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Das letzte rote Jahr
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Das letzte rote Jahr

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About this ebook

Miša, Rita und Slavka sind Freundinnen, seit sie denken können. Sie alle wohnen in einem Haus in der Stadt Žilina: die Ich-Erzählerin Miša, 14 Jahre alt, zusammen mit ihrem älteren Bruder Alan und ihren Eltern, die gleichaltrige Rita in der Wohnung darüber, Slavka in der Wohnung darunter. Sie vertrauen sich Geheimnisse an, sprechen über ihre ersten Liebschaften. Dabei könnten sie unterschiedlicher kaum sein: Rita ist überzeugte Pionierin, umso unerhörter erscheint es den Freundinnen, dass gerade Ritas Eltern hinter vorgehaltener Hand über eine Flucht nach Österreich sprechen. Rita ist empört, sie will nicht enden wie Slavka, deren Vater sich bereits vor zehn Jahren nach Schweden abgesetzt hat. Slavka interessiert sich wenig für Politik, dafür umso mehr für den neuen Geschichtslehrer, Genosse Baník, und für die Gymnastik, ihre große Leidenschaft. Miša ist die Sensibelste der drei, ihre erste und (vorerst) einzige Liebe gilt der Literatur, was so recht niemand nachvollziehen kann, am wenigsten ihr Vater. Miša bewundert ihre Freundinnen, Rita für ihre Willenskraft, Slavka für ihre Disziplin, sie hat das Gefühl, das Leben würde immer so weitergehen – das Gegenteil ist der Fall: Denn wir schreiben das Jahr 1989, und nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Drei Freundinnen und ihre Familien erleben das Jahr vor dem Untergang des sozialistischen Regimes in der Slowakei: Opportunismus oder Rebellion, Anpassung oder Auflehnung – die Mädchen an der Schwelle zum Erwachsensein, aber auch die Eltern, begegnen dem sinkenden Stern des Sozialismus jeder auf seine Weise.

Einfühlsam, in einer klaren, eleganten Sprache erkundet Susanne Gregor die Außen- und Innenwelten der drei jungen Freundinnen, lässt große Umwälzungen anhand von kleinen Verschiebungen greifbar werden und führt den Leser an sicherer Hand durch die Jahreszeiten des Jahres 1989: Es ist "Das letzte rote Jahr".
LanguageDeutsch
Release dateAug 30, 2019
ISBN9783627022730
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    Das letzte rote Jahr - Susanne Gregor

    Miša, Rita und Slavka sind Freundinnen, seit sie denken können. Sie wohnen in einem Haus in der slowakischen Stadt Žilina: Ich-Erzählerin Miša in der Mitte, Rita in der Wohnung darüber, Slavka in der Wohnung darunter. Sie vertrauen sich Geheimnisse an, sprechen über ihre ersten Liebschaften. Dabei könnten sie unterschiedlicher kaum sein: Rita ist überzeugte Pionierin, umso unerhörter scheint es, dass gerade Ritas Eltern heimlich über eine Flucht nach Österreich sprechen. Slavka, deren Vater sich bereits nach Schweden abgesetzt hat, interessiert sich wenig für Politik, dafür umso mehr für den jungen Geschichtslehrer und für die Gymnastik, ihre große Leidenschaft. Miša ist die Sensibelste der drei, ihre vorerst einzige Liebe gilt der Literatur. Das Leben könnte immer so weitergehen – doch das Gegenteil ist der Fall.

    Opportunismus oder Rebellion, Anpassung oder Auflehnung – gemeinsam, und doch jeder für sich erleben die drei Freundinnen und ihre Familien das Jahr vor dem Untergang des sozialistischen Regimes. Einfühlsam, in einer klaren, eleganten Sprache lässt Susanne Gregor große Umwälzungen anhand von kleinen Verschiebungen greifbar werden und führt den Leser an sicherer Hand durch die Jahreszeiten des Jahres 1989: »Das letzte rote Jahr«.

    Susanne Gregor: Das letzte rote JahrVerlagslogo

    Inhalt

    Prolog

    1989

    Frühling

    Sommer

    Herbst

    Winter

    Für Vater

    Als ich Rita im Fernsehen sah, blieb mir die Luft weg. Ich war gerade von der Bibliothek nach Hause gekommen, einen Stapel Bücher in der Hand, und hatte automatisch den Fernseher eingeschaltet, dann das Fenster geöffnet. Meine Füße taten weh, den halben Tag hatte ich damit verbracht, in einem Wiener Café Touristen zu bedienen, und während ich mich bückte, um mir die Schuhe auszuziehen, hörte ich ihre Stimme, unverkennbar. Doch als ich mich aufrichtete, war sie nicht im Bild. Es war eine billige, schlecht gemachte Seifenoper über ein paar junge Leute in Berlin, die sich ständig stritten und gelegentlich ohrfeigten oder entführt wurden. Ich sah zwei junge Frauen in einer Bar über einen Mann sprechen, einen Freddy oder Ferdy, der Sinn entging mir, als ich im Hintergrund Rita entdeckte, mit einer schiefen Kurzhaarfrisur, die Fläche über ihrem linken Ohr kahl rasiert. Sie trug eine schwarze Bluse und polierte mit einem weißen Geschirrtuch ein Weinglas, bevor die Kamera eine andere Einstellung übernahm und sie aus dem Bild verschwand. Ich setzte mich langsam auf das Bett, ohne meine Winterjacke auszuziehen, und drehte lauter. Einmal kam sie noch zu Wort, als sie sich in das Gespräch der jungen Frauen mischte, mit dem Satz Das geht aufs Haus und einem halben Lächeln, bevor die Frauen die Bar verließen und eine neue Szene in den Straßen Berlins begann. Ich blieb mit dem Bild einer erwachsenen Rita zurück und ihren mühelos auf Deutsch gesprochenen Worten: Das geht aufs Haus. Ich versuchte, sie mir wieder vorzustellen, ihr kurzes schwarzes Haar, das ihr über ein Auge fiel, die violett geschminkten Lippen, die schwarze Bluse, leicht aufgeknöpft, ihre Bewegungen so selbstverständlich wie früher, als gehöre sie immer genau dorthin, wo sie gerade war. Die Erinnerung an sie irritierte mich, wühlte etwas in mir auf, ich ärgerte mich über sie, ohne genau zu wissen, warum. Natürlich war sie im Fernsehen, dachte ich, und natürlich war ich die echte Kellnerin, während sie bloß eine spielte. Ich sah die ganze Folge zu Ende, ohne dass Rita noch einmal darin vorkam, und suchte sie dann im Internet, machte sie auf der Setliste der Seifenoper ausfindig, unter einem neuen Familiennamen: Milo, statt Horváthova. Mehr fand ich nicht. Ich rief Alan an, der wie üblich nicht abhob. Als er Tage später zurückrief, hatte ich fast vergessen, was ich eigentlich sagen wollte. Sobald ich Rita erwähnte, schlug seine Stimme sofort um und er wurde zu dem aufgebrachten Teenager von früher. Aufgeregt wiederholte er die alte Leier: der polnische Hippie, den sie ihm plötzlich vorgezogen hatte, ein Kiffer mit verfilzten Haaren, verstehst du, ein kompletter Loser, der nicht einmal Deutsch sprach. Seine Stimme schwoll an und senkte sich immer noch unkontrolliert, sobald ihr Name fiel, besonders, wenn er mit mir sprach, als könnte ich in seinem Namen für Gerechtigkeit sorgen, sollte ich Rita eines Tages wiedersehen. Heute ist sie im Fernsehen, na und, sagte er, morgen heiratet sie oder besteigt den Mount Everest, und nichts davon würde ihr etwas bedeuten, von ihm aus könne sie machen, was sie wolle. Ich legte auf und rief Vater an, der keine Ahnung hatte, wohin Ritas Familie gezogen war. Kurz wandte er sich vom Hörer ab und fragte Mutter, die im Hintergrund mit Geschirr hantierte. Wir wissen nichts, sagte er schließlich, du weißt doch, wie chaotisch am Ende alles war. Auch in Žilina wusste niemand mehr etwas über sie, die wenigen Male, die ich in den letzten Jahren dort gewesen war, hatte ich bloß Gerüchte gehört. Die einen sagten, Ritas Eltern seien in der Schweiz, die anderen korrigierten, sie wüssten sie in Spanien, jemand sprach sogar von Südafrika.

    Ich fand sie erst, als ich aufhörte, sie zu suchen, Jahre später auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung meines Verlages in Wien, zu der ich mich übertrieben leger gekleidet hatte, in schwarzer Hose und schwarzem Top, der einzige Schmuck, zu dem ich mich hatte hinreißen lassen, war eine lange Bernsteinkette. Mit Hose und Kurzhaarfrisur fühlte ich mich zwischen den Cocktailkleidern der übrigen Frauen besonders unkonventionell, während ich mit Kolleginnen an der Bar Wodka Orange trank, als ich sie an einem der weiß gedeckten Tische sitzen sah, in tiefschwarzem Abendkleid und mit eleganter Hochsteckfrisur. Sie sah mich im gleichen Augenblick, in dem ich sie erkannte, und ich weiß nicht, was mich in dem Moment mehr erschreckte: wie wenig sich ihr Gesicht verändert hatte, wie verloren sie an dem leeren Tisch aussah oder der immer gleiche, ernste Blick, der schnell über meinen Körper flog. Und obwohl Jahre vergangen waren, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, kehrte das alte Gefühl sofort zurück: dass sie niemand wirklich kannte, dass niemand wusste, wer sie war, nur ich.

    1989

    Frühling

    An ein Leben vor Rita und Slavka kann ich mich nicht erinnern. Obwohl es eine Zeit ohne sie gegeben hat, wie mir erzählt wurde, in der ich bloß Miša war und Rita bloß Rita und Slavka bloß Slavka. Doch von dem Moment an, in dem wir die Vierzimmerwohnung im Bezirk Vlčince bezogen, weil mein Vater eine neue Stelle bei Tesla in Žilina antreten sollte, wurden wir zu Miša, Rita und Slavka. Das Einzige, was uns trennte, war eine Treppe: ein paar Stufen hinauf zu Rita, ein paar Stufen hinab zu Slavka. Wenn es still war, erkannte ich die beiden an ihren Schritten: Rita nahm die Stufen im Laufschritt, begleitet vom klackernden Geräusch ihrer Hausschuhe. An der Tür blieb es eine Weile still, bevor sie leise klopfte, und in ihren Augen lag dann stets der eine, dunkle, ernste Blick, als gäbe es etwas Wichtiges zu besprechen. Slavkas Schritte waren langsamer, mit ihren langen Beinen nahm sie zwei Stufen auf einmal, klopfte viel lauter, und sobald sie mein Zimmer betrat, ließ sie sich auf den Teppichboden fallen. Ihr langes blondes Haar umrahmte ihr Gesicht, das alle immer für ausnehmend schön befanden und an dem die Erwachsenen die »slawischen Wangenknochen« bewunderten, was mich und Rita irritierte, weil wir nicht verstanden, was slawische Wangenknochen überhaupt sein sollten. Rita und ich, mindestens einen halben Kopf kleiner als Slavka, fielen durch andere Dinge auf: Rita durch die Kombination aus schwarzem Haar und Sommersprossen und ihren weichen, molligen Körper, ich wiederum durch meine jungenhafte Schlaksigkeit und meine blonde Kurzhaarfrisur, die mir Mutter immer schnitt. Wenn Slavka auf meinem Teppich lag, die Arme und Beine von sich gestreckt, und sich mit zur Decke gerichtetem Blick über die Langeweile beschwerte, weil ihr Gymnastiktraining ausfiel, oder über unseren neuen Geschichtslehrer, Genosse Baník, sprach, saß ich auf meinem Schreibtischsessel und kippelte nach hinten, gerade noch das Gleichgewicht haltend, hörte ihr zu und sah ihre Welt in schillernden Farben vor mir, die bunten Anzüge der Turnerinnen, ihre schwingenden Zöpfe oder die stechend grünen Augen des jungen Baník. Slavkas Welt war ein Kaleidoskop aus Glanz und Grazie, während Rita mich meistens grob am Arm packte, weil sie mir etwas erzählen wollte, und mich mit größter Dringlichkeit mitzog, um mir zu zeigen, was sie gefunden hatte, einen Hund, der in unserer Straße herumirrte, einen alten Liebesbrief in der Schublade ihrer Mutter, neue Graffiti in der Unterführung, und immer empörte sie sich über die Menschen und wozu sie fähig seien, sieh mal diese Achtlosigkeit, wer lässt einen Welpen im Stich, wer verunstaltet unsere Stadt. Slavka beeindruckte das nicht, ist ja gut, unterbrach sie sie dann genervt, und Rita wandte sich nur mir zu und redete weiter. Ich wiederum lief atemlos die Treppe zur einen oder anderen, um über einen der Romane zu sprechen, die wir für die Schule lesen mussten, und meine Eindrücke mit ihren zu vergleichen, die sich nie deckten. Aufgeregt las ich ihnen ein paar Zeilen daraus vor, einen Gedanken, den ich weltbewegend fand, nur um festzustellen, dass die beiden darin nichts Interessantes entdecken konnten, als hätten sie nicht das gleiche Buch gelesen. Unabhängig voneinander fühlten wir aber alle drei, dass unsere Freundschaft kein Zufall war, sondern es das Schicksal gewesen sein muss, das uns zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammengebracht hatte. Diese Überzeugung hatten wir von unseren Eltern übernommen, die beim Einzug ins neu gebaute Wohnhaus entzückt festgestellt hatten, dass wir drei im selben Alter waren, und es mit großer Begeisterung als göttliche Fügung bezeichneten, ohne dass auch nur einer von ihnen tatsächlich an Gott und Fügungen geglaubt hätte. Sofort wurden wir einander als Freundinnen vorgestellt: Hier ist deine neue Freundin Rita, das ist deine neue Freundin Slavka. Sie waren von unserem Trio hingerissen, und wir ließen uns von ihrer Freude anstecken, sodass wir die Unterschiede, die wir untereinander wahrnahmen, einfach ignorierten. Unsere Freundschaft war beschlossene Sache, und wenn Mutter mich dann bei Slavka abgab, war Rita schon da, und wurde ich bei Rita abgegeben, riefen wir auch Slavka herauf. Unsere Eltern fanden das unglaublich praktisch und dankten einander so lange mit Weinflaschen und Gugelhupf für die Kinderbetreuung, bis es ganz selbstverständlich wurde, dass man uns Mädchen in den Wohnungen der anderen zwei suchte. Brach doch einmal Streit unter uns aus, waren sie bemüht, die Wogen so schnell wie möglich zu glätten, und wir wurden losgeschickt, um uns bei einander zu entschuldigen. Dennoch verging kein Tag, den wir nicht zusammen verbrachten, in einem unserer Zimmer oder draußen zwischen den anderen gleichförmigen Plattenbauten der Siedlung oder auf dem Spielplatz hinter dem Haus, in dem kleinen Labyrinth aus Beton, das man dort für Kinder gebaut hatte. Unsere Welt war der lange staubgraue Wohnblock in der Pieštanská-Straße, Eingang Nummer 5, der erste, zweite und dritte Stock. Dort hatten wir unser Spielzeug geteilt, phasenweise unsere Kleidung und zuletzt die abwehrende Haltung unseren Eltern gegenüber, die abends meistens in unserem Wohnzimmer zusammensaßen, Wein tranken und diskutierten. Wir hörten ihnen zu, während sie sprachen, über die neue Ware im Tuzex, über die alte Ware in den Supermärkten, über das frisch eröffnete Thermalbad und über die letzten Fernsehnachrichten, den Vorschlag einer Annäherung zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO etwa. Michal, Ritas Vater, bezweifelte lauthals, ob dieser tatsächlich aus Prag gekommen war, während er immer wieder aufstand, um sich und anderen Wein nachzuschenken. Rita schüttelte den Kopf, sobald er flammende Reden über die Heucheleien der Regierung hielt und dabei mehr und mehr ins Lallen verfiel. Slavka rollte die Augen, als ihre Mutter mit ihrem ewigen Optimismus dagegenhielt, dass der Vorschlag sehr wohl aus Prag gekommen sein könnte, und ich ärgerte mich über meinen Vater, der mit beschwichtigenden Gesten und vermittelnden Argumenten versuchte, einen Streit zu verhindern, und sich dabei allen Anwesenden merklich überlegen fühlte. Eine Eigenschaft, die er mit meiner Mutter teilte, die sich selten in diese Diskussionen hineinziehen ließ, sondern sie bloß beobachtete, in ihrem Lieblingssessel sitzend, ihren Kopf in die Hand gestützt, die Füße mit den dicken Socken an den Po gezogen. Rita und ich hörten ihren Reden vom Flur aus zu, wo wir uns währenddessen von Slavka ihr neuestes gymnastisches Kunststück zeigen ließen, einen Salto rückwärts. Wir staunten über ihren langen, biegsamen Körper und die präzise Art, mit der sie jede einzelne Bewegung ausführte. Wenn Slavka turnte, blieb die Zeit stehen. Als sie sich schließlich erschöpft zu uns auf den Boden fallen ließ, unterhielt uns Rita mit schockierenden, detailgenauen Erklärungen über das Amputieren von Gliedmaßen, mitsamt Zitaten aus den medizinischen Fachbüchern ihrer Arzteltern. Ich wiederum wollte die beiden überzeugen, dass die Geschichte von Winnetou, die wir gemeinsam im Kino gesehen hatten, in Buchform viel mehr Tiefe habe, während im Film die Kriegsszenen das eigentliche Thema überschatteten: nämlich die Aufhebung der Gegensätze durch Menschlichkeit. Rita fand das faszinierend, während Slavka sich nur ein verwirrtes Halblächeln abrang, sie hielt das für philosophischen Quatsch, ihrer Meinung nach sollte jeder sich selbst der Nächste sein, dann wäre für alle gesorgt.

    Kamen abends einmal nur unsere Mütter zusammen, wurde das Treffen viel gewissenhafter vorbereitet, mit frisch gebackenem Kuchen von Slavkas Mutter oder von meiner Mutter extra vom Tuzex besorgtem argentinischen Wein. Gleich nachdem sie damit nach Hause kam, stellte sie ihn feierlich in den Kühlschrank, noch bevor sie ihre Schuhe auszog, erst dann hängte sie das Jackett ihres Hosenanzugs an den Garderobenhaken, warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, zupfte ihre kurzen dauergewellten Haare zurecht und strich ihre Bluse glatt. Sie hatte sich nie mit den hässlichen karierten Röcken abgefunden, die es in den Läden gab, sondern kopierte die Kleidung aus den ausländischen Magazinen, nähte sie einfach selbst. Nicht einmal die Ware von Tuzex entsprach ihrem Geschmack, obwohl die Sachen aus dem Westen kamen und schwer zu bekommen waren. Für die Fremdwährungsbons, mit denen man dort bezahlte, musste Vater extra in die Fußgängerzone, um den jungen Mann mit krausem Haar und Akne aufzusuchen, kurz: Pickelgesicht genannt. Pickelgesicht war verlässlich, er verkaufte keine Fälschungen, und Mutter hatte seinen Bons die schultergepolsterten Blusen und ihre echte Jeans, Marke Rifle, zu verdanken, die aber auch erst von ihr umgenäht und angepasst werden musste. Genauso wie ihre Frisur, die sie nach jedem Salonbesuch noch mit unserer Küchenschere selbst fertig schnitt, vor dem Spiegel, kopfschüttelnd. Dennoch sah sie nie sonderlich zurechtgemacht aus, als wären diese Maßnahmen eigentlich nur für sie selbst und nicht für andere, Komplimente winkte sie ab und wechselte das Thema. Sie arbeitete als technische Zeichnerin in der örtlichen Papierfabrik, stagnierte aber seit Jahren in ein und derselben Position, während ihre männlichen Kollegen alle längst befördert worden waren, was sie eine Schweinerei nannte, vor allem wenn sie Wein trank wie an diesem Abend. Sie bat mich, ein paar Gläser auf den Wohnzimmertisch zu stellen und ließ mich sogar einen Schluck kosten, der scheußlich schmeckte. Kurz darauf traf Maria, Slavkas Mutter, mit duftendem Marillenkuchen ein, schließlich Ritas Mutter Hana, wie gewöhnlich mit leeren Händen, direkt von der langen Schicht im Krankenhaus, mit Marcel, Ritas kleinem Bruder, im Schlepptau. Längst hatten wir uns daran gewöhnt, dass er ihr überallhin folgte, wir nahmen kaum noch wahr, wie er sich an ihr Bein klammerte, sie auf die Toilette begleitete oder beim abendlichen Weintrinken an ihrer Schulter einschlief. Sie ließ ihn vorsichtig neben sich auf das Sofa gleiten und schenkte sich Wein nach, während sie sich über ihren Mann beschwerte, der nachts betrunken nach Hause gekommen war und alle mit lauter Musik geweckt hatte. Maria warf ein, sie solle doch um Gottes willen froh sein, dass er überhaupt nach Hause käme, eine Karte, die sie immer wieder und gerne zog. Ihr Mann war vor zehn Jahren als Profisportler zur Teilnahme an einer Skimeisterschaft nach Stockholm entsandt worden, eine Reise, von der er zum Entsetzen seiner Familie nie zurückgekehrt war. Als wir kleiner waren, hatte Slavka mehrere Versionen seines Verschwindens parat. Einmal erzählte sie, er sei bei einem Skiunfall umgekommen, ein anderes Mal, dass man ihn unschuldig ins Gefängnis gesteckt hätte oder dass man in Stockholm nicht mehr auf ihn hätte verzichten können und ihn kurzerhand nicht gehen ließ. Alle Versionen hatten gemein, dass er sie nicht freiwillig verlassen hatte, sondern es etwas gab, das sich zwischen sie gestellt hatte. Und zum Teil stimmte es ja auch, denn wer einmal in die glückliche Lage kam, aus der ČSSR in den Westen auszureisen, der brauchte schon Willensstärke, um nach Žilina zurückzukehren. Zumindest behauptete Vater das oft nach seinen Dienstreisen. Maria, die tatsächlich nichts von den Plänen ihres Mannes gewusst hatte und sogar immer wieder beteuerte, er habe sein Fortbleiben selbst nicht geplant, sondern sei von seinen Eindrücken im Westen ganz einfach überwältigt worden, konnte ihre Unwissenheit glaubhaft genug versichern, um ihren Job zu behalten. Als sie aber selbst einen Antrag auf Ausreise stellte, nahm man ihnen kurzerhand die Pässe ab und stellte ihnen einen neuen Mitbewohner vor, den Genossen Kubička, der ein paar Monate lang bei ihnen bleiben, sie in Wahrheit aber beobachten sollte. Auch Jahre nach seinem Auszug war Slavkas Sicherheit, das wussten alle, dünner als ein Blatt Seidenpapier: Eine falsche Äußerung in der Schule, ein paar versäumte Pioniertreffen, und sie könnte etwas verlieren, was ihr wichtig war, das Gymnastiktraining, ihre Wohnung, einen Platz auf dem Gymnasium, das wir im nächsten Schuljahr besuchen würden. Maria ließ keine Gelegenheit aus, ihre Einsamkeit zu betonen, was allen auf die Nerven ging, am allermeisten meiner Mutter, ich merkte es an ihren Stirnfalten. Das Leben gehe doch weiter, warf sie ungeduldig ein, es sei Zeit, dass sie sich nach jemand Neuem umsähe. Davon wollte Maria nichts hören, ihre Augen verengten sich vor Wut, und sie warf ihre großen Hände in die Luft, Vlado warte all die Jahre bloß darauf, dass sie eine Ausreisegenehmigung bekämen und nachkommen könnten. Er schicke Geschenke und schreibe regelmäßig Briefe, die in der letzten Zeit sogar immer öfter ungeöffnet ankämen. Meine Mutter winkte ab, hielt es für verrückt, nach so vielen Jahren noch an dieser Ehe, ja überhaupt an einem Mann zu hängen, der abwesend war. Sie selbst sei zwar verheiratet, aber froh um jede Dienstreise, die mein Vater unternahm, zu Hause gehe er ihr nach kurzer Zeit bereits auf die Nerven. Schließlich stimmten sie alle drei darin überein, dass Männern ein Gen fehle, ein Mitgefühls-Gen oder ein Intelligenz-Gen oder einfach ein Hausverstands-Gen, wobei sie deutlich mehr tranken als in Anwesenheit ihrer Männer und deutlich mehr lachten, sodass der große Busen von Hana unter ihrer weiten Bluse bebte, Mutters spitzes, helles Lachen in den Ohren wehtat und Marias Gesicht in Lachfalten zu verschwinden drohte. Mutter war die Dünnste der drei, und es

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