Gekrönt oder gehörnt: Mit Gott und Menschen durch die Coronakrise
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About this ebook
Marcel Dietler
Marcel Dietler, geboren 1937, ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Er studierte Theologie in Bern und Basel, in Basel bei Karl Barth. Er war evangelischer Pfarrer in der Schweizer Kirche London. Nach der Rückkehr in die Schweiz wirkte er zuerst in der Kirchgemeinde Nidau bei Biel und schliesslich bis zum Eintritt in den Ruhestand in der Kirchgemeinde Johannes in Bern. Als Pfarrer der Swiss Church in London kam Marcel Dietler in Berührung mit der charismatischen Erneuerung. Die charismatische Erneuerung hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Anliegen der Pfingstkirchen theologisch aufzuarbeiten und in die traditionellen Kirchen einzubringen. In diesem Zusammenhang wurde er Mitglied des Internationalen Rats für Evangelisation, Einheit und Erneuerung der Kirchen und war 1982-1990 Vorsitzender der europäischen Unterabteilung.
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Book preview
Gekrönt oder gehörnt - Marcel Dietler
Widmung
Ich widme dieses Buch allen Nachbarinnen und Nachbarn in der Seniorenresidenz Abendruh, die in Wirklichkeit anders heisst. Die Widmung gilt sowohl den offen netten als auch den heimlich netten Mitbewohnern. Ich widme es aber auch den in meinen Augen eher unheimlich netten Nachbarinnen und Nachbarn. Mit Namen möchte ich ausdrücklich diejenigen erwähnen, die in der Coronakrise meinem Aufruf gefolgt sind und mutig auf den Balkonen bzw. auf den Laubengängen gegen den Corona-Koller gesungen und gebetet haben:
meine Frau Vreni Dietler
Daniela Rubin und Roland Giger
Verena und Walter Bieri
Ruedi Rytz
Marlene und Jack Good
Marianne Blanc und Ernst Meyer
Silvia und Martin Arn
Ruth Läderach
Das sind die mutigen Dreizehn der ersten Stunde. Andere sind später dazugestossen oder haben ab und zu mitgemacht. Auch ihnen sei herzlich gedankt.
Corona heisst auf Deutsch Krone. Der Titel meines Buches Gekrönt oder gehörnt – mit Gott und Menschen durch die Coronakrise drückt aus, dass jede Krise in den Menschen die Krone oder die Hörner hervorbringen kann. Die eindrückliche Hilfsbereitschaft junger Menschen, welche für Seniorinnen und Senioren die Einkäufe besorgen, ist die Krone; die leeren Regale in den Einkaufszentren und die Schlachten um Klopapier sind die Hörner.
Inhalt
So hatten wir uns das nicht vorgestellt
Die Coronakrise erreicht auch uns
Eigentlich
Ein Gebet zum Schmunzeln
Monsieur Bonnenouvelle und seine Brüder
Der Corona-Seniorenkrimi aus Ramseyersberg
Von Raben und anderen seltsamen Vögeln
Karfreitag 2020
Angefangen hat es mit Köbeli
Türen
Ostern
Der Priester
Der Wurzelbaum
Gespräch mit einem Baum
Angst
Aus Essig Wein machen
Ballade von dem dummen Kind
Ein Corona-Briefwechsel
Entzugsschmerzen
Ds blaue Bähnli
Die Kuh
Stille Nacht, heilige Nacht und andere Marschlieder
Die Coronazeit ist eine apokalyptische Zeit
Das Aufgebot
Eveline und Adam
Nachwort
Brautkleid der Göttin Brautkleid der Erde
Es war einmal
Es war einmal eine Nase – ein Märchen des Apostels Paulus
Der Weihnachtskaktus
Die tägliche Corona-Apokalypse
Bund vom 16. April 2020
Weitere Schreckensmitteilungen
Der Mann zwischen dem Tiger und der Riesenschlange
Der Brunnen ist tief.
