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Die Glocken von Bicêtre
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Die Glocken von Bicêtre

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About this ebook

René Maugras, vierundfünfzig, Herausgeber einer Pariser Zeitung, wacht nach einem Schlaganfall im Krankenhaus Bicêtre auf. Er, dessen Kapital die Worte waren, ist des Sprechens nicht mehr mächtig; halbseitig gelähmt, ist er gefangen in einer anderen Welt. Doch seine Fähigkeit zu denken ist unbeeinträchtigt. Langsam kämpft er sich ins Leben zurück, während seine Umgebung ihn weiter für besinnungslos hält. Maugras belauscht die Gespräche an seinem Bett, lässt sein Leben Revue passieren, seine Errungenschaften und Lebenslügen, die Erfolge und Misserfolge – als Verleger, als Ehemann, als Mensch. Die Glocken von Bicêtre sticht unter den vielen Meisterwerken Simenons hervor, durch den Verzicht auf jegliche Spannungselemente und durch die Tatsache, dass Simenon nicht wie üblich elf Tage für die Niederschrift brauchte, sondern ganze zweiundzwanzig.
LanguageDeutsch
PublisherKampa Verlag
Release dateAug 30, 2019
ISBN9783311700890
Die Glocken von Bicêtre
Author

Georges Simenon

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

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    Book preview

    Die Glocken von Bicêtre - Georges Simenon

    Kampa

    Für alle – Professoren, Mediziner, Schwestern und Pfleger –, die sich in Krankenhäusern und anderswo darum bemühen, diesem verwirrenden Wesen Verständnis entgegenzubringen und Linderung zu verschaffen: dem kranken Menschen.

    G.S.

    Vorwort

    Die meisten Bücher, die ich mir als junger Mensch auslieh, waren in schwarzes Leinen gebunden und dufteten wunderbar moderig. Und sie hatten ein Vorwort. Ich gestehe, in den mehr als vierzig Jahren, die ich selbst schreibe, habe ich es manchmal bedauert, dass dies aus der Mode gekommen ist. Wehmütig erinnere ich mich insbesondere an manche Romane von Joseph Conrad, denen nicht nur ein Vorwort vorausging, sondern auch eines zur zweiten, gar zur dritten Auflage, ein Geleitwort, eine Vorbemerkung, eine Reihe persönlicher Texte, die mich fast ebenso begeisterten wie die Geschichte selbst.

    Stellte der Schriftsteller auf diese Weise nicht am Rande seines Werks einen direkten Kontakt zum Leser her? Heutzutage sprechen die Romanciers gern in Zeitungen, im Rundfunk, im Fernsehen über ihre Bücher, aber so erreichen sie nicht immer ihre Leser.

    Es soll hier nicht um meine literarischen Absichten gehen, geschweige denn um eine literarische Doktrin. Ich könnte mich auf die Formel beschränken, die auch für Filme gilt: »Die dargestellten Ereignisse sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit zwischen den Figuren und lebenden Personen ist rein zufällig.«

    Seit einigen Jahren ist diese Vorsichtsmaßnahme unerlässlich, wenn auch oft unwirksam, denn Zeitgenossen lieben es, sich in Romanen und Filmen wiederzuerkennen, besonders, wenn sie sich dadurch materiellen Gewinn erhoffen.

    Das erschwert die Aufgabe des Romanciers ungemein. Vor fünfundzwanzig Jahren zum Beispiel schrieb ich in Paris den Roman Tropenkoller. Die Handlung spielt in Gabun, in Libreville, vor allem in einem Hotel zwischen der Stadt und dem Urwald. Ich konnte mich an den Namen des Hotels, in dem ich zwei Jahre zuvor abgestiegen war, nicht erinnern, außerdem wollte ich ihn auch gar nicht nennen. Deshalb wählte ich für das Hotel in meinem Buch den allerunwahrscheinlichsten Namen: Hôtel Central. Doch genau damit hatte ich ins Schwarze getroffen, und einige Wochen später kam die Besitzerin des gabunischen Hotels nach Paris, um mich zu verklagen.

    Dergleichen habe ich in Variationen leider noch mehrmals erlebt. Wie einen geeigneten Namen finden, den kein Mensch auf der Welt trägt? Und was, wenn man seine Geschichte in einer Provinzstadt spielen lässt und den Präfekten, den Staatsanwalt, den Bürgermeister, den Polizeikommissar nennen muss? Was, wenn die geschilderte Figur ebenso fett und kahlköpfig ist wie die wirkliche? Wenn die Ehefrau im Buch so mager und geschwätzig ist wie …

    Für einen meiner letzten Romane, Die Anderen, habe ich deshalb eine ganze Stadt erfunden samt Fluss, Palais de Justice, Kirchen, Straßen, Geschäften …

    Wie aber sollte ich das Bicêtre gestalten, in dem ja ein Professor, Assistenzärzte, eine Oberschwester auftreten mussten?

    Schilderte ich zum Beispiel die Oberschwester als rothaarig oder brünett, sanft oder autoritär, riskierte ich dann nicht, ein wirklichkeitsgetreues Porträt zu zeichnen?

    Ich versichere, dass ich bei meinem Besuch im Krankenhaus Bicêtre keiner der in diesem Buch beschriebenen Figuren begegnet bin. Das Gleiche gilt für meinen Zeitungsverleger, den Anwalt, die beiden Mitglieder der Académie française: Ich schwöre, ich habe niemanden porträtiert!

    Da es sich also nicht um einen Schlüsselroman handelt, wiederhole ich also die geläufige Formel: »Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig.«

    Und ich sehne mich weiterhin nach den Vorworten in den Büchern des vergangenen Jahrhunderts. Sie waren so viel persönlicher und amüsanter.

    Georges Simenon

    1

    Acht Uhr abends. Für Millionen Menschen – jeder in seiner kleinen, selbst erschaffenen oder erduldeten Welt – geht ein kalter, nebliger Tag zu Ende. Es ist Mittwoch, der 3. Februar.

    Für René Maugras allerdings gibt es weder Tag noch Stunde, und die Frage nach der verstrichenen Zeit wird ihn erst später beunruhigen. Er befindet sich in einem tiefen Loch. Es ist darin so dunkel wie auf dem Meeresgrund, und es gibt keine Verbindung zur Außenwelt. Und doch, ohne dass er davon weiß, beginnt sich sein rechter Arm auf eine krampfhafte Art zu bewegen, während sich seine Wange bei jedem Atemzug merkwürdig bläht.

    Das erste Zeichen, das von außen zu ihm dringt, ist ringförmig; klingende Ringe, die sich immer weiter ausdehnen und immer fernere Wellen bilden. Mit geschlossenen Augen versucht er ihnen zu folgen, sie zu begreifen, und da geschieht etwas, das er niemandem je erzählen wird: Er erkennt diese Wellen, und er möchte ihnen am liebsten zulächeln.

    Als Kind lauschte er oft den Kirchenglocken von Saint-Étienne, deutete ernst in den blauen Himmel und sagte:

    »Ninge …«

    Das hat ihm seine Mutter kurz vor ihrem Tod erzählt. Er konnte das Wort »Ringe« noch nicht aussprechen, in seinem Mund wurde es zu »Ninge«, und »Ninge« nannte er die Glocken, weil sie klingende Ringe, konzentrische Kreise, in die Luft warfen.

    Auch hier gibt es Glocken. Er versucht nicht, die Schläge zu zählen, dafür ist er zu träge. Auch diese Trägheit ist ihm nicht unbekannt. Er hat sie schon einmal erlebt, und eine Zeit lang verwirrt sich alles in seinem Kopf. Ist er vielleicht noch der achtjährige Junge, der in höchster Eile aus der Schule ins Krankenhaus von Fécamp gebracht worden ist, dem man, während er sich brüllend wehrte, eine Maske aufs Gesicht gepresst hat, um ihm dann den Blinddarm zu entfernen?

    Auch damals war da ein Loch und später, viel später, ein seltsamer Geschmack im Mund, eine tiefe Müdigkeit im ganzen Körper und schließlich, als er fortzutreiben begann, waren da die klingenden Ringe der vertrauten Glocken.

    Er möchte jetzt lächeln, denn ihm geht ein Gedanke durch den Kopf, der ihn amüsiert. Auch wenn er nicht wirklich daran glaubt, ganz verwerfen mag er ihn nicht. Ist er vielleicht noch immer der kleine Junge in Fécamp, der in einem Krankenhauszimmer langsam aufwacht, und wird sein erster Blick auf eine dicke blonde rosige Schwester fallen, die an seinem Bett sitzt und strickt? Dann wäre alles Übrige nur ein Traum gewesen. Er hätte unter Narkose fast fünfzig Lebensjahre geträumt.

    Das ist natürlich nicht wahr. Er weiß, dass es nicht wahr ist, er ist ein Mann von vierundfünfzig Jahren und hat das kleine Haus in der Rue d’Étretat schon vor langer Zeit verlassen. Und doch schien es ihm für ein paar Minuten, vermutlich nur Sekunden, möglich, und er möchte es überprüfen. Dazu braucht er nur die Augen aufzuschlagen, und etwas sehr Seltsames geschieht. Es ist gar nicht tragisch, im Gegenteil, eher komisch. Er tut, was man tun muss: Man lässt das Gehirn einen Befehl an bestimmte Nerven senden. Aber die Augenlider rühren sich nicht.

    Er hat keine Schmerzen. Seine große Trägheit ist ziemlich angenehm, ein wenig, als wäre er nicht länger ein Mensch. Er hat keine Probleme, keine Verantwortung. Ein einziger Grund treibt ihn an, seine Bemühung fortzusetzen: Er muss die Gewissheit haben, die vollkommene Gewissheit, dass die dicke blonde rosige Krankenschwester nicht an seinem Bett sitzt und strickt.

    Ist von außen zu erkennen, was in ihm vorgeht? Die Ringe haben sich in weiter Ferne in Luft aufgelöst, und er nimmt ein anderes Geräusch wahr, das ebenfalls Erinnerungen in ihm weckt. Er ist zu müde, um sich zu fragen, welche. Ein Stuhl hat geknarrt, als würde sich jemand plötzlich erheben. Es muss ihm gelungen sein, die Lider ein wenig zu öffnen, denn ganz in der Nähe sieht er eine weiße Tracht, ein junges Gesicht und braune Haare, die unter einer Schwesternhaube hervorlugen.

    Es ist nicht seine Krankenschwester, und enttäuscht schließt er die Augen wieder. Er ist wirklich zu müde, um Fragen zu stellen, lieber sinkt er wieder tief hinab in sein Loch.

    Wird er später, in einigen Stunden oder Tagen, unterscheiden können, was er im Koma tatsächlich wahrgenommen und was ihm darüber berichtet wurde? Gibt es zum Beispiel auf dem Flur neben seinem Zimmer ein Telefon, und hört er gerade wirklich eine Frau sagen:

    »Professor Besson d’Argoulet? … Er ist nicht zu Hause? … Wissen Sie, wo man ihn erreichen kann? Er wollte benachrichtigt werden, sobald …«

    Morgen wird er erfahren, dass es tatsächlich neben seiner Tür ein altmodisches Wandtelefon gibt. Noch ergibt das keinen Sinn, und wenn es so weit ist, dann nur für ihn.

    Um halb zehn weiß er noch immer nicht, dass es halb zehn ist, und das Aufwachen ist schlagartig und dramatisch, wie nach einem Albtraum, als hätte er geträumt, er müsste sich um jeden Preis an etwas Hartem festklammern, aber er kann nicht, seine Kräfte haben ihn verlassen; seine Gliedmaßen sind wie ausgeleiert, er hat sie nicht in der Gewalt. Dann will er schreien, um Hilfe rufen. Sein Mund öffnet sich. Er ist fast sicher, dass er den Mund weit öffnet. Aber es kommt kein Ton heraus.

    Er muss unbedingt sehen, was um ihn herum ist. Sein Körper ist schweißbedeckt, seine Stirn feucht, und doch friert ihn, und er zittert am ganzen Leib und kann nichts dagegen tun.

    »Keine Sorge … Es ist alles in Ordnung … Alles läuft gut …«

    Er kennt die Stimme. Er versucht sie zu identifizieren, und plötzlich sieht er nicht nur ein Gesicht und eine weiße Haube, sondern auch ein fremdes Zimmer mit grün gestrichenen Wänden.

    Neben dem Bett steht Besson d’Argoulet – er nennt ihn Pierre, denn sie sind seit dreißig Jahren befreundet. Über seinen Anblick müsste er eigentlich lachen: Unter dem offenen Kittel trägt er eine Frackweste und eine weiße Fliege.

    »Ganz ruhig, René, mein Lieber. Es ist alles in Ordnung.«

    Vielleicht für den Professor, der ihm zerstreut den Puls fühlt. Schließlich liegt nicht Besson in dem, was offenbar ein Krankenhausbett ist, um das herum sich die braunhaarige Schwester geschäftig bewegt. Er hat sich vorhin nicht getäuscht. Er hat wirklich für ein paar Augenblicke das Bewusstsein wiedererlangt, denn er erkennt sie wieder.

    »Es ist nichts Ernstes, René … Alle Untersuchungen bestätigen das … Wir machen noch ein paar weitere Tests, das ist lästig, aber leider unerlässlich. Audoire wird gleich hier sein …«

    Wer ist Audoire? Ein Name, den er kennt oder kennen müsste, er, der alle wichtigen Leute in Paris kennt? Die Schwester hat auf ein Tablett eine Spritze mit einer sehr langen, sehr dicken Nadel gelegt. Sie scheint nervös auf die Geräusche im Flur zu lauschen, während sie Maugras nicht aus den Augen lässt, und als draußen eine Tür auf- und wieder zugeht, stürzt sie hinaus.

    »Wunder dich nicht, wenn …«

    Doch, er wundert sich. Denn er hat soeben den Mund geöffnet. Weder um sich zu beklagen, noch um Fragen zu stellen. Sondern weil er, den Blick auf die gestärkte Hemdbrust und die weiße Fliege gerichtet, sagen wollte:

    »Es tut mir unendlich leid, mein Lieber, dass ich dir deinen Abend verderbe …«

    Aber er hat keinen Ton herausgebracht. Er hat keine Stimme mehr. Nichts! Nicht einmal ein Röcheln. Nur etwas wie ein Pfeifen oder vielmehr Glucksen, denn immer wieder bläht sich seine Wange auf groteske Weise. Als versuchte ein Kind, Pfeife zu rauchen.

    »Du wirst vermutlich einige Tage nicht sprechen können.«

    Auf dem Flur wird geflüstert. Seine Sinne sind wach, ein paar zumindest, denn er nimmt Zigarettenrauch wahr.

    »Du vertraust mir doch, nicht wahr? … Du weißt, dass ich dich nicht belügen würde?«

    Wozu ihm eine Frage stellen, da er ja doch nicht antworten kann? Er würde gern Ja sagen, um seinem Freund Pierre eine Freude zu machen. Ein Ja ohne Überzeugung. Ein höfliches, gleichgültiges Ja. Denn ihm ist alles egal, und er möchte am liebsten wieder in seinem Loch versinken, wo er vielleicht die Klangringe der Glocken wiederfindet.

    Nein! Er kennt Audoire nicht, er ist ihm nie begegnet. Das weiß er, denn er hat ein gutes Gedächtnis für Gesichter und erinnert sich an jeden Namen, auch wenn er den Menschen nur ein Mal vor Jahren ein paar Minuten lang gesehen hat. Audoire ist Arzt, denn er trägt einen weißen Kittel und eine runde Kappe auf dem Kopf. Sein Gesicht ist nichtssagend. Selten hat Maugras ein so leeres, ausdrucksloses, ja banales Gesicht gesehen und derartig mechanische Bewegungen.

    Die beiden Männer geben sich die Hand und sehen sich stumm an, als bedürfte es keiner Worte, um einander zu verstehen, oder als hätten sie diese Szene geprobt. Dann wendet sich Audoire vom Fuß des Bettes aus an René.

    »Sie sind ganz ruhig … Das ist gut. Wir müssen Ihnen noch ein wenig wehtun, und dann werden Sie friedlich schlafen.«

    Man spricht also zu ihm wie zu einem Menschen, darüber ist er fast erstaunt. Gleichzeitig behandelt man ihn wie einen Gegenstand. Die junge Schwester schlägt die Decke zurück, und beschämt stellt er fest, dass er unten nackt ist. Zwischen den Beinen hat er eine Urinflasche, wie ein Greis, der sich einnässt.

    Sie hält jetzt das eine seiner Knie fest, das zu zittern begonnen hat, und Professor Audoire nimmt eine Spritze vom Tablett, aber nicht die große mit der langen Nadel, sondern eine kleinere, und sticht ihm damit in den Hintern. Er spürt nichts. Auch das würde er ihnen gerne sagen. Nicht weil er besorgt wäre. Im Gegenteil, nie ist er so gleichgültig gewesen. Er betrachtet die drei, als hätten ihre Verrichtungen nichts mit ihm zu tun.

    Irgendetwas ist geschehen, an das er sich nicht erinnert. Er weiß nicht einmal, wo und wann es sich ereignet hat. Er runzelt die Stirn oder meint sie zu runzeln. Er ist sich keiner Sache mehr sicher, jetzt, da sein Mund stumm ist und seine Glieder ihm nicht mehr gehorchen.

    Die beiden Männer in Weiß stehen da, warten und beobachten ihn; die Schwester hält immer noch sein Bein fest und sieht dabei unverwandt auf ihre Armbanduhr.

    Es spielt keine Rolle, worum es hier geht. Es musste so kommen. Er hat immer gewusst, dass es so kommen würde, und ehrlich gesagt ist er erleichtert. Jetzt ist es vorbei. Er braucht sich nicht mehr damit zu befassen. Die anderen sollten sich seinetwegen keine Sorgen machen.

    Sicherlich warten sie darauf, dass er einschläft. Warum? Will man ihn operieren? Ihm tut nichts weh, aber offenbar ist irgendetwas nicht in Ordnung.

    »Geht es dir gut?«

    Maugras versucht eine heitere Miene aufzusetzen, um sich bei Besson d’Argoulet zu bedanken, auch bei der Schwester und schließlich bei dem Mann namens Audoire, der mit Ehrerbietung behandelt wird. Wohl eine Kapazität wie Besson, vielleicht noch berühmter. Was ist wohl sein Spezialgebiet? Maugras kennt viele bedeutende Ärzte. Aus reiner Neugier denkt er darüber nach, aber dann verschwimmen seine Gedanken, und er meint in der Ferne wieder die Ringe der Glocken zu vernehmen.

    Als Letztes sieht er, wie die beiden Männer sich anblicken, als würden sie sagen:

    »Es ist so weit …«

    Er ist nicht gestorben, und die Sonne scheint ins Zimmer, in dem Besson d’Argoulet auf dem Platz der Schwester sitzt und eine Zigarette raucht. Der Professor trägt keinen Frack und auch keinen weißen Kittel. Mit seinen sechzig Jahren ist er noch immer ein gutaussehender Mann, höflich, gewandt und sehr geschmackvoll gekleidet.

    »Wie fühlst du dich? Versuch noch nicht zu sprechen … Beweg dich nicht … Ich sehe an deinem Blick, dass du den Schock gut überstanden hast …«

    Welchen Schock? Und warum fühlt sich sein Freund Pierre bemüßigt, in dem salbungsvollen Ton zu ihm zu sprechen wie sonst nur zu seinen Patienten?

    »Du erinnerst dich wohl an nichts?«

    Er möchte antworten:

    »Doch!«

    Denn tatsächlich hat er sich soeben erinnert, an den Salon im Hochparterre des Grand Véfour, über der Wendeltreppe, wo sie sich immer am ersten Dienstag im Monat zum Mittagessen treffen. Früher waren sie dreizehn, inzwischen, da einige gestorben sind, sind sie nur noch zu zehnt.

    Wie viel Zeit mag seitdem verstrichen sein? Es könnte ebenso gut ein Tag wie eine Woche sein. Die Sonne schien nicht wie heute Morgen. Denn an der Art des Lichts, an dem zarten, matten Schein der Sonne, erkennt er, dass jetzt Morgen ist. Über die genaue Uhrzeit denkt er nicht nach, aber draußen, vor seinem Zimmer, wird der Boden gewischt, werden Eimer hin und her geschoben.

    Sie waren im Grand Véfour zusammengekommen, und durch das halbkreisförmige Fenster konnten sie im Nieselregen den Hof und die Arkaden des Palais Royal sehen. Besson saß ihm gegenüber, und fast alle waren anwesend, Clabaud, der Anwalt, Julien Marelle, Mitglied der Académie française, dessen neuestes Stück gerade im Theater gegenüber gespielt wurde, Couffé, ebenfalls Mitglied der Académie, und Chabut.

    Er könnte sie alle aufzählen und an die richtigen Plätze setzen. Er sieht auch Victor vor sich, den Kellner, der sie seit mehr als zwanzig Jahren bedient, wie er mit einer sehr großen Flasche Armagnac um den Tisch herumgeht.

    Er war aufgestanden, um bei seiner Zeitung anzurufen. Das Telefon befindet sich zwischen der Damen- und der Herrentoilette. Er hat mit Fernand Colère gesprochen, seinem Chefredakteur, der trotz seines Namens sanft wie ein Lamm ist.

    Wenn er sich von der Zeitung entfernt, und sei es für eine Stunde, hat er das Bedürfnis, dort anzurufen, und er gibt mit schneidender, ein wenig schriller Stimme genaue Anweisungen.

    »Nein! Ändere nichts auf der Eins … Nimm die dritte Spalte auf Seite drei heraus … Gib im Innenministerium Bescheid, da ist nichts zu machen, wir können den Vorfall unmöglich übergehen …«

    Besson, der immer noch seine Zigarette raucht, meint ihm erklären zu müssen:

    »Wir saßen alle bei Tisch im Grand Véfour. Du bist aufgestanden, um zu telefonieren, als der Likör serviert wurde. Dann bist du zur Toilette gegangen, und dort muss dich ein Unwohlsein überfallen haben, denn als Clabaud zehn oder fünfzehn Minuten später dorthin ging, hat er dich bewusstlos vorgefunden.«

    Warum diese umständliche, betont geduldige Sprechweise? Man behandelt ihn wie ein Kind. Oder wie einen Schwerkranken, ja, eher wie einen Schwerkranken, der er offenbar ist.

    In einem Punkt irrt sich der Professor, bei all seiner Selbstsicherheit. Und auch das ist seltsam, so seltsam, dass Maugras, selbst wenn er sprechen könnte, nichts dazu sagen würde.

    Es stimmt. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, hat er die Tür zur Toilette geöffnet. Er hat sich vor das Porzellanbecken gestellt, in der lächerlichen Pose, die allen Männern vertraut ist. Er dachte an Colère und an den Vorstoß des Innenministers, als er plötzlich, aus heiterem Himmel, zu schwanken begann.

    Er erinnert sich an ein hässliches Detail. Mit beiden Händen und seiner ganzen Kraft hat er sich an das schmuddelige Pissoir geklammert, ehe er es loslassen musste.

    Was hat Besson gerade gesagt?

    »Als Clabaud zehn oder fünfzehn Minuten später zur Toilette ging, hat er dich bewusstlos vorgefunden …«

    Diese Worte sagen nichts darüber, wie genau er ihn gefunden hat. Aber Maugras sieht sich in dem engen Raum quer auf den Fliesen liegen, sieht, wie er sich verzweifelt bemüht, nicht etwa aufzustehen oder um Hilfe zu rufen, sondern seine Hose zuzuknöpfen.

    Es ist rätselhaft: Er sieht sich wirklich so, wie irgendein anderer ihn hätte sehen können; er sieht sich von außen, so wie Clabaud ihn vermutlich vorgefunden hat. Ist eine solche Spaltung möglich?

    »Ich will dir nicht verschweigen, dass du uns im ersten Augenblick einen gehörigen Schrecken eingejagt hast …«

    Er ist ganz klar im Kopf. Vielleicht, so kommt es ihm vor, sogar klarer und hellsichtiger als normalerweise. Automatisch erfasst er, was um ihn herum vorgeht: die Modulation in der Stimme des Arztes, sein Zögern und sogar seine ungewöhnlichen Manschettenknöpfe mit dem griechischen Buchstaben. Er weiß nicht, welcher er ist, denn er hatte nur ein paar Monate Altgriechisch in der Schule. Im selben Augenblick fragt er sich, ob Besson d’Argoulet unbehaglicher zumute ist als ihm und ob er, was auch immer er vorgibt, weiterhin so beunruhigt ist wie auf der Toilette des Grand Véfour.

    Gewiss, Maugras kann nicht sprechen, und eine Hälfte seines Körpers ist gelähmt. Auch das hat er allein entdeckt. Hat der Freund diese Reaktion oder vielmehr das Fehlen jeder Reaktion erwartet, seine Ruhe, die an Gleichgültigkeit grenzt?

    Es ist Gleichgültigkeit. Als ginge ihn das, was in diesem kleinen, recht erbärmlichen Zimmer geschieht, nichts an, so wie ihn auch sein Körper nichts mehr angeht. Er ist nicht überrascht, in seinem Arm eine Nadel stecken zu sehen und daran befestigt einen Gummischlauch, der zu einem Glasgefäß führt, das zur Hälfte mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt ist.

    Sein Blick ist dem Arzt nicht entgangen. Er beeilt sich zu erklären:

    »Glukose. Damit du bei Kräften bleibst, bis du morgen oder übermorgen wieder selbst etwas essen kannst.«

    Vermutlich spricht er mit allen schwerkranken Patienten in diesem entschiedenen Ton. Maugras hat ihn bisher nur bei kleinen Wehwehchen und zur alljährlichen Untersuchung konsultiert. So kannte er ihn nicht.

    Besson scheint erraten zu wollen, welche Fragen er stellen würde, um sie sogleich zu beantworten.

    »Du fragst dich wahrscheinlich, warum du hier und nicht in der Klinik in Auteuil liegst.«

    Nach einem Nervenzusammenbruch vor vier oder fünf Jