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Mendels Wünsche: Zwischen Wien und Haifa liegt das große Meer
Mendels Wünsche: Zwischen Wien und Haifa liegt das große Meer
Mendels Wünsche: Zwischen Wien und Haifa liegt das große Meer
Ebook269 pages3 hours

Mendels Wünsche: Zwischen Wien und Haifa liegt das große Meer

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About this ebook

Mendel Kohn ist zwölf Jahre alt. Er wandert 1947 mit seinen Eltern nach Palästina aus. Seine Freundin Lotte wächst im Wien der Nachkriegsjahre auf.
Briefmarken sind ein fast unerschwinglicher Luxus. Dennoch halten die beiden ihre Freundschaft fortan mittels Briefen aufrecht. Zu schreiben gibt es viel.
Mendel lernt das Leben in einem Kibbuz kennen und sehnt sich nach Frieden mit den Arabern. Lotte vermisst Mendel und versucht, sich an ihren aus der Gefangenschaft heimgekehrten Onkel zu gewöhnen.
Eines Tages landet ein gestohlener Ring in einem Paar selbstgestrickter Fäustlinge, die Lotte nach Haifa schickt, bei Mendel. Ist es ein Zauberring, der die Wünsche der Kinder erfüllen kann?

Traude Litzka siedelt die Handlung ihres Romans gleichzeitig in Wien und in Palästina zur Zeit der Staatsgründung Israels an. Die alltäglichen Herausforderungen im zerstörten und besetzten Wien, die Situation traumatisierter jüdischer Einwanderer in Palästina. All diese Themen werden aus der Sicht zweier Kinder erzählt. Daraus entseht eine spannende, berührende und manchmal auch komische Geschichte.

LanguageDeutsch
Release dateJun 13, 2020
ISBN9783902975652
Mendels Wünsche: Zwischen Wien und Haifa liegt das große Meer

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    Mendels Wünsche - Traude Litzka

    Golan

    1. Walter als Störenfried

    Wien, Juni 1947


    »Von den noch nicht heimgekehrten Kriegsgefangenen befinden sich 12.068 in Russland, 1.209 in Jugoslawien, 226 werden noch aus Frankreich erwartet und 147 aus Belgien. In allen anderen Ländern liegt die Zahl der dort noch in Gefangenschaft befindlichen Wiener unter 50 ...«

    Aus der Rathauskorrespondenz Mai 1947

    Eines Tages stand plötzlich Walter vor der Eingangstür.

    Es war ein heißer Junitag des Jahres 1947, um die Mittagszeit, und man hatte sich gerade zum Essen gesetzt. »Man« waren Mutter, Großmutter und Franz, der ältere Sohn der Familie Reiter, während Lotte, seine Schwester, noch in der Schule war. In der Pfanne brutzelten Bratkartoffeln und Spiegeleier und obwohl alle Fenster geöffnet waren, zog der Geruch von heißem Fett bis in die letzten Ecken der Wohnung. Heute gab es ein wahres Festessen, denn Eier waren eine Seltenheit, noch dazu bekam heute jede Person ein ganzes Ei. Außerdem war es der Großmutter gelungen, im Rahmen einer »Hamsterpartie«, bei einem Bauern in Niederösterreich Spinat aufzutreiben. Auch das war eine Rarität, denn in den Wiener Gemüsegeschäften wurde so etwas nur selten zum Kauf angeboten. Die Mutter begann gerade das Essen auszuteilen, als es an der Tür läutete.

    Franz, der öffnen ging, stand einem dünnen, großen Mann gegenüber, dessen grauer Mantel schlotternd an den Schultern hing. Er lehnte am Türstock, sagte kein Wort und rührte sich nicht. Eine unheimliche Gestalt, fand Franz und wollte gerade die Türe wieder zuschlagen, als die Großmutter, die nachgekommen war, einen Schrei ausstieß, ihren Enkel zur Seite schob und dem Fremden um den Hals fiel.

    »Walter«, stieß sie zwischen Lachen und Weinen hervor.

    »Gott sei Lob und Dank, dass du wieder da bist.« Sie zerrte ihn in die Wohnung und schloss die Türe. »Du lieber Himmel, wie du nur ausschaust. Ganz abgezehrt und dünn. Aber du wirst dich bald wieder erholt haben. Hast du ­Hunger? Ich mach dir gleich was Gutes und dann musst du dich ausruhen, damit du wieder zu Kräften kommst.«

    Dann rief sie aufgeregt nach ihrer Tochter Helene, die aus der Küche gestürzt kam, sich die Hände an der Küchenschürze abwischte und ebenfalls dem Unbekannten um den Hals fiel. Auch sie begann zu weinen und selbst dem Mann gelang es nicht, seine Tränen zu unterdrücken. Franz stand etwas abseits und beobachtete diese sonderbare Szene. Weinende Erwachsene waren für den Elfjährigen höchst peinlich, wie sollte er sich da verhalten? Einfach hingehen und »grüß Gott« sagen? Diesen Menschen hatte er noch nie gesehen. Er wusste zwar, dass er einen Onkel hatte, der gleich zu Kriegsbeginn freiwillig eingerückt war, von dem man aber dann nie wieder etwas gehört hatte.

    Da er gerade erst hungrig von der Schule gekommen war, spürte er im Moment nur seinen Magen knurren und ihn zu beruhigen, war ihm jetzt wichtiger als alle Wiedersehensfreude. »Mama«, sagte er daher etwas unwirsch, »wann gibt es was zum Essen?«

    »Siehst du denn nicht, dass es jetzt Wichtigeres gibt als deinen Hunger?«, fuhr ihn die Großmutter an. »Immerhin ist dein Onkel Walter gerade angekommen. Du solltest dich darüber freuen, statt nur ans Essen zu denken.«

    »Lass nur, Mama.« Jetzt ließ dieser Onkel zum ersten Mal seine Stimme vernehmen und sie klang kratzig und rau.

    »Er kennt mich ja gar nicht und ich ihn auch nicht.«

    Dann ging er auf Franz zu und reichte ihm die Hand.

    »Ich glaube, du bist der kleine Franz. Zumindest warst du noch klein, als ich dich das letzte Mal gesehen habe. Ich bin der Bruder von deiner Mutter, du kannst Walter zu mir sagen.«

    Dann zog er seinen überweiten Mantel aus, holte seinen Rucksack, den er im Stiegenhaus abgestellt hatte, in das Vorzimmer und schloss die Tür.

    »Ich könnte auch was zum Futtern brauchen, habt ihr was für mich?«

    Bald waren sie in der Küche um den Esstisch versammelt und hofften, dass Walter etwas von sich und seinen Erlebnissen erzählen würde.

    Er galt seit Jahren bei den Behörden als vermisst, und die Familie befürchtete schon lange, dass er ums Leben gekommen war. Und jetzt – es war wie ein Wunder – saß er bei ihnen und schlang mit großer Geschwindigkeit Unmengen von Essbarem in sich hinein. Franz wunderte sich, was er alles vertilgen konnte und hoffte insgeheim, dass für das Abendessen noch etwas übrig blieb. Wenn der so weitermacht, dachte er, frisst er uns kahl.

    In der Zwischenzeit war auch Lotte von der Schule gekommen und Franz, der ihr die Türe öffnete, flüsterte ihr heimlich die Nachricht von der Ankunft ihres Onkels zu und dass er das ganze vorhandene Essen vertilgen würde, wenn er nicht rechtzeitig gestoppt werde. Lotte, die nie viel Appetit zeigte, war nicht beunruhigt.

    »Na, hoffentlich schmeckt ihm auch der Spinat«, meinte sie und war sehr erfreut zu hören, dass davon überhaupt nichts mehr übrig war.

    »Er hat alles aufgegessen«, sagte Franz empört. »Zuerst die Kartoffeln, den Spinat und die Spiegeleier und dann hat er noch immer nicht genug gehabt. Mama musste ihm noch ein Schmalzbrot streichen und zum Schluss hat er den ganzen Käse verschlungen. Gleich wird die Oma einen von uns zum Kaufmann schicken, um Nachschub zu holen.«

    Und tatsächlich, kaum hatte Lotte die Küche betreten und den unbekannten Onkel begrüßt, als auch schon der Auftrag kam, schnell mal zum Steiner zu laufen und einzukaufen. Der Steiner war der Kaufmann auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, der aber, wie Lotte wusste, bereits Mittagssperre hatte. Vor lauter Wiedersehensfreude war die Zeit übersehen worden und so wurden für Lotte noch die Kartoffelreste zusammengekratzt und das letzte vorhandene Ei dazu gebraten. Lotte war selig. Kein Spinat, nur Bratkartoffeln und Spiegelei. Der Onkel Walter wurde ihr, im Gegensatz zu Franz, immer sympathischer. Trotz seines Dreitagebartes und seiner schmutzigen Kleidung, gefiel er ihr so gut, dass sie hoffte, dass er recht lange bei ihnen blieb. Er konnte gerne von ihr alles Essen haben, besonders das, das ihr nicht schmeckte.

    Die beiden Frauen hatten sich in der Zwischenzeit wieder beruhigt und warteten noch immer gespannt auf einen Bericht des Heimkehrers. Aber da kam nichts. Er zog nach dem Essen seine Pfeife aus der Tasche, stopfte sie mit einem sonderbaren schwarzen Kraut, das er Tabak nannte und zündete es an. Sofort bildete sich dichter Qualm über dem Tisch, der weiter zu dem offenen Fenster zog, aber vorher sich noch überall in der Küche ausbreitete. Lotte fing zu husten an. Der Rauch kratzte im Hals und Tränen standen in ihren Augen.

    »Walter, um Gottes willen, mach doch dieses fürchterliche Ding aus, man erstickt ja.«

    Die Großmutter schnappte ebenfalls nach Luft und die Mutter verließ fluchtartig den Raum.

    Walter lachte. »Mein Gott, seid ihr aber zimperlich«, sagte er. »Ich hab das die letzten Jahre immer geraucht und bin nicht daran gestorben.«

    »Du musst auf Helene Rücksicht nehmen. Du siehst doch, dass sie ein Kind erwartet und auch wir anderen können kaum atmen.«

    »Ach so, sie ist schwanger«, murmelte er. »Ich wunderte mich schon, dass sie so dick geworden ist.«

    Mit bedauerndem Blick klopfte Walter seine Pfeife aus.

    »Das ist ja ein schönes Heimkommen, wenn man nicht einmal rauchen darf.«

    Dann lehnte er sich aufseufzend zurück und fragte: »Gott bin ich müde. Kann ich mich irgendwo hinlegen?«

    In der Zwischenzeit hatte seine Schwester den Diwan im Kabinett mit frischem Bettzeug bezogen und als sie es ihrem Bruder zeigte, ließ er sich, so wie er war, mit Kleidern und Schuhen darauf fallen und fing sofort zu schnarchen an.

    In der Küche wurde Kriegsrat gehalten. Wo sollte man das neue Familienmitglied unterbringen? Das Kabinett, in dem bis vor kurzem eine Untermieterin gewohnt hatte, war erst vor einer Woche von Franz bezogen worden. Und da sollte er jetzt wieder hinaus? Wieder zu seiner Schwester ins gemeinsame Zimmer zurück? Er war sauer. Sehr sauer. Das hatte ihm noch gefehlt, mit der Kleinen wieder zusammen zu schlafen! Dieser neue Onkel war ihm bereits beim ersten Anblick unsympathisch gewesen und seine Abneigung wuchs in dem Ausmaß, als Mutter und Großmutter vor Glück zerflossen. Der kommt plötzlich hereingeschneit, sagt fast kein Wort, isst alles auf und stinkt mit seiner Pfeife noch die Küche voll!

    Zornig schmetterte er die Türe ins Schloss und machte sich bereit, in den Turnverein zu gehen. Mendel Kohn, der Nachbarsbub, kam mit ihm mit. Er ging zwar mit der jüngeren Lotte in dieselbe Klasse, aber im Turnen war er so geschickt, dass es für ihn kein Problem war, mit den Großen mitzuhalten. Als Franz die Wohnungstüre öffnete, stand Mendel bereits draußen im dämmrigen Gang und wartete.

    »Hallo Franz«, sagte er, aber Franz brummte nur.

    »Was sagst du?«

    »Nichts.«

    Und nach einer Pause: »Ich bin zornig.«

    »Warum? Wegen mir?«

    »Nein«, brummte Franz, »mein Onkel, den ich überhaupt noch nie gesehen habe, kommt plötzlich zur Tür herein, isst alles auf, stinkt und legt sich in mein Bett. Da muss man ja zornig werden.«

    »Ist doch schön, wenn Verwandtschaft kommt. Ich würde es mir wünschen. Nur mein Onkel Hersch lebt noch und in Tel Aviv gibt es eine Schwester von meinem Vater und ihren Mann. Alle anderen sind tot.«

    Diese Antwort konnte Franz nicht beruhigen. Knurrend ging er neben Mendel her und fragte dann: »Wann fahrt ihr eigentlich nach Palästina?«

    »Wenn die Schule aus ist. Die Bricha will uns helfen nach Italien zu kommen und dann auf ein Schiff. Das ist aber ein Geheimnis, du darfst uns nicht verraten. Die Engländer erlauben nämlich nicht, dass Juden nach Palästina einreisen. Darum müssen wir heimlich fahren. Es wird eine lange Reise werden.«

    »Was geht das denn die Engländer an, wohin ihr fahrt? Ich habe geglaubt, die haben den Juden im Krieg geholfen. Dein Vater ist doch nach England geflohen.«

    »Tate sagt, das ist Politik. Ich verstehe davon nichts. Wirst du mir auch schreiben?«, fragte Mendel plötzlich.

    »Wieso auch? Wer schreibt dir denn noch?«

    »Deine Schwester hat versprecht - «

    »Versprochen heißt das, wann wirst du das endlich lernen?«

    »In Palästina brauch ich dann kein Deutsch mehr. Dort lerne ich Hebräisch und Englisch.«

    »Na, und wie willst du dann Lotte schreiben? Die kann nur Deutsch. Die macht zwar auch viele Fehler so wie du, allerdings nicht beim Sprechen. - Aber von mir bekommst du keine Briefe, ich hasse das. Mir reicht es schon, wenn ich mich für mein Geburtstagsgeschenk bei meiner Tante bedanken muss. Da fällt mir nie etwas ein. Zwei Sätze und dann bin ich fertig. - Ich werde dann das lesen, was du an Lotte geschrieben hast.«

    »Ist aber Geheimnis«, grinste Mendel, »vielleicht ein Liebesbrief, den darfst du nicht lesen.«

    Franz, der auch fast schon gelacht hätte, fiel wieder sein Onkel Walter ein und seine Miene verfinsterte sich.

    »Ich hasse ihn, ich hasse ihn, ich hasse ihn«, murmelte er vor sich hin. Und als sie zu guter Letzt angekommen waren und in der Garderobe die Turnhosen anzogen, sagte er laut und deutlich:

    »Aber morgen muss er wieder ausziehen. Ich will in mein Zimmer und nicht bei der blöden Lotte schlafen.«

    Als Walter erwachte, war es draußen finster geworden. Im ersten Moment wusste er gar nicht, wo er sich befand. Ein dämmriger Raum, in den nur von draußen der leichte Schein einer Straßenlaterne drang und Geräusche aus den Nachbarfenstern zu hören waren. Er musste mindestens drei Stunden geschlafen haben, fühlte sich aber noch immer so müde, dass er sich kaum rühren konnte. Jemand hatte ihm, ohne dass er es gemerkt hatte, die Schuhe ausgezogen und weggetragen. Wahrscheinlich war das seine Mutter gewesen. Außerdem hatte sie ihm, trotz der herrschenden Hitze, eine Decke übergeworfen. Kein Wunder, dass seine Kleider vor Schweiß klebten. Trotzdem fand er es schön, nach so langer Zeit, wieder einmal von liebevollen Händen betreut zu werden, er konnte sich schon gar nicht mehr erinnern, wann das das letzte Mal gewesen war. Er konnte sich überhaupt an vieles nicht mehr erinnern. Er wusste noch, dass er gleich nach der Grundausbildung an die Front gekommen war und dort, nicht beim Kampf, sondern bei einer Schlägerei unter den Kameraden, einen Kolbenhieb auf die Stirn bekommen hatte. An danach, als er wieder zu sich kam, konnte er sich nur noch sehr verschwommen erinnern. Er hatte für einige Zeit sein Gedächtnis verloren und wusste weder seinen Namen noch die Adresse seiner Angehörigen. Das war jetzt aber schon sehr lange her, und das, was dann gekommen war, an das wollte er sich lieber nicht erinnern. Das vergaß er absichtlich.

    Gerade als Walter bei dieser Überlegung angelangt war, dass er eigentlich ein glücklicher Mensch sei, der, wenn nötig, sein Gedächtnis abschalten konnte, öffnete sich leise die Türe und ein dünner Lichtstrahl fiel auf sein Gesicht.

    »Schläfst du noch?«, wisperte eine Stimme. »Oma hat gesagt, ich soll nachschauen, ob du schon wach bist.«

    »Ich schlafe noch tief und fest.«

    Die Stimme kicherte: »Wenn du tief und fest schläfst, kannst du doch nicht antworten.«

    Eine kleine, dünne Gestalt huschte zu ihm und setzte sich unverfroren auf den Bettrand.

    »Das ist eigentlich das Zimmer von Franzl. Der fürchtet, dass er wieder zu mir kommen muss, wenn du es benützt. Also, mir macht es nichts, wenn er wieder kommt. Ich hab mich alleine sowieso immer gefürchtet. Wirst du lange bei uns bleiben? Oma sagt, sie muss dich erst auffüttern, bevor sie dich wieder weglässt. Und Mama hofft, dass du dich diesmal besser mit meinem Papa vertragen wirst als ­früher. Habt ihr miteinander viel gestritten? Warum denn? Du schaust eigentlich sehr nett aus und Papa ist auch sehr lieb und außerdem sowieso fast nie zu Hause.«

    Lottes Redeschwall versiegte. Sie wartete vergeblich auf eine Antwort auf ihre Fragen, aber da kam nichts. Die Zeit verstrich und als Walter noch immer keine Anstalten machte zu antworten, seufzte sie tief auf.

    »Ich muss jetzt noch schnell einkaufen gehen, weil du alles aufgegessen hast. Hast du gerne Kartoffelpuffer? Oma macht sie zum Nachtmahl. Sie hat gesagt, dass du sie immer so gerne gegessen hast. Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Sie hat auch gesagt, dass du früher viel geredet hast, doch heute bist du fast stumm gewesen.«

    »Du wirst glauben, dein Onkel ist ein altes Ekel, weil er nicht redet. Aber ich bin noch so furchtbar müde, dass ich fast kein Wort herausbringe. Das kannst du doch verstehen?

    Morgen bin ich dann wieder der Alte und wir beide werden uns dann sehr gut unterhalten.« »Mach dir keine Sorgen, ich mag dich schon seit Mittag sehr gerne. Weil du alles aufgegessen hast, was mir nicht schmeckt. Spinat zum Beispiel kann ich überhaupt nicht ausstehen.« Sie hätte noch gerne eine längere Rede über ihre Abneigung gegen Spinat gehalten, aber da unterbrach sie die Stimme ihrer Mutter, die sie zum Einkaufen rief. So blieb ihr letzter Satz unvollendet und tief aufseufzend trat sie den Rückweg an.

    Eigentlich wollte Walter jetzt aufstehen und sich ebenfalls zu den anderen gesellen, aber seine Arme und Beine waren wie schwere Klötze. Schon allein der Versuch sich aufzusetzen, misslang und aufseufzend ließ er seinen Kopf wieder auf das Kissen fallen.

    »Nur noch ein paar Minuten«, murmelte er, doch als er wieder erwachte, war es draußen hell geworden und die Sonne schien zum Fenster herein.

    2. Vom Südbahnhof zum Resselpark

    Wien, Juli 1947


    »In dieser Zeit blühte ein illegales Gewerbe, der Schleichhandel. Zentrale Anlaufstelle für Anbieter und Suchende war der Resselpark. Hier wurde so manches wertvolle Schmuckstück gegen ein Kilogramm Fett getauscht. Das Marktamt war ein wichtiges Instrument im Kampf gegen Schwarzhändler. Unter Mitwirkung der Polizei wurden bis Ende 1948 Lebensmittel in einer Liefermenge von zirka 2.000 Wagonfrachten beschlagnahmt.«

    Aus: Nachkriegszeit - Geschichte des Wiener Marktamtes MA 59

    Die Familie Kohn war abreisebereit. Vor ihrer Eingangstüre stapelten sich Kisten und Koffer und die Männer trugen sie zum wartenden Handwagen vor dem Haus. Auch Walter half mit und er hatte sich bereit erklärt, die Abreisenden mit Lotte und Franz zum Südbahnhof zu begleiten. Der Weg durch die Prinz-Eugen-Straße war nicht weit, in zwanzig Minuten müsste das Ziel zu Fuß zu erreichen sein.

    Vorher hatte es noch zu Hause einen heftigen Kampf darum gegeben, ob die Kinder mitkommen durften. Die Mutter wollte sie nicht zu dem noch immer in Schutt liegenden Bahnhof gehen lassen. Die Eingangshalle war zwar notdürftig geräumt und gesichert worden und der Weg zu den Bahnsteigen benutzbar gemacht, aber es hielten sich dort nicht nur Reisende auf. Dieses Areal diente für Ausgebombte und Flüchtlinge als vorübergehende Unterkunft und die Mutter befürchtete, dass sich dort auch zwielichtige Gestalten herumtrieben. Wer weiß, wie es dort zuging!

    »In Zeiten wie diesen, muss man gut aufpassen, dass man nicht mit dem Gesindel zusammentrifft. Außerdem gibt es ständige Verschleppungen von den Russen. Erst unlängst haben sie einen Mann auf der Straße festgenommen und keiner weiß, wo er jetzt ist.«

    »Na, deine Lieblinge werden schon nicht gestohlen werden, ich bin ja dabei und pass auf sie auf«, erwiderte ihr Bruder.

    Und erst nach langem Hin und Her zwischen der besorgten Mutter und ihren Kindern, unterstützt durch ihren Onkel, gab es dann endlich doch die Erlaubnis zu gehen.

    »Aber dass ihr sofort nach Hause kommt, damit ich mir keine Sorgen machen muss«, war der Abschlusssatz und aufatmend machten sich die drei auf den Weg.

    Das Gepäck der Kohns lag aufgetürmt auf dem Handwagen und wurde soeben von Mendels Vater mit einem Strick vertäut, während Mendels Mutter mit leidender und erschöpfter Miene daneben stand und auf den Aufbruch wartete.

    Obwohl die Familie im vergangenen Herbst hier eingezogen war, hatte sie Lotte erst ein Mal zu Gesicht bekommen. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, als damals drei eigenartige Gestalten vor dem Haus gestanden waren und ihre Habseligkeiten aus einem Auto geladen hatten. Frau Kohn wirkte, mit einem Tuch auf dem Kopf und ausgetretenen Herrenschuhen an den Füßen, so alt, dass Lotte sie für die Großmutter von Mendel gehalten hatte. Erst später hörte sie, dass seine Mutter nach ihrer Ankunft in Wien sehr krank geworden war und dass sie die meiste Zeit im Krankenhaus verbringen musste. Mendel wohnte die ersten Wochen alleine mit seinem Onkel Hersch - auch so eine sonderbare Figur. Der dichte, lange, schwarzen Bart war für Lotte höchst merkwürdig, so etwas hatte sie noch nie gesehen. Jedes Mal, wenn sie diesem Mann begegnete, machte sie einen großen Bogen um ihn oder versuchte möglichst rasch an ihm vorbei zu huschen. Später war Mendels Vater aus England gekommen, wohin er sich knapp nach dem Einmarsch der Nazis gerettet hatte. So lebten sie dann zu dritt in der Vis-à-vis-Wohnung der Familie Reiter und nur hin und wieder durfte Mendels Mutter das Spital verlassen.

    Lotte fing plötzlich zu lachen an.

    »Mir ist gerade eingefallen, wie du ausgesehen hast, wie du hier eingezogen bist«, sagte sie zu Mendel. »Mit einer Glatze und so dünn, dass alles an dir geschlottert hat.«

    »Gar nicht lustig«, erwiderte er gekränkt. »Das war ein langer Marsch aus Polen und dann war ich auch krank, wie Mamme, nur anders.«

    »Ich will dich ja nicht beleidigen. Jetzt schaust du ja ganz normal aus. Das war halt nur damals, ich hab so was noch nie gesehen.«

    Mendel schwieg und Lotte, die merkte, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, fügte hinzu: »Aber jetzt bist du wieder schön.«

    Mendel streckte sich und fragte: »Wirklich schön?«

    »Na ja, ich meine schöner als damals. Sei nicht so eitel.«

    Jetzt mussten beide lachen und sie trotteten einig hinter der Gruppe mit dem Wagen her. David Kohn und Walter zogen gemeinsam an der Deichsel und Franz schob von hinten. Mendels Mutter ging in so langsamen Schritten, dass man zeitweise stehen bleiben musste, um auf sie zu warten. So zogen sie die Prinz-Eugen-Straße hinauf, wichen Schutthaufen aus und umfuhren manchen Bombentreffer in der Straße.

    »Wo ist eigentlich dein Onkel?«, wollte Lotte wissen und wurde belehrt, dass Onkel Hersch erstens in Wien bleiben würde und zweitens nicht zum Abschied mitkommen konnte, da er als Arzt im Krankenhaus gebraucht wurde.

    Sie waren schon fast beim Bahnhof angelangt, als Lotte tief seufzte:

    »Du wirst mir aber sehr fehlen. Wer wird jetzt mit mir in der Früh in die Schule gehen? Franz kommt in die Mittelschule und hat einen anderen

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