Exit
Perle in der Muschel
Katharinas Heimgang
Adieu Doris
17. April
Hände nicht schütteln
Von Schlangen und anderen Tieren
Bier und Gebet, Blumen und Missgunst
Ein lustiger Briefwechsel
Ein trauriger Brief– Ramseyers wey ga grase und andere Gebete
Andere Gebete
Morgengebete
Ein Abendgebet
Tischgebete
Unter den Schleier geblickt
Heureka
Jüdische Weisheit zur Beendigung des Lockdown und zur Rückkehr in eine neue Normalität
Die neue Normalität
Gespräch mit dem Schöpfer des Universums
So hatten wir uns das nicht vorgestellt
In China hatte es angefangen. Wir hatten die Schweizerinnen und Schweizer bedauert, welche in China arbeiteten oder studierten, und waren froh, als diese endlich ins «sichere» Europa geflogen werden konnten. Das sichere Europa – von wegen. Zuerst dachten wir, das Virus könne uns höchstens streifen, es sei so etwas wie eine normale Grippe, die in der wärmeren Jahreszeit ohnehin wieder verschwinden werde. «Wir sind gut vorbereitet», teilte uns der Gesundheitsminister mit, «waschen Sie die Hände und grüssen Sie einander nicht mit Händeschütteln.» Das war geradezu lustig. Wir stiessen einander beim Gruss mit den Ellbogen oder mit den Füssen an. Als die Blocher-Tochter Magdalena Martullo mit Gesichtsmaske im Nationalrat erschien, wurde sie im ganzen Land als Globinase verlacht. Wir lachten auch noch, als man sich beim Besuch eines Konzerts, eines Museums oder eines Gottesdienstes mit Namen eintragen musste. Aber das Lachen verging allen, als wir an keine öffentlichen Veranstaltungen mehr gehen konnten und die Geschäfte geschlossen wurden. Auch als Gottesdienstbesucher war man betroffen. Ostern mit geschlossenen Kirchen, ohne gottesdienstliche Gemeinde, das hatte es in den zweitausend Jahren der Geschichte der Christenheit noch nie gegeben.
Die Krise setzte Kräfte frei und machte viele Menschen kreativ. Junge halfen alten Menschen, die für die Einkäufe Haus und Wohnung nicht verlassen durften; auf den Balkonen wurde musiziert und gesungen, unter Anleitung geturnt, die Leute riefen einander Witze zu.
Ich bin pensionierter Pfarrer, der auch im hohen Alter die Leidenschaft für Gott und Menschen nicht verloren hat. In der Abendruh, die ganz anders heisst, rief ich zu einem allsonntäglichen Vaterunser und zu Gesang vor den Haustüren auf den Laubengängen auf. Dieser Aufruf war der Beginn des Seniorenkrimis.
Mein Buch enthält Gedanken, die mir während der Coronakrise geschenkt wurden. Ich habe sie niedergeschrieben und per Mail und per Post versandt. Sie haben grosse Verbreitung gefunden. Ich habe Meldung von einem alten blinden Priester erhalten, dem sie vorgelesen wurden. Sie sind in Klöstern und Asylzentren bekannt geworden. Leute, die ich kenne oder auch nicht kenne, haben sie anderen in die Briefkästen gesteckt. Diese Gedanken sind in dem vorliegenden Buch zu finden. Das Buch enthält aber auch Kurzgeschichten, Gedichte und Gebete der letzten drei Jahre. Nicht alles sind brave Pfarrergeschichten. Es ist einiges dabei, was in der Schweiz als Schreckmümpfeli bezeichnet wird. Ich kann das Pfarrer-Sein nicht lassen. Aus den Schreckmümpfelis haben sich Glaubensgespräche entwickelt mit Menschen, die selten oder nie über den Glauben sprechen.
Die Coronakrise erreicht auch uns
Eigentlich
Eigentlich hatten wir etwas anderes vor
als zu Hause zu sitzen
Eigentlich wollten wir morgen
zum Coiffeur
zum Coop
ins Seniorenturnen
die Grosskinder besuchen
ins Museum
ins Yoga
schwimmen gehen
das GA ausnützen
im Krafttraining die Muskeln stärken
am Bett eines sterbenden Freundes sitzen
Eigentlich hatten wir im nächsten Monat
eine Reise in die holländischen Tulpenfelder geplant
die Tochter in den Vereinigten Staaten besuchen wollen
uns auf die Hochzeit des Patenkindes gefreut
einen Termin für eine Operation gehabt
zugesagt für ein Klassentreffen
meinen runden Geburtstag feiern wollen
Eigentlich habe ich seit der Konfirmation nie mehr in der Bibel gelesen. Doch in der Corona-Quarantäne hat man Zeit. Ich habe im Bücherregal herumgestöbert und die Traubibel entdeckt. Ich habe sie entstaubt, darin geblättert und folgenden Vers gefunden:
Wohlan, die ihr sagt:
Heute oder morgen
wollen wir in die und die Stadt ziehen
und Handel treiben.
Anstatt dass ihr sagtet:
Wenn der Herr will und wir leben,
wollen wir dieses oder jenes tun. (Jak. 4,13)
Eigentlich gar nicht so schlecht, diese Bibel.
Wer ist der Pfarrer, der so etwas schreibt? Klar ist jedenfalls, dass sein Ich sich nicht mit dem Ich des Menschen in diesem Gedicht deckt. Er hat die Bibel nicht entstauben müssen, er arbeitet beständig mit ihr.
Um den Autor dieses Gedichts und des ganzen Buchs besser kennen zu lernen, dürfen die Leserinnen und Leser sich zu zwanzig Punkten Gedanken machen. Sechzehn Punkte sind wahr, vier sind falsch. Wer findet die vier falschen Aussagen?
An seinem zwanzigsten Geburtstag wurde Marcel Dietler von Papst Pius gesegnet.
Er gewann an einem Wettbewerb eine lebendige Kuh.
Er rast selbst im hohen Alter mit einem Rennvelo durch die Gegend.
Er predigte im Petersdom.
Er arbeitete mit Passfälschern zusammen.
Er wurde mit der englischen Königin verwechselt.
Er wurde zusammen mit seiner Frau in Nigeria als fremder Söldner verhaftet.
Er arbeitete eng mit dem Beichtvater des Papstes zusammen.
Vreni und Marcel verloren einen Pflegesohn, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.
Er spielt gerne Klavier.
Er flog in der Sowjetunion als Bibelschmuggler auf.
Er wurde für seine soziale Arbeit unter Strassenkindern von der peruanischen Stadt Cusco mit einer Rede des Bürgermeisters, mit dem Aufzug der Fahne und mit Kanonendonner geehrt.
Er wurde vom Synodalrat bei allen seinen Tätigkeiten vollumfänglich unterstützt.
Die Feier zur silbernen Hochzeit von Vreni und Marcel Dietler wurde von einem anglikanischen Bischof gestaltet, der für die beiden anschliessend eigenhändig das Festessen kochte.
Er erhielt für seine Aktion Mut gegen die Coronakrise durch briefliche Abstimmung von der Mehrheit seiner Nachbarn ein Briefkastenverbot für seine diesbezüglichen Einladungen.
Sein liebstes Hobby ist Jassen.
Er verwehrte auf den Kanarischen Inseln einem Touristenschiff das Auslaufen.
Vreni und Marcel verhinderten in Singapur einen Überfall auf ein Geschäft.
Er schenkte Papst Franziskus eine Konfitüre.
Er stoppte den Mailandexpress auf voller Fahrt.
Die Auflösung:
3, 4, 10 und 16 stimmen nicht. Ich habe kein Rennvelo, jasse nicht, spiele kein Musikinstrument und habe nie im Petersdom gepredigt. Alles andere stimmt. Sogar 6, die Verwechslung mit der englischen Königin, ist wahr. Ich war zu einem Gottesdienst mit der Queen in der Westminster Abbey eingeladen worden. Der Gottesdienst dauerte sehr lange. Ich wurde zu einer wichtigen Tätigkeit erwartet. Als die Königin nicht mehr zu sehen war, nahm ich die Gelegenheit wahr und eilte zum Ausgangsportal. Zu meiner Verblüffung war dieses verschlossen. Der Wächter öffnete jedoch bereitwillig das Portal. Ich wurde von Tausenden von Menschen mit Jubel empfangen: «Es lebe die Königin!» Der Jubel verstummte jedoch so schnell wie er gekommen war. Und in der eingetretenen Stille hörte man eine Schweizer Stimme rufen: «Das isch ja nume üse Pfarrer.»
Ein Gebet zum Schmunzeln
Ich bin zu meinem himmlischen Vater gegangen und habe zu ihm gesagt:
Vater, ich habe Mordgedanken.
Gott hat verständnisvoll genickt,
aber gesagt:
Kind, für das bisschen,
das dir deine Brüder und Schwestern angetan haben,
werde ich sie nicht töten.
Du musst dich
mit zwei Wochen Durchfall zufriedengeben,
damit sie das Klopapier aufbrauchen,
das sie gehamstert haben.
Was bin ich für ein Mensch, dass ich ein solches Gedicht geschrieben habe? Oder ist es sogar ein Gebet? Was habe ich mit meinen Brüdern erlebt? Wer sind die Brüder und Schwestern, an die ich denke? Wer das wissen will, darf den Corona-Seniorenkrimi aus Ramseyersberg lesen.
Monsieur Bonnenouvelle und seine Brüder
Der Corona-Seniorenkrimi aus Ramseyersberg
¹
Wir – Gabi Leuenberger, Leon Bütikofer und Liam Kradolfer – sind drei Gymnasiasten, die eine Matura-Arbeit über das Verhalten von Seniorinnen und Senioren in der Coronakrise schreiben. Als erstes hatten wir uns vorgenommen, Monsieur Bonnenouvelle zu interviewen. Marc Bonnenouvelle ist reformierter Pfarrer im Ruhestand. Er hat erst im Alter von zweiundachtzig Jahren angefangen, Bücher zu schreiben. Seine Bücher sind im Verlag Books on Demand erschienen. Näheres über die Person und die Bücher von Marc Bonnenouvelle finden Sie auf der Website
www.marceldietler.ch.
Wir trafen Monsieur Bonnenouvelle am offenen Küchenfenster, in zwei Metern Distanz. Der Geschichtenerzähler hatte uns wegen der Coronakrise nicht in die Wohnung gebeten. Er stellte jedoch lachend eine Flasche Coronabier auf das Fensterbrett, sodass wir einander zuprosten konnten. Wir hatten bei Marc Bonnenouvelle vorgesprochen, weil wir gehört hatten, dass in der Alterssiedlung Abendruh in Ramseyersberg, die mit dem Spital Gihon verbunden ist, am Sonntag zur Gottesdienstzeit Nachbarn auf die Veranda treten, eine Liedstrophe singen, das Vaterunser sprechen, gemeinsam die Alterssiedlung und das Krankenhaus segnen und am Schluss mit Händeklatschen den Angestellten im Spital für ihren Einsatz danken würden.
«Eine Art Gottesdienst?», fragten wir.
«Ja, gewiss, wenn man ein Event von drei Minuten Gottesdienst nennen kann; zudem ein Gottesdienst, der es selbst Kirchenfernen ermöglichen sollte, an diesem Mutzuspruch gegen Corona teilzunehmen. Alle Menschen reiferen Alters kennen ja schliesslich das Vaterunser.»
«Und wie ist es mit der Liedstrophe?