde der Spiegel mir zeigen? WEN würde der Spiegel mir zeigen? Nicht WEN, sondern WAS? Eine Vergangenheit, die es nicht mehr gab, die verloren war. Für immer verloren. Eine innere Leere. Eine nie enden wollende Einöde.

    Langsam setzte ich mich auf, blieb jedoch am Rand des Bettes sitzen. Meine Füße baumelten schwerelos über dem Boden, ohne ihn zu berühren. Furcht erwachte. Lähmte mich.

    Plötzlich wurde alles unscharf, die Welt um mich herum verschwamm. Farben verwischten. Schwärze tränkte meine Gedanken, breitete seine Flügel aus. Ein stummer Schrei ertönte in meinem Kopf. Meine Welt, mein Erinnerungsvermögen, war ein Knochenbruch. Irreparabel. Nicht heilbar. Ganz einfach, weil ICH in unendlich viele Bruchstücke zersplittert war. Puzzleteile, die der wütende Sturm in alle Himmelsrichtungen verteilt hatte.

    Einen Herzschlag später verschwand die innere Unruhe, die begründete unbegründete Furcht. Erleichtert atmete ich aus. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit über die Luft angehalten hatte.

    Langsam, wie in Zeitlupentempo, lief ich auf die gegenüberliegende Waschecke zu, die sich hinter dem beigen Vorhang verbarg. Meine Finger berührten den rauen Stoff, umklammerten ihn, ohne ihn zurückzuschieben. Ich zögerte. Schloss die Augen. Holte paarmal tief Luft. Ich schaffe das. Ich weiß, dass ich das schaffe. Wie ferngesteuert schob ich den Vorhang zurück. In dem Moment, wo meine Augen das Waschbecken entdeckten, stützte ich mich mit durchgestreckten Armen haltsuchend an der weißen Keramik ab, während mein Blick auf den Boden unter mir gerichtet war.

    Meine Brust zog sich zusammen und ein sonderbares Gefühl überkam mich. Neugier? Angst. Furcht. Panik. Es wurde Zeit. Ich wusste, dass ich es nicht länger hinauszögern konnte, selbst, wenn ich wollte. Ganz langsam hob ich den Blick. Immer höher und höher… bis ich sah, was ich nicht sehen wollte.

    Mein Spiegelbild.

    Augen, die nicht mir gehörten.

    Erschrocken hielt ich die Luft an. Nein! Unmöglich! Ich schaute in ein mir völlig unbekanntes Gesicht. Erleichterung durchströmte mich.

    Die Hoffnung zerplatzte wie eine schillernde Seifenblase. Zurück blieb ein beklemmendes Gefühl. Ich merkte nicht mal, dass ich weinte, bis ich die salzigen Tränen, die mir übers Gesicht kullerten, auf den Lippen schmeckte.

    In diesem Moment begriff ich, dass ich tatsächlich nicht mehr ICH war. Die schreckliche Wahrheit – ich konnte sie nicht länger leugnen. Die heuchlerische Wahrheit, vor der ich mich die ganze Zeit versucht hatte zu verstecken. Die ich tief in meinem Inneren gefühlt hatte. Jetzt war es zu spät, ich konnte die Augen nicht länger vor der grausamen, kalten Realität verschließen.

    „Wer bin ich?", flüsterte ich meinem Spiegelbild zu.

    Summer

    … drei Jahre später

    Was war das für ein nerviger schriller Piepton? Verdammt… eine Alarmanlage? Nur widerwillig öffnete ich die Augen und hätte sie in dem Moment, wo mein Blick auf den verfluchten Wecker fiel, am liebsten sofort wieder geschlossen. Es war gerade mal vier Uhr morgens. Quasi mitten in der Nacht. Nichtsdestotrotz saß ich kerzengerade im Bett und starrte ungläubig auf diesen verdammten Wecker.

    Wer von den beiden Rabauken hatte sich heimlich in mein Zimmer geschlichen? Laney? Dieser süße, quirlige Lockenkopf`? Oder Luc? Der knuffige, charmante Herzensbrecher?

    Mit dem Anflug eines verschmitzten Lächelns ließ ich mich stöhnend zurück ins Bett fallen und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen. Ich kniff die Augen zusammen. Versuchte zurück in den Schlaf zu finden. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Trotz der Müdigkeit funktionierte es nicht.

    Keine Ahnung woran es lag. Normalerweise hatte ich damit nämlich keine Probleme… schließlich war es für mich nichts Ungewöhnliches. Ich wurde ständig aus dem Schlaf gerissen. Meistens in den frühen Morgenstunden, wenn ich schweißgebadet aus dem Alptraum erwachte. Aus einem Traum, der mich jede Nacht quälte. Ausnahmslos.

    Ein Traum – ohne Bilder.

    Alles, was dort existierte, war eine unheimliche Dunkelheit.

    Eine Dunkelheit, die mich all meiner Fähigkeiten beraubte.

    Mich versuchte in ein Gefängnis zu sperren.

    In ein Gefängnis ohne Gitterstäbe.

    In ein Gefängnis des Grauens.

    In ein Gefängnis der Kälte.

    Und wo ich jedes Mal blind tastend durch ein Labyrinth herumirrte, dessen Wände aus Emotionen bestanden.

    Emotionen, die mich quälten. Folterten. Nicht mehr loslassen wollten.

    Die Kälte und das ewige Eis, die zusammen in der Dunkelheit existierten, lösten immer wieder aufs Neue ein Gefühl in mir aus, als wäre ich nicht mehr vollständig, als hätte mir jemand einen wichtigen Teil meines Ichs, meiner Seele, gestohlen.

    Die sonderbare Leere in mir oder vielmehr das dadurch hervorgerufene Gefühl war mit einem so grauenhaften Schmerz verbunden, dass ich schließlich jedes Mal schreiend aus dem Alptraum erwachte. Dieser Traum erinnerte mich an all das, was ich in Wahrheit war. Zerbrochen. Unvollständig. Einsam. VERGESSEN.

    Gähnend streckte ich meine müden Glieder. Wischte mir den Schlaf aus den Augen, ehe ich seufzend die Beine aus dem Bett schwang und wie ein Zombie Richtung Badezimmer schlürfte. In dem Moment, wo ich die Türklinke umschloss, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Heute war Sonntag. SONNTAG!

    Stöhnend öffnete ich die Tür. Tante Holly stand bereits vorm Spiegel und putzte sich summend die Zähne. Sie war nicht nur Frühaufsteherin, sie war auch immer direkt gutgelaunt. Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Das Tollste daran war, dass sie mit ihrer fröhlichen Art jeden ansteckte. Jeden. Selbst so einen Morgenmuffel wie mich.

    „Summer? nuschelte sie mit der Zahnbürste zwischen den Zähnen und spülte sich im nächsten Moment den Mund aus. Ihre kornblumenblauen Augen funkelten mich freudestrahlend an. „Bist du aus dem Bett gefallen?

    Bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, hörte ich Holly bereits sagen: „Vielleicht solltest du dein Zimmer tagsüber, wenn du nicht da bist, doch besser abschließen. Wer weiß, wann die Zwillinge dich das nächste Mal aus dem Bett schmeißen. Lächelnd streichelte sie mir über den Rücken. „Ich geh schon mal in die Küche und mach Kaffee.

    Die Aussicht auf einen Kaffee ließ mich für einen kurzen Augenblick die Müdigkeit vergessen. Koffein war jetzt genau das, was mein Körper brauchte.

    Nachdem ich mir die Haare gekämmt hatte, flocht ich sie zu einem einfachen Zopf. Anschließend putzte ich mir die Zähne, wobei ich den Blick in den Spiegel vermied. Aus dem einfachen Grund, weil ich mich selbst jetzt, nach all der Zeit, nicht mit dem mir entgegenblickenden Gesicht richtig identifizieren konnte. Es war, als würde mir noch immer jemand Fremdes gegenüberstehen. Ich wusste einfach nicht, wenn ich in diese Augen blickte, wer mir gegenüberstand. Noch immer war ich ein einsamer, verirrter, vom Himmel stürzender Regentropfen. Ohne Fallschirm. Schwebend. Gefangen in den Zeitwolken der Gegenwart. Wie jedes Mal, wenn ich den Kampf gegen den Spiegel drohte zu verlieren, atmete ich tief durch und verließ das Badezimmer.

    Als ich an dem Kinderzimmer der Zwillinge vorbeikam, blieb ich stehen. Die Tür stand offen. Auf Zehenspitzen schlich ich hinein und blickte auf die beiden kleinen Engel. Allein dieser Anblick, wie sie friedlich schlafend in ihren Betten lagen, berührte mein Herz auf eine Art, die sich nicht in Worte fassen ließ.

    Der Tag ihrer Geburt blieb unvergessen. Nicht zuletzt, weil die damit verbundenen Gefühle mir geholfen hatten, nicht irgendwo im Nirgendwo verloren zu gehen. Laney und Luc waren nie Fremde für mich gewesen. Nie. Es existierten keine ausradierten Erinnerungen in meinem Kopf, keine verlorene, geraubte Vergangenheit. Nein. Es gab nur eine gemeinsame. Jeden Augenblick, jeden Atemzug… hatte ich mit ihnen zusammen erlebt.

    Unzählige Momente hatte ich seither mit der Kamera eingefangen, festgehalten. Hatte Fotos geschossen, so unendlich viele Fotos. Unvergessliche Augenblicke für die Ewigkeit. Die Wände meines Zimmers waren mit diesen wundervollen Augenblicken tapeziert. Schnappschüsse, Nahaufnahmen meiner Familie, meiner Freunde. Auf denen Momente, die mir den Atem geraubt hatten, die mich hatten träumen, lachen, tanzen lassen, mich jeden Tag daran erinnerten, dass diese Augenblicke niemals mehr in Vergessenheit geraten konnten, weil ich jedem einzelnen Augenblick Unsterblichkeit verliehen hatte. Lächelnd zog ich mich zurück, schlich leise zur Treppe und machte mich auf den Weg nach unten in die Küche.

    Nach der zweiten Tasse Kaffee beschloss ich kurzerhand den Ort aufzusuchen, der mich in eine andere Welt entführte. Mein See. Ich trank den letzten Schluck, stellte die Tasse in die Spüle und machte mich auf den Weg nach oben, um mich für den morgendlichen Ausflug entsprechend anzuziehen.

    Keine zwei Minuten später verabschiedete ich mich von Holly und zog leise die Haustür hinter mir zu. Im gleichen Atemzug verzauberte mich die Melodie des Windes. Das war einer dieser Momente, wo ich mich frei fühlte. Glücklich. Ich atmete die Musik ein, füllte meine Lungen mit der Frische und Leichtigkeit des Lebens und versuchte den Wind, der mir übers Gesicht streichelte, mich an der Nase kitzelte, festzuhalten… seine Berührung zu erwidern.

