Maria oder Fatima: Erzählung aus "Auf fremden Pfaden", Band 23 der Gesammelten Werke
Von Karl May
Beschreibung
"Maria oder Fatima" ist eine Kurzgeschichte. Sie wurde bereits in "Auf fremden Pfaden" (Band 23 der Gesammelten Werke) veröffentlicht.
Über den Autor
Karl May (1842-1912) war ein deutscher Schriftsteller, der vor allem durch seine Abenteuerromane bekannt wurde, die in der ganzen Welt spielen. Er begeistert bis heute Groß und Klein.
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Buchvorschau
Maria oder Fatima - Karl May
KARL MAY
MARIA ODER FATIMA
REISEERZÄHLUNG AUS DEM ORIENT
Aus
KARL MAYS
GESAMMELTE WERKE
BAND 23
„AUF FREMDEN PFADEN"
© Karl-May-Verlag
eISBN 978-3-7802-1313-6
KARL-MAY-VERLAG
BAMBERG • RADEBEUL
Inhalt
MARIA ODER FATIMA
MARIA ODER FATIMA
Wir, nämlich ich und mein treuer, langjähriger Begleiter, Hadschi Halef Omar, hatten die zwischen dem Kaspischen Meer und dem Urmia-See liegende Gegend durchstreift und waren dann über die türkische Grenze nach Rowandis gekommen, um von da aus in gerader Richtung nach Amadije zu reiten. Heute befanden wir uns im östlichen Teil des Tura-Ghara-Gebirges[1] und hielten auf einer kahlen Höhe, von der aus wir die Sonne untergehen sahen. Es war ziemlich kalt, denn wir befanden uns im Anfang Oktober, der zwischen jenen düsteren, wald- und wasserreichen Bergen rau aufzutreten pflegt.
Es hat bis heute[2] wenige Europäer gegeben, von denen man sagen kann, dass sie den Mut besaßen, bis zu dem Tura-Ghara-Gebirge vorzudringen. Die Kurden, die es bewohnen, sind die bigottesten Muhammedaner, die man sich denken kann, räuberisch gegen jedermann und grausam gegen Andersgläubige. Wir beide jedoch waren wohlbewaffnet, hatten Erfahrung genug, und da ich ihrer Sprache in den zwei Hauptdialekten mächtig war, durften wir hoffen, heiler Haut davonzukommen.
Die Sonne hatte den Gipfel des gegenüberliegenden Berges erreicht und senkte ihre Strahlenaureole langsam hinab, den Himmel mit glühenden Scheidegrüßen überzuckend. Es war ein Anblick, der zum Gebet stimmte. Ich dachte an das Ave-Läuten der Heimat und faltete die Hände. Halef tat dasselbe, er, der, als ich ihn kennenlernte, ein so strenger Muslim gewesen war und sich alle Mühe gegeben hatte, mich zu seinem Glauben zu bekehren.
Da klang aus der Tiefe ein Ton, der mich erstaunt aufhorchen ließ. Es war die leise, aber doch vernehmbare Silberstimme eines Glöckchens, und kaum ließ sie sich vernehmen, so hörten wir in unserer Nähe eine andere, lautere Stimme:
„Salâm iâ Marjam malânet et taufîk!"
Dies heißt zu Deutsch: „Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade!"
Das war ja der Anfang des Ave Maria, des englischen Grußes, an den ich soeben gedacht hatte! Er wurde in arabischer Sprache vollständig gebetet, bis es zum dritten Mal erklang: „Hallak wa fi Sa’at el motina – jetzt und in der Stunde unseres Todes!"
Ich möchte fast sagen: Ich war starr vor Überraschung. Dieses christliche Gebet hier, wo ich ausschließlich Muhammedaner wusste, und dazu in einer arabischen Mundart, die von anderwärts stammte! Meinem wackeren Halef erging es ebenso. Er sagte, als der Beter geendet hatte:
„Hast du es gehört, Sihdi? Das war das Gebet der heiligen Jungfrau. Das ist ein Wunder hier! Wer mag es gesprochen haben?"
„Werden es gleich erfahren", antwortete ich, während ich meinen Rapphengst nach der Gegend lenkte, in der die Stimme erklungen war. Dort war ein großer Felsblock. Auf der nach Westen gerichteten Seite, sodass er den Sonnenuntergang hatte sehen können, kniete der Beter, ein ärmlich gekleideter Greis, den Rosenkranz noch immer in den gefalteten Händen. Sein Anzug bestand aus einem kurzen Hemd und einer Hose, beides aus dünner, blauer Leinwand; die Füße waren nackt und auch der Kopf hatte keine Bedeckung. Das silberweiße Haar hing ihm lang über den Nacken herab, und von derselben ehrwürdigen Farbe war auch der Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Als er mich und Halef sah, sprang er erschrocken auf, so schnell es ihm sein hohes