Steampunk Akte Asien
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About this ebook
Lassen Sie sich in 13 Akten der Organisation nach Asien entführen. Sie reichen zurück bis in die tiefste Vergangenheit Indonesiens und erzählen uns von dort bis in die Gegenwart die Geschichten eines Kontinents voller Vielfalt: Von den Geheimnissen, die die Große Mauer unüberwindlich machten, von dem verborgenen Weg nach Shangri-La, von den mechanischen Rüstungen der Samurai und den Automaten chinesischer Ingenieure. Doch die Akten berichten auch von der Bedrohung, die diese Wunder für sich vereinnahmen will: Die Kolonialherren Europas.
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Book preview
Steampunk Akte Asien - Louise Hofmann
Ludwig
Impressum
Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim Art Skript Phantastik Verlag und den jeweiligen Autor*innen.
Copyright © 2020 Art Skript Phantastik Verlag
1. Auflage 2020
Art Skript Phantastik Verlag | Salach
Lektorat » Lisa Reim » lektorat-reim.de
Sensitivity Reading » Vanessa Jäger
Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag
Cover-Illustration » Trudy Wenzel » synticfaye.artstation.com
Innenseiten-Grafik Bücher » www.creativemarket.com
Druck » BookPress » www.bookpress.eu
Print-ISBN » 978-3-945045-12-1
eBook-ISBN » 978-3-945045-63-3
Der Verlag im Internet » www.artskriptphantastik.de
Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Es werden Ihnen jedoch diverse historische Personen begegnen.
»Man lässt die Leben, die im Archiv aufgelaufen sind, nicht wiederauferstehen. Doch das ist kein Grund, sie ein zweites Mal zu töten. Ein Bericht, der sie weder annulliert noch auflöst, der sie für eine andere Erzählung ihrer enigmatischen Gegenwart bereit hält, eines Tages, anderswo, ist freilich ein heikles Unterfangen.«
– Arlette Farge, Der Geschmack des Archivs, Göttingen 2011, S. 94.
Prolog:
Khakhua
Angelegt von: Werner Graf
Region: West-Neuguinea | Papua-Neuguinea
Zeit: ca. 1.000 v. Chr.
Das Urteil fällte mein eigener Bruder.
Sie trieben mich durch dichtes Gebüsch, um es zu vollstrecken. Sie hetzten mich über dornenbewehrte Böschungen, um Gerechtigkeit zu bringen. Sie warteten nicht, als mein Bein im Morast fast brach.
Mein Körper ist zerkratzt, zerschunden, erschöpft, als ich kopfüber in den Taritatu-Fluss falle. Kaltes Wasser umspült mich, augenblicklich verliere ich die Orientierung. Die Sedimente rauben mir die Sicht, doch spüre ich das Trampeln meiner Verfolger. Noch bevor ich den Kopf aus dem Wasser strecke, haben sie mich umzingelt – fünf Männer, bewaffnet mit Bögen und Knochenmessern, die wie eine Horde Wildschweine um mich herumtollen. Getrockneter Schlamm bedeckt ihre Haut. An den Beinen löst das Wasser die schützende Schicht auf und wie verschmutztes Blut fließt es in feinen Rinnsalen hinab. Nur an den freien Stellen rund um die Augen erkenne ich ihre fast schwarze Haut.
Instinktiv flüchte ich zum Ufer und krabble auf allen Vieren rückwärts. Ich höre mich schreien und flehen – vergebens. Ich stoße gegen Beine wie Holzpfähle. Zwei starke Hände packen mich, umklammern meine Schultern und drohen mir die Knochen zu zermalmen. Der Mann vor mir hebt seinen Bogen. Ein besonderer Pfeil liegt auf der Sehne, seine Spitze – die Kralle eines Kasuars – ist für meine Brust bestimmt. Khakhua nennen sie mich nun, einen bösen Geist, den nur ein Schuss ins Herz töten kann.
Schon schnellt die Bogensehne nach vorne und die aufflammende Hitze in meiner Brust bestätigt, was meine Augen nicht erfassen können. Kein Schmerz. Nur diese unglaubliche Hitze, die mich auf einmal durchdringt, als wäre die glühende Mittagssonne plötzlich hinter den Wolken hervorgetreten. Die Hitze steigert sich, bis ich sie für wahren Schmerz halte. Die Welt um mich herum verschwimmt und mit ihr der Sinn meiner Gedanken. Mein Verstand zerfließt zu einem Farbengewirr, vermengt Regenwald und meine Jäger. Flammen züngeln hervor, fressen die Farben und zurück bleibt Schwärze wie von verkohltem Holz.
Langsam kehrt alles zurück. Auch die Hitze und der Schmerz. Bin ich im Reich des Todes? Mein gespaltenes Herz hämmert wie verrückt. Ich atme flach und hektisch. Nein, so fühlt sich tot gewiss nicht an. Doch sie haben mein Herz durchbohrt. Das Wasser des Taritatu ist mein Zeuge. Diese Bilder eben … kein Traum, nicht die Auswüchse eines dem Wahnsinn verfallenen Geistes, sondern die bloße Erinnerung daran, was mir heute angetan wurde. Mein sterbender Bruder nannte meinen Namen, deshalb soll auch ich sterben. Es schmerzt mehr, als eine bloße Schusswunde es könnte.
Meine Sicht wird klarer. Neben mir lodert ein mächtiges Feuer. Geister und Dämonen (die Toten?) tanzen in einem Kreis um mich zum wummernden Rhythmus meines Herzens. Nein, verkehrt herum – dort hinter den Tanzenden sitzen zwei Männer hinter großen Trommeln, und mein Herz, vielleicht nicht mehr willens, von selbst zu schlagen, steigt in diesen Rhythmus mit ein. Was ich für Dämonen hielt, sind die Männer und Frauen meines Stammes. Grob geschnitzte, mit bunten Federn geschmückte Masken lassen sie im flackernden Schein des Feuers schrecklich aussehen. Ihre Haut ist mit grauem Lehm und Schlamm bedeckt. Sie wackeln mit den Köpfen, dass die Federn nur so wippen, die Arme und Beine wirbeln durch die Luft und ihr Stampfen zum dumpfen Trommelschlag lässt die Erde erzittern. Um die Hüften tragen sie geflochtene Rattanröcke oder festgebundene Sagoblätter, manchen Oberarm ziert ein Band aus Vogelfedern, andere haben grobgepunktete Muster auf der Brust.
Ein Fest also. Wohl mehr ein Ritual, ein Totentanz. Warum überhaupt die Mühe? Warum das hektische Trommeln, warum die Aufregung? Khakhuas verdienen keine Verhandlung und bestimmt kein Ritual. Zeitverschwendung. Das Urteil ist immer dasselbe.
Die Trommler schlagen härter und schneller. Der Kreis wird enger. Gefesselt sind nur meine Hände, denn sie wollen mich näher ans Feuer treiben, mich am Entfliehen hindern. So muss es sein, sind mir doch selbst in jüngster Zeit einige Khakhuas entwischt. Als hätte der heilige Pfeil seine Wirkung verloren. Und bin ich nicht selbst der beste Beweis dafür? Oder hat der Pfeil mein Herz einfach nur knapp verfehlt? Darum das Ritual. Das Feuer. Der Tanz. Ich liege in einem Bannkreis. Ich habe selbst genug gejagt, auch meine engsten Freunde. Und es war richtig. Es war notwendig.
War es das wirklich?
Auch meine Opfer flehten um ihr Leben, versicherten mir, dass es dieses Mal ein Irrtum war. Dieses eine Mal. Alle machten mit, doch die, die es traf, die von einem sterbenden Opfer benannt wurden, beharrten auf einen Irrtum. So wie ich jetzt, wenn ich sehe, wie hinter den tanzenden Reihen schon alles für ein Mahl zubereitet wird. Ein Mahl, an dem ich teilnehmen werde. Auf eine Art und Weise, die mir gar nicht schmeckt. Und dem, der mich im Fluss fasste, wird ein besonderes Geschenk gemacht. Nicht nur Fleisch, sondern Schmuck. Bei dem Gedanken daran schnellt meine Zunge unwillkürlich über die Zähne, mit den Fingerspitzen streiche ich über die gebrochenen Fingernägel und weiter den Arm hoch zu der Kette unter meinem Ellbogen. Ich selbst trage so einen Schmuck. Ihre Namen werde ich nie vergessen.
Ein Tritt von hinten zwingt mich neben den lodernden Flammen zu Boden. Die Hitze wird unerträglich. Ich winde mich am Boden wie ein gestrandeter Fisch, versuche mich meiner Fesseln zu entledigen – vergebens. Natürlich. Wir alle verstehen schließlich unser Handwerk. Was bleibt mir also, als das Unvermeidliche abzuwarten? Was tun in den letzten Minuten meines kurzen Lebens?
Bereuen.
Wie viele Khakhuas habe ich schon gerichtet, an wie vielen Mahlen schon teilgenommen? Ich habe sie nicht gezählt. Mehr, als ich Finger an meinen Händen habe. Ich habe sie getötet, ihr Fleisch verzehrt. Aus Rache. Sie fressen uns langsam von innen heraus und füllen unsere Körper mit Asche, damit wir nichts bemerken. Wir werden krank und sterben, doch im Moment des Todes offenbart sich der Khakhua. Das Opfer nennt seinen Namen. Ein Wahrspruch. Keine Zweifel. Wir vergelten es auf die gleiche Weise. Stirbt einer, stirbt ein zweiter. So war es schon immer. Habe ich jemals gezweifelt an dieser Tradition? An den Khakhuas?
Ich erstarre in meiner hektischen Bewegung, während sich rund um mich alles weiterdreht. Die Masken starren mich an, verformen sich, sobald ich sie durch das Feuer betrachte. Eine Stimme. Ich kann sie zischen hören wie eine Spinne, die man ins Feuer wirft. Trotz des Lärms, trotz des Gesangs, der Trommeln und des Stampfens ihrer Beine ertönt sie überraschend klar in meinem Kopf.
Sieh hoch. Lege die Fesseln ab und klettere um dein Leben.
Ich sehe hoch. In den Baumwipfeln liegen unsere Häuser, Vogelnestern aus Holzbalken gleich. Obwohl ich mein Ziel, den Ursprung der Stimme, nicht kenne, zieht mich das Baumhaus über der heißen Quelle sofort in seinen Bann. Boas Haus. Als einziges auf einem krummen Stamm erbaut, welcher sich über das dampfende Flussufer beugt. Oh, wie haben wir über ihn gelacht, ihn verspottet. Anstatt mit uns Wildschweine und Schlangen zu jagen, durchstreift er den nächtlichen Wald, fängt Nachtfalter und gräbt nach uralten Knochen. Zeitverschwendung, anstatt seinen Beitrag für den Stamm zu leisten.
Heute lachen und spotten wir nicht mehr. Gesellschaft täte ihm gut, doch ich würde ihn nicht mehr in meiner Nähe wissen wollen. Er hat weder Frau noch Kinder. Wie besessen er davon war, dort sein Haus zu bauen. Dort, über der heißen Quelle – als würden wir jemals frieren. Er hatte darauf bestanden. Nur ein kleines Haus (an einem halben Tag waren wir fertig), aber der aufsteigende Dampf musste durch das Bodenloch hineinströmen können. Ob er damit kocht? Ich habe nie nachgesehen. Ich war seit damals nicht mehr dort. Und jetzt, wenn ich darüber nachdenke, glaube ich, niemand vom Stamm hat je wieder sein Haus betreten. Jetzt friert mich doch.
Meine Fesseln gleiten mir vom Handgelenk. Unmöglich! Und doch ist es geschehen. Die Tanzenden bemerken es nicht. Was soll ich mit meiner Freiheit? Was nützt ein offener Käfig, wenn man von Raubtieren umgeben ist? Die Sagoblätter, auf denen sie mich servieren werden, liegen schon bereit.
Plötzlich ist der Tanz zu Ende. Die Gesellschaft ist versteinert und regungslos, wie die Masken, die sie tragen. Einer tritt hervor. Heute früh nannte ich ihn noch Freund. Verurteilt vom eigenen Bruder, gejagt von den besten Freunden. Sie würden es nicht bereuen, würden nicht trauern um mich. Auch ich hatte nie getrauert. Wir essen nicht unsere Freunde oder Brüder, wir essen Khakhuas, weil sie uns fressen. Das ist nur gerecht.
Seine Hand umklammert ein knöchernes Messer. Meine Erinnerung kehrt zurück. Der Mann durchbohrte heute schon einmal mein Herz. Diesmal kann ich es verhindern. Meine befreiten Hände fliegen nach vorne wie zwei freigelassene Vögel. Ich packe seinen Arm und breche ihm das Handgelenk. Seine Haut ist kalt vom Schweiß. Das Messer fällt zu Boden. Ich hebe es nicht auf, sondern durchbreche den vermeintlichen Bannkreis. Sie haben nicht die Zeit, mir auszuweichen und so werfe ich auch sie zu Boden. Die übrigen verharren, bis ich den Steigbalken zu Boas Baumhaus erreiche. Als ich den Fuß hebe, beginnt das Schreien, das Fluchen. Der Khakhua ist entkommen! Panik bricht aus. Fünf Männer folgen mir. Ich weiß das, ohne mich umzusehen. Sie werden nicht ruhen, bis sie mich erneut ergreifen.
Trittfest erklimme ich den Steigbalken zu Boas Haus. Um was zu tun? Die Männer rasen heran wie die Meeresbrandung. Ich spüre, es ist der einzige Ausweg. Eine Sackgasse zwar, trotzdem klettere ich weiter. Auf halbem Weg nach oben zischt ein Pfeil dicht an mir vorbei. Ich erschrecke nicht, aber ich sollte tot sein. Wir verfehlen unser Ziel niemals. Und ich bin ein leichtes Ziel, das keine Haken schlagen oder fliegen kann.
Ich sollte tot sein. Vielleicht bin ich es auch. Meine Haut ist kalt wie Fels, mein durchbohrtes Herz pumpt nur noch Schmerzen durch meinen Körper, als bestünde mein Blut aus winzigen Knochensplittern. Doch aus irgendeinem Grund lebe ich.
Fast ganz oben werfe ich einen letzten Blick über die Schulter und erblicke die Schatten einiger Kinder, die neugierig zu mir herüberblicken. Sie dürfen nicht am Mahl teilnehmen und müssen zuhause bleiben. Das Haus meiner Familie haben sie bereits abgetragen, damit ich mich nach dem Tod nicht einnisten kann. So absurd! Musste es erst so weit kommen, um zu begreifen, wie absurd das alles ist?
Boa erwartet mich mit verschränkten Armen und wissendem Blick. Um seinen Hals hängt aufwendig geschnitzter Knochenschmuck. Ein dunkler, krauser Vollbart bedeckt sein Gesicht, darüber weiße Linien, als hätte sich eine bemalte Spinne auf sein Gesicht gesetzt. Sein wildes schwarzes Haar zähmt ein geflochtenes Stirnband, auf dessen Vorderseite ein Vogel mit rotschwarzem Gefieder derart befestigt ist, als wäre er im Sturzflug erstarrt.
»Du hast es geschafft«, sagt er.
Ich lache zynisch.
»Du hast es geschafft«, wiederholt er. »Du bist ihnen entkommen. Nicht viele Khakhuas schaffen das. Dabei haben sie sich dieses Mal richtig Mühe gegeben. Haben nicht nur dein Herz durchbohrt, sondern dich niedergeschlagen und gefesselt, um dich in diesem Ritual zu erlegen.«
Ich glaube es noch immer nicht. Aber aus Boas Mund klingt es irgendwie … wahrer.
»Du kennst deine Verfolger«, fährt er fort, bevor ich etwas erwidern kann. »Sie wären längst hier. Nein, du wärst nicht einmal so weit hochgekommen, um mein Gesicht zu sehen. Der Pfeil hat dich verfehlt, weil er dich verfehlen musste.«
Woher weiß er von dem Pfeil? Wie zur Antwort tritt er zur Seite und ich sehe, was er mit dem einströmenden Dampf macht – sehe es, und doch verstehe ich nichts. Da sind diese Knochen. Zusammengebunden und ineinander verkeilt wie achtlos aufgeworfene Äste, befestigt an drei Seilen schweben sie über dem Loch. Er hat manchmal von diesen Knochen erzählt. Mit so einem irren Glänzen in den Augen. Meinte, sie würden einst die Welt verändern. Ich selbst habe sie die wenigen Male, in denen ich nachts unterwegs war, auch gesehen. Halb vergraben wie Würmer, die es nicht rechtzeitig ins Erdreich geschafft haben, und blass leuchtend, als würfen sie das Mondlicht zurück. Ich ließ sie liegen, erfüllen sie doch keinen ersichtlichen Zweck. Jeder Versuch, sie sinnvoll zu bearbeiten, schlug fehl. Boa aber scheint geschafft zu haben, was uns allen misslungen ist. Das Knochengebilde vor mir saugt den aufsteigenden Dampf der Quelle in sich auf und gibt nichts davon wieder preis. Das Innere flirrt in rastloser Unruhe. Sehr heiß scheint es dort zu sein und die Knochen bewegen sich wie von einem eigenen Willen getrieben.
»Ich sehe dein Erstaunen«, stellt Boa mit Stolz fest. »Und du staunst zurecht, obwohl du dich wahrscheinlich wunderst, was es ist.«
Ich nicke nur, mein Blick fixiert die scheinbar lebendigen Knochen.
»Die Knochen sind nicht von unserer Welt. Sie kommen aus dem Reich der Geister und sie sind mit ihnen verbunden. Sie zerfallen nämlich schnell zu Asche, wenn man sie dem heißen Dampf aussetzt. Ich denke, sie gleicht jener, die Khakhuas in ihre Opfer streuen. Ich werde es herausfinden – mit der Hilfe von dir und deinesgleichen. Zwei Tagesmärsche von hier liegt eine Höhle hinter einem Wasserfall versteckt. Ich musste tauchen, tief hinein, bis meine Lungen brannten. Dort liegen die Knochen. Tausende von ihnen, als würden sie sich vermehren. Ihr fahles Schimmern wies mir den Weg hinein in die absolute Dunkelheit, geleitete mich immer weiter in den Berg, bis ich schließlich eine Höhle unvorstellbaren Ausmaßes erreichte. Zunächst glaubte ich, mich wieder an der Oberfläche zu befinden, dass ich den Berg durchquert hätte. Doch bald erkannte ich meinen Irrtum. Die Höhle war von den Knochen erleuchtet wie unser Dorf bei Vollmond. Dort fand ich noch mehr: Eine neue Art.«
Boas Handbewegung lässt mich endlich den Blick von dem Knochengebilde lösen und eine unsichtbare Last fällt mir von den Schultern. Ich fühle mich leicht und unbeschwert. Seine Hände streichen über den Schmuck an seiner Brust und packen einen lebenden Nachtfalter, der meinen Blick fesselt. Wenn es einen Gebieter unter den Nachtfaltern gibt, so ist es dieser. Reich an Farben und doch nicht bunt, anmutig und schön, sondern gespenstisch blass. Lebend, dachte ich zunächst, jetzt erkenne ich den dünn gearbeiteten Knochen, auf den er gespießt wurde. Trotzdem schlägt er mit den Flügeln. Boa … mit welchen Mächten gibst du dich ab? Ach, wäre ich nur heute im Fluss ertrunken oder an dem Pfeil gestorben, dieser Wahnsinn wäre mir erspart geblieben.
»Zunächst dachte ich, sie werden vom Schein der Knochen angezogen«, fährt Boa mit dem flügelschlagenden Falter in der Hand fort. »Doch ist es genau umgekehrt. Sie erst verleihen den Knochen ihre Lumineszenz. Dienen sie den Tieren als Nahrung? Als Brutplatz?« Boa zuckte mit den Schultern. »Eines aber weiß ich: Sie könnten der Schlüssel zu ihren letzten Geheimnissen sein. Deshalb werde ich bei ihnen in den Höhlen meine Forschungen fortsetzen. Und darum will ich von jetzt an diesen Nachtfalter als mein Zeichen tragen. « Boa weist mit einer ausladenden Handbewegung auf das Knochengebilde. »Der heiße Dampf verleiht den Knochen eine Kraft, viel stärker und ganz anders als die von Feuer. Hier in meiner Hütte habe ich diese Kraft gebündelt, um Khakhuas aufzustöbern und an mich zu binden. Ich kann mit ihnen verfahren, wie ich will. Sie folgen meinem Willen. Gemeinsam werden wir die Welt gestalten. Wir werden das entscheidende Gewicht sein, um Gut und Böse aus dem ewigen Lot zu bringen. Wenn unser Stamm vergessen ist, wenn Generationen, die noch kommen werden, längst zu Staub zerfallen sind, wird das Zeichen des Nachtfalters weiter Bestand haben.«
Es reicht! Nichts wie weg hier. Wenn ich schon dem Ende geweiht bin, dann wähle ich den sauberen Tod durch ein Knochenmesser. Um Boas Verstand ist es geschehen. Wie konnten wir das bisher nicht sehen? Ich wende mich ab, schenke ihm nicht weiter Beachtung. Da erst sehe ich die Knochen an den Wänden seines Hauses. Nicht diese unheilvollen, leuchtenden. Aufgefädelt auf einer Schnur