    Die Morgenluft roch nach Lebendigkeit. Einer Lebendigkeit, die aus ihrem Schlaf erwachte. Ich wünschte, ich könnte diesen Augenblick für immer festhalten. Das Wort für immer existierte nicht. Das Zwitschern der Vögel begleitete mich durch die Dunkelheit des frühen Morgens.

    In gewisser Weise ängstigte mich der Schleier der Nacht, denn immer öfter erwachte tief in mir das Gefühl, beobachtet zu werden. Als würde irgendjemand irgendetwas, aus den Tiefen der Schattenwelt, nur darauf warten, mich in einen Abgrund stoßen zu können. Ich atmete tief durch, sperrte die in mir schlummernde Angst weg.

    Plötzlich wehte mir eine starke Böe ins Gesicht. Die Melodie des Windes verstummte, verwandelte sich in ein seltsames, unheimliches Geräusch.

    Ein leises Knurren. Beängstigend. Furchteinflößend. Ja, geradezu bedrohlich. Das Geräusch kam näher.

    Schlagartig schoss mein Puls in die Höhe. Adrenalin rauschte durch meinen Körper. Mein Herz raste. Stolperte. Versuchte zu fliehen. Ich erstarrte, wagte nicht mich zu bewegen, obwohl mein Instinkt schrie LAUF!

    Ich war allein, vollkommen allein, während mich eine kalte Einsamkeit in die Arme schloss. Ich hasste die Hilflosigkeit, die mich in diesem Moment würgte. Hasste die Situation, in der ich mich befand, der ich nicht gewachsen war, der ich mich nicht stellen sollte. Nicht stellen wollte. Ich fühlte mich wie eine Gefangene, ohne Aussicht auf Rettung, als würde irgendeine unsichtbare Macht mich mit aller Gewalt zurück in die Welt der Schatten ziehen wollen, weg von meiner Vergangenheit weg vom Licht.

    Ein nicht nachvollziehbarer Schmerz durchströmte meinen Körper, tränkte meine Seele mit Kälte. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich schluckte sie runter, jede einzelne, weigerte mich auch nur eine einzige davon zu vergießen.

    Ich machte einen unbedachten Schritt und stolperte prompt in jemanden hinein. Shit! Mein Herzschlag verstummte, setzte flüsternd aus. Ein leiser Schrei sprang von meinen Lippen, ohne dass ich in der Lage gewesen wäre, diesen aufzuhalten.

    „Hast du keine Augen im Kopf?! Verdammt, pass gefälligst auf, wo du hinläufst." Diese Stimme. Tief. Und doch sanft. So unsagbar sanft. Trotz des genervt-aggressiven Untertons, der nicht zu überhören war, beruhigte mich die Stimmfarbe. Emotionen erwachten. Verdrängte, längst vergessene, Gefühle wärmten mich. Verwundert runzelte ich die Stirn, ehe ich einen Herzschlag später meiner Sprache beraubt wurde, meiner Worte. Eine nie gekannte Lebendigkeit durchdrang meine Haut, erfüllte mich. Gedanken sammelten sich auf der Zungenspitze, schafften aber nicht sich zu befreien, denn ein weiteres Gefühl erwachte. Eins, das in dieser Situation völlig unangebracht war und dessen Intensität mich nur noch mehr verwirrte. Das absurde Gefühl von Geborgenheit. Sicherheit.

    „Alles in Ordnung?"

    Plötzlich fühlte ich eine Besorgnis, die mich schlagartig aus der Trance riss. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich noch keinen Ton von mir gegeben hatte. Ich legte den Kopf leicht schräg und überlegte, ob ich jemals die Gefühle eines Fremden hatte fühlen können? Noch dazu in dieser Intensität.

    Mein Herzschlag setzte aus, stockte, als ich begriff, dass dieser Fremde meine Seele berührte. Ich versuchte dagegen anzukämpfen, versuchte mich zu wehren… aber es passierte nichts.

    Langsam wanderte mein Blick vom Boden hoch, hin zu der anziehenden Stimme. Zu den flüsternden Gefühlen.

    „Ohhh… S-sorry…", stammelte ich verwirrt und suchte nach irgendwelchen Wörtern. Doch mein Kopf war leer.

    Alles, was ich sah, was ich sehen konnte, sehen wollte, waren Augen. Leuchtend grüne Augen. Der Fremde hatte die Kapuze seines Hoodys so tief ins Gesicht gezogen, dass die Schatten das Einzige waren, was ich zu sehen bekam. Ein lebendiger Schatten, mit fesselndem grünem Blick. Je länger ich diesen Augen schutzlos ausgeliefert war, desto lebendiger fühlte ich mich.

    Unwillkürlich wich der Fremde zurück, als wüsste er, welche seelischen Empfindungen er in mir hervorrief. In dem Moment, wo mich sein Blick freigab, kehrte schlagartig die innere Trivialität zurück.

    Bei dem Versuch mir auszuweichen, berührte er für einen winzigen Augenblick meine Hand und im gleichen Atemzug kehrte die nach Regenbogen und Sonnenstrahlen duftende Geborgenheit zurück, und zwar so heftig, so intensiv, dass es mir erneut die Sprache verschlug. Die Worte, die ich sagen wollte, blieben ungehört. Obwohl die Sprachlosigkeit nur wenige Atemzüge währte, war der Fremde, als ich aus meiner Trance erwachte, verschwunden.

    Ich stand allein auf der Straße.

    Allein.

    Allein.

    Vollkommen allein.

    Und…

    vollkommen durcheinander.

    Die Sonne breitete ihre Schwingen aus, tanzte zur Melodie der Wärme am Horizont, während sie gleichzeitig den Himmel berührte, ihn rotlächelnd zum Tanz aufforderte. Das Leben erwachte. Genau wie verlorengeglaubte Gefühle.

    Dieses Rot war so leuchtend, so warm, dass ich die Augen schloss, um den Zauber des Augenblicks genießen zu können. Fühlen zu können. Einatmen zu können.

    Der Duft von Mohnblumen erfüllte die Luft… oder war es der Himmel selbst?

    Phoenix

    FUCK!", murmelte ich knurrend. Was zum Teufel…? Ich kniff die Augen zusammen. Legte den Kopf in den Nacken. Ohne dass ich es hatte verhindern können, war ich mit ihrer Seele in Berührung gekommen. Natürlich hatte ich gewusst, dass es gefährlich werden könnte. Ein stummes Risiko. Eine unsichtbare, im Verborgenen lauernde, schlafende Macht. Aber ich hatte verflucht nochmal gedacht, nein, ich war der festen Überzeugung gewesen, dass es sich hierbei um ein kalkulierbares Risiko handeln würde. Eins, dass mir nicht gefährlich werden könnte. Eins, dass mich kalt lassen würde. Eins, dass keine Gefahr darstellte. Wie sich gerade herausgestellt hatte, war es ein Irrtum gewesen! Ein gewaltiger Irrtum. Ein Eissturm braute sich in mir zusammen, verwandelte sich in eine Lawine.

    Mein Blut wurde kalt. So entsetzlich kalt. Brach durch meine Haut.

    Noch immer war ich wie betäubt.

    Machtlos.

    Zerrissen.

    Die Gefahr war noch immer zum Greifen nah, verpestete die Luft. Das Echo ihrer Gefühle wollte nicht verstummen. Ich hörte ihre Angst. Ihre Verwirrung. Die sanfte Stimme der Geborgenheit.

    Geborgenheit.

    Geborgenheit.

    Und genau dieses Gefühl, war dafür verantwortlich gewesen, dass sich meine eigenen Gefühle versucht hatten aus den Tiefen meiner Seele zu befreien. Dabei hatte ich mir geschworen, nie wieder etwas zu empfinden. Nie wieder zu fühlen. Nie wieder.

    Meine Augen wurden dunkel, schwarz. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Wieso hatte ich sie nicht aussperren können? Mein Verstand explodierte. Die Sehnsucht erwachte. Legte mich in Ketten. Versuchte mich zu bezwingen.

    Ich hatte mir so viel vorgenommen, hatte mir selbst Versprechungen gegeben. Nachdem was gerade eben passiert war, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich diese würde halten können. Mein Wille mochte ungebrochen sein, doch meine Gefühle drohten sich in einen Verräter zu verwandeln. Es war unerträglich. Weitere Gefühle zerkratzten meine Haut, verpuppten sich wie ein Schmetterling aus Eis, schlüpften… verwandelten sich in frostige Hoffnung.

    Tiefe Verbundenheit.

    Das Gefühl Zuhause zu sein.

    Verärgert schüttelte ich den Kopf. Diese Nähe würde mich zerstören, wäre mein Untergang. Früher oder später. Bereits jetzt wurde jeder Atemzug zur Qual. Meine Lungen sperrten den Sauerstoff aus, während sich jeder Gedanke, jedes Gefühl, in einen Tsunami verwandelten.

    Ich floh. Jeder Schritt führte mich weiter von ihr weg. Zurück in die Verdammnis. Zurück in die Einsamkeit. Mehr wollte ich nicht.

    Ich versuchte in meine Welt zurückzukehren. In eine Welt ohne Gefühle. Ohne Hoffnung. Kalt. Dunkel.

    Ich lauschte der einsetzenden Stille, und hörte doch nur die Melodie des Windes.

    Unsere Melodie.

    Ich schloss die Augen und sah doch nur ihr Gesicht.

    Für einen winzigen Moment blieb ich stehen, atmete den Duft unzähliger Mohnblumen ein und ließ den Schmerz zu, der durch meine Seele jagte.

    Es gab kein Entkommen.

    Nicht für mich.

    Dieser Schmerz war alles, was mir geblieben war.

    Dieser Schmerz war seit Ewigkeiten dafür verantwortlich, dass mein Herz immer wieder aufs Neue in unendlich viele, winzige Teile zersprang und meine dunkle Seele zerfetzte.

    Summer

    Mit der Angst mit der Lebendigkeit, mit der Geborgenheit in den Knochen, in meinem Herzen, konnte und wollte ich meinen See, meinen Ort der Stille, nicht aufsuchen.

    In dem Moment, wo ich um die Ecke bog und mein Blick auf unser Haus fiel, atmete ich erleichtert auf. Das Gefühl zu Hause zu sein, war zum Greifen nah. Ein Gefühl, dass mich beruhigen sollte, beruhigen musste. Denn irgendwie kam ich mir hier, auf der noch immer menschenleeren Straße, nach wie vor beobachtet vor.

    Als ich die Stufen zur Veranda hochstieg, ertönte das vertraute Geräusch der knackenden Holzbretter. Onkel Charlie wollte diese Stufen schon unzählige Male reparieren oder besser gesagt austauschen, doch irgendwie war bisher immer etwas dazwischengekommen. Jetzt, in diesem Augenblick, war ich dafür dankbar, denn dieses vertraute Geräusch ließ mich erkennen, dass ich zu Hause war.

    Zuhause. Dieser Gedanke schmerzte. Hinter dieser Tür lebte meine Tante, zusammen mit ihrer Familie. Und, auch wenn ich mittlerweile Teil dieser Familie war, riss der Gedanke, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, an der ich einen anderen Ort als mein Zuhause bezeichnet hatte, ein Loch in mein Herz. Eine Zeit, die ich vergessen hatte.

    Lächelnd drängte ich die dunklen Empfindungen zurück, blickte die Straße hinab und ließ meinen Gedanken freien Lauf.

    Auf den ersten Blick sah hier, in Blackwood, ein Haus aus, wie das andere. Weiße Fassade. Holzveranda. Hollywoodschaukel. Erst beim genaueren Betrachten bemerkte man die Unterschiede, die Besonderheiten.

    Die Türen und Fenster.

    Jede Tür war ein Unikat, genau wie die Menschen, die dahinter lebten. Die Fensterscheiben waren aus undurchschaubarem Glas. Glas, dass die Geschichten und Geheimnisse seiner Bewohner bewahrte, solange versteckte, bis man die Fenster öffnete, bis man bereit war, seine Gefühle mit der Welt zu teilen. Und doch gab es Fenster, die für immer verschlossen bleiben sollten, die man niemals öffnen durfte. Denn immer mehr Menschen verwandelten sich in jene Monster, die einem nach der Seele trachteten und dessen Türen sich als das Tor zur Hölle entpuppten. Weltanschauungen, Vorurteile, Religion, Glauben, Rassismus… all das zerstörte uns, genau wie das Streben nach Macht. Und die einzige Rettung wandte uns den Rücken zu, sprang von den Klippen in eine ungewisse Zukunft. Rückte in unerreichbare Ferne. Empathie. Die Fähigkeit zu fühlen, zu lieben, zu verstehen. Die Rettung der Menschlichkeit, der Nächstenliebe, schien ebenso verloren zu gehen, wie die damit verbundene Hoffnung. Und diejenigen, die versuchten die eigene Empathie zu bewahren, zu beschützen, zu retten...schwiegen. Aus Furcht. Aus falschverstandener Toleranz. Sie verkauften ihre Seelen an eine Stille, in einer laut um Hilfe schreienden Welt.

    Vor der Tür suchte ich nach dem Schlüssel, konnte ihn aber nicht finden, also klingelte ich.

    „Summer?" hörte ich Holly durch das offene Küchenfenster rufen. Wer sonst? dachte ich und schüttelte, mit einem Lächeln im Gesicht, den Kopf. Ein Einbrecher würde wohl kaum, nachdem er geklingelt hat, antworten…

    „Ich glaub, ich habe den Schlüssel vergessen…"

    „Du glaubst?"

    „Ich weiß es, okay? Machst du jetzt die Tür auf?", lachte ich.

    Geräuschlos öffnete sich die Tür. Bevor ich etwas sagen konnte, war Holly schon wieder verschwunden. Im Haus herrschte Stille, kein Geräusch war zu hören. Die Zwillinge schliefen also noch, genau wie Onkel Charlie.

    Der Duft von Hollys Apfelkuchen erfüllte den Raum. Ein vertrauter Geruch. Ein vergessener Geruch. Das Essen meiner Tante war jedes Mal Genuss pur, ein Gaumenschmaus. Der einzige Nachteil bei ihren Kochexperimenten war, dass sie, bis auf wenige Ausnahmen, jedes Mal vergaß ihre Rezepte schriftlich festzuhalten. Nicht, dass ihr Essen deshalb weniger schmeckte, nur schmeckte es immer anders. Köstlich, keine Frage. Nur eben anders. Dieser Gedanke brachte mich zum Schmunzeln. So war Holly eben. Eine chaotische, liebenswerte Köchin.

    Die anthrazitgraue, mit Milchglas versehene Küche war ihr ganzer Stolz. Jede freie Minute verbrachte sie hier, egal ob allein oder mit der gesamten Familie. Es war sozusagen ihr persönlicher Rückzugsort. Das Highlight dieser Küche war die Naturholzarbeitsplatte aus Wildeiche, die dem ansonsten kühlen Ton der Küchenfront eine angenehm warme Atmosphäre verlieh.

    Schweigend setzte ich mich an den Tisch und beobachtete sie. Ich liebte es, ihr beim Backen zuzusehen. Holly war so in ihrer Welt versunken gewesen, völlig abgetaucht, dass sie mich erst jetzt, Minuten später, bemerkte.

    „Du bist also wieder zurück. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Allerdings klang sie sichtlich erstaunt. Die Besorgnis, die sie versuchte vor mir zu verbergen, konnte ich trotz alledem spüren. Um mich vor weiteren Fragen zu schützen, erzählte ich ihr erst gar nichts von diesem merkwürdigen Zwischenfall, sondern antwortete stattdessen: „Zwei Tassen Kaffee waren scheinbar nicht genug Koffein, um die Lebensgeister zu erwecken.

    Ich lächelte, zumindest versuchte ich es. „Dein berühmtberüchtigter Apfelkuchen… hmmm… ich liebe diesen Geruch."

    „Also hat dich der Duft zurückgelockt?"

    „Vielleicht", erwiderte ich grinsend und fing an ihr beim Aufräumen zu helfen. Holly hatte nämlich die schlechte Angewohnheit die Küche jedes Mal in ein Schlachtfeld zu verwandeln, wobei sie trotz des Chaos nie den Überblick verlor.

    Erst als alles weggeräumt war und Holly die Backform in den vorgeheizten Backofen geschoben hatte, setzen wir uns mit einer Tasse Kaffee zusammen an den Küchentisch.

    „Sag mal, was hältst du von der Idee, wenn ich mir ab nächsten Monat, sobald die Zwillinge in den Kindergarten gehen, einen Teilzeitjob suche?"

    „Hört sich gut an, murmelte ich, während ich die Teigreste mit dem Löffel aus der Rührschüssel kratzte. „Und… ich wüsste nicht, was dagegensprechen sollte. Also? Weißt du schon, was du machen möchtest?, fragte ich und sah sie abwartend an.

    „Elaina hat mich gestern angerufen und gefragt, ob ich mir vorstellen könnte ihre Arbeitskollegin zu werden. In dem Kinderheim, in dem sie arbeitet, würde nämlich ab nächsten Monat eine Stelle freiwerden."

    „Bittest du mich etwa gerade um Erlaubnis? Ich lehnte mich vor und stützte die Ellbogen auf den Küchentisch, während ich sie fragend ansah. Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr ich fort. „Hör zu, ich weiß, wie sehr du Kinder liebst und wie sehr dich ihr Lächeln verzaubert… und ich sehe das Leuchten in deinen Augen. Warum fragst du, wenn du dich im Endeffekt längst entschieden hast? Ich mein, du sagst immer, dass man nach den Sternen, nach dem Glück greifen soll… Also, warum zögerst du?

    Holly stand auf, lief zum Backofen und lehnte sich schließlich mit dem Rücken gegen die Spüle. Ihr Blick verlor sich nachdenklich in der Ferne. Im gleichen Atemzug spürte ich ihre Sorge. Ihr Mitgefühl.

    „Summer?" Die Traurigkeit in ihrer Stimme ließ mich augenblicklich hellhörig werden.

    „Ja?" Ich schloss die Augen, konnte den verlorenen Ausdruck in ihrem Blick nicht länger ertragen.

    „Ich weiß, dass die letzten Jahre schwer für dich waren, verdammt schwer sogar. Zumal du noch immer auf der Suche nach Antworten bist. Ich möchte einfach nicht, dass du dich vernachlässigt fühlst oder glaubst ich… Sie seufzte leise. „Was ich sagen will, ist… wenn du mich brauchst, bin ich für dich da. Immer. Egal was passiert. Es gibt nichts Wichtigeres als die Familie. Man sorgt füreinander. Beschützt diejenigen, die man liebt. Verstehst du? Ich liebe dich, wie mein eigenes Kind. Du bist Teil dieser Familie. Und…

    „Ich versteh, was du mir sagen willst, unterbrach ich meine Tante. „Und unabhängig davon, dass es mir gutgeht, möchte ich einfach nicht, dass du meinetwegen auf etwas verzichtest, was dich glücklich macht. Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. Die Erinnerung an das Leuchten in ihrem Blick, als ihre Gedanken sie zu den vergessenen Kindern geführt hatten, trieb mir Tränen in die Augen. Obwohl sie das Gefühl liebte, sich um andere kümmern zu dürfen, würde sie, ohne zu zögern, darauf verzichten, sollte ich sie darum bitten. Aber den Teufel würde ich tun. Ich wollte, dass Holly zur Abwechslung an sich selbst dachte, anstatt immer nur auf andere Rücksicht zu nehmen. Alles, was ich mir wünschte, war… sie glücklich zu sehen. Allein mit ihrer Lebensfreude würde sie den Kindern den Himmel ein Stückchen näherbringen. Zusammen würden sie durch die Wolken fliegen und den Regenbogen berühren. Die Kinder brauchten ihre Hilfe dringender als ich.

    Das, was mir fehlte, waren meine Erinnerungen, und die konnte Holly mir ohnehin nicht zurückbringen. Niemand konnte das. Abgesehen von mir.

    „Du bist dir wirklich sicher?"

    „Holly, ermahnte ich sie liebevoll, aber bestimmend. „Halte an dem Traum fest, der dich glücklich macht.

    Ich stand vom Stuhl auf, schlang die Arme um ihre Taille und sagte leise: „Ach, Holly… ich bin so froh, Teil eurer Familie sein zu dürfen. Ich liebe dich, Charlie und die kleinen Quälgeister und ich kann euch gar nicht oft genug danken, für das, was ihr für mich getan habt. Ihr habt mich nicht nur ohne zu zögern bei euch aufgenommen, ihr habt mir in der dunkelsten Zeit meines Lebens ein Gefühl geschenkt, dass wertvoller ist als alle Reichtümer dieser Welt. Das Gefühl Zuhause zu sein. Eine Familie zu haben, die einen bedingungslos liebt."

    Summer

    Schneebedeckte Berge, soweit das Auge reichte. Jeder Baum, jeder Strauch, jede Blume… jeder noch so winzige Grashalm war von einer feinen und doch dicken Puderzuckerschicht überzogen. Die Sonnenstrahlen, die vom Himmel auf die Erde fielen, verwandelten den weißen Schnee in feinsten Perlmutstaub. Überall glitzerte und schimmerte es in den schönsten Regenbogenfarben. Der Kälteeinbruch hatte das farbenprächtige Land in eine Winterlandschaft verwandelt.

    Mit ausgestreckten Armen und Beinen lag ich im Schnee, und während die vom Himmel fallenden Schneeflocken wispernd meinen Namen riefen und mich kitzelten, sobald sie mit ihren winzigen Fallschirmen auf meinem Gesicht landeten, schloss ich die Augen. Ich fühlte den Schnee, die Kälte… auf magische Art und Weise. Jede Schneeflocke, jede Windböe, erfüllte mich mit unerklärlichen Gefühlen. Einzigartig. Wunderschön.

    Der Geruch von Freiheit lag in der Luft und ich atmete ihn ein. Wandelte ihn um. In Lebensenergie. In Hoffnung. Mit einem Lächeln im Gesicht blies ich dem Wind meine Gefühle entgegen und bat ihn, diese mit der Welt zu teilen.

    Die einsetzende Stille bestand aus Herzenswärme. Schweigend, um diesen unbeschreiblichen Moment nicht zu zerstören, bewegte ich die Arme und Beine geräuschlos auf und ab. Einen Herzschlag später stand ich, um mein Kunstwerk nicht zu zerstören, so vorsichtig wie möglich auf. Mein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, während ich die Konturen des Schneeengels bewunderte.

    „Von den Wolken aus, kann man es noch besser sehen", lachte ein kleines Mädchen, griff nach meiner Hand und schenkte mir, während sich weiße Wattebäusche in ihren braunen Locken verfingen, ein sanftes Lächeln. Ihre Augenfarbe war eine einzigartige Mischung aus den unterschiedlichsten Blautönen. Leuchtendes Indian Ocean, strahlend hell und so endlos wie der Himmel. Mit einem Hauch tief verborgener türkiser Sehnsucht.

    „Na dann, worauf warten wir…", antwortete ich. Wir breiteten unsere Schwingen aus, tanzten mit den Schneeflocken zur Melodie des Winters. Wir flogen hinauf zu den Wolken. Immer höher und höher, ohne uns loszulassen. Mein Herz war erfüllt von Glück. Und grenzenloser Freiheit.

    Ohne ersichtlichen Grund beschlich mich ein von Angst begleitendes Grauen.

    Der Geruch von VERGESSEN erfüllte die Luft, während Schwefel meine Schwingen tränkte.

    Plötzlich erwachte ein dunkelschimmernder schwarzer Nebel zum Leben. Bevor ich begriff, was geschah, war es bereits zu spät. Es gab kein Entkommen. Panik. Der Nebel nahm Gestalt an, verwandelte sich in ein gesichtsloses Monster… und doch hatte es Augen.

    Augen, in denen sich das NICHTS spiegelte. Rauchartige Fangarme griffen nach dem kleinen Mädchen, dessen Blick von unbändiger Furcht erfüllt war. Hilfesuchend schaute sie mich an. Flehend. Mein Herz schrie, ohne gehört zu werden. Ich schloss die Augen, tauchte in die Seele des Monsters. Doch alles, was ich fand, war eine blauschimmernde schwarze Leere. Panisch riss ich die Augen auf.

    Ein Sturm braute sich zusammen, grollend, beängstigend, und ein unheilvolles Grauen packte mich. Würgte mich. Der Wind wehte so scharf, dass er sichtbare Spuren auf der Haut hinterließ. Tosender Donner erwachte und zerstörte die heuchlerische, bösartige Stille, während Lichtblitze die Dunkelheit erhellten.

    Der Schatten entriss mir das kleine Mädchen. Verzweifelt griff ich nach ihrer Hand, versuchte sie zurückzuholen…festzuhalten. Doch sie wurde, genau wie die vielen schimmernden Schneeflocken, verschluckt. Einfach verschluckt. Die Donnerschläge verwandelten sich in Worte „Vergiss mich nicht…"

    Tränen erschwerten mir die Sicht. Stille Tränen, die ungehört und ohne Fallschirm auf die Erde zurasten.

    Tränen, die sich mit denen des Himmels vermischten.

    „Neeeiiin…"

    Schreiend erwachte ich aus dem Traum und schmeckte die salzigen Tränen, die von meiner Lippe perlten. Der Knoten in meiner Brust, das Loch in meinem Herzen, wuchs und wuchs… wurde immer größer. Kalter Schweiß brach durch meine Haut. Was zum Teufel?! Der Nachtschatten aus meinem Traum, er war hier… in meinem Zimmer. Die Finsternis verschluckte meine Tränen, mein stummes Schluchzen. Ein unheimliches Schweigen erwachte, legte sich wie kalte Erde über meine Seele. Ich konnte nicht mehr atmen, erstickte… verwandelte mich in einen Regentropfen. Einen Regentropfen, der auf die Erde zuraste, auf den harten Asphalt aufschlug und zertrümmert wurde.

    Ein leises Flüstern durchbrach die Stille, erfüllte den Raum. Verängstigt kniff ich die Augen zusammen, drückte mir beide Hände auf die Ohren. Ich wollte nichts sehen. Nichts hören. Nichts fühlen. Doch, es war zu spät. Ein beklemmendes Gefühl schlängelte sich bereits durch meine Adern, durch jede Zelle meines Körpers, drückte auf meine Lungen und nahm mir die Luft zum Atmen. Gefühle befreiten sich, rissen mich unter Wasser. Luft, ich bekam keine Luft. Mein Puls raste und ich hörte das Blut in meinen Venen um Hilfe schreien. Ich ertrank in einem Meer aus Emotionen.

    Erneut drang ein leises, kaum hörbares Flüstern zu mir durch. Einfühlsam. Friedlich. Sanft. Ein Rettungsanker auf dem tosenden Meer. Ich ignorierte das Rauschen der Wellen, des Sturms, konzentrierte mich verzweifelt auf die Worte, die durch die Luft flogen und versuchten mich zu erreichen.

    „Scht… Scht…" Ganz langsam durchdrang eine Stimme die mich umgebene Nebelwand, besänftigte das dunkle Meer. Erleichtert stellte ich fest, dass es die Stimme meiner Tante war, die, wie so oft, beruhigend auf mich einredete.

    „Hier, sagte Holly, hielt mir eine Papiertüte unter die Nase und streichelte über meinen Rücken. „Und jetzt, langsam in die Tüte atmen. Sehr gut. Ein- und ausatmen. Ein… und wieder aus.

    Meine Atmung normalisierte sich und der unheimliche Nachtschatten wich zurück, gab mich frei. Erschöpft lehnte ich den Kopf an Hollys Schulter und mit einem letzten tiefen Atemzug drängte ich all die düsteren Gefühle zurück. Die Nähe meiner Tante vertrieb die innere Kälte und ich warf mich in die ausgestreckten Arme der vertrauten Geborgenheit.

    „Schon wieder dieser schlimme Traum?"

    Ein Traum, der mich seit dem Verlust meiner Vergangenheit jede Nacht quälte. Dabei war das Einzige, was mich in diesem Traum erwartete ein schwarzes Loch, eine dunkle… gähnende Leere. Das NICHTS. Sobald es mir gelang dem Nichts zu entkommen, wachte ich schreiend auf, begleitet von einem tiefen Schmerz und unendlich vielen Emotionen. Keine Bilder, keine Erinnerungen... nur Gefühle. Selbst im Schlaf, im Gefängnis des Alptraums, kehrten die Schatten meiner Vergangenheit nicht zu mir zurück. Als wäre ein Teil meiner Seele hinter einer, mit unzähligen Schlössern versehenen, Stahltür eingesperrt. Weggesperrt.

    Trotzdem… es hatte sich etwas verändert. Etwas, was mich mit Freude erfüllt hatte, zumindest bis zu dem Moment, wo das Nichts mir meinen Traum gestohlen hatte.

    „Ja… und Nein", antwortete ich mit zittriger Stimme und rückte ein Stück von Holly ab, um ihr ins Gesicht gucken zu können.

    Ohne ihr die Möglichkeit zu geben, zu fragen, was genau ich damit meinte, fuhr ich leise fort. „Es war ein Traum, Holly… ein richtiger Traum. Ich… ich habe im Schnee gelegen, konnte die vom Himmel fallenden Flocken auf meiner Haut fühlen und… Ich stockte, seufzte. „Da war ein kleines Mädchen gewesen. Mit den außergewöhnlichsten blauen Augen, die ich jemals gesehen hab. Das Leuchten in ihrem Blick hatte mich mit Liebe…bedingungsloser Liebe erfüllt. Zusammen sind wir den Wolken entgegengeflogen. Ich konnte den Wind zwischen meinen Flügeln fühlen… wie er mir zärtlich über mein Gesicht streichelte und leise meinen Namen flüsterte, so als wüsste er, dass ich ihn verstehen konnte… ihn hören konnte. Meine Stimme brach, und ich versuchte die dunklen Gefühle, die sich bei der Erinnerung an das Grauen, das daraufhin gefolgt war, auszusperren.

    „Dann kehrte der Alptraum zurück, verschluckte die Bilder meines Traums… und ließ mich im dunklen NICHTS zurück."

    „Summer, begann Holly freudestrahlend. „Das ist wundervoll. Ich mein, wie lange wartest du schon auf diesen Moment? Auf den Moment, wo die Träume anfangen zu dir zurückzukehren?

    Meine Tante sah mich lächelnd an. Und, obwohl ich ihre Freude spüren konnte, erwachte ein weiteres Gefühl. Eins, dass sich allerdings versuchte vor mir zu verstecken. Eins, dass nicht greifbar war, zumindest nicht in diesem Augenblick. Mein Blick schweifte durchs Fenster. Nach draußen. Die Nacht wirkte friedlich, was wahrscheinlich an den unzähligen Sternen lag, die den dunklen Himmel in ein Blumenmeer, bestehend aus Glühwürmchen, verwandelten. Diese majestätische Schönheit vertrieb die düsteren Gedanken, und die kalten Erinnerungen an den Traum verließen mich. Gaben mich endlich frei.

    „Wundervoll", wiederholte ich, tief versunken in dem Anblick der Sterne.

    Holly legte mir den Arm um die Taille, und ich kuschelte mich an sie.

    „Hast du ihn gefunden?"

    „Wen?", fragte ich irritiert.

    „Deinen Stern." In ihrem Gesicht erschien ein wehmütiges Lächeln.

    Ich fragte erst gar nicht, woher Holly von meinem Stern wusste. In der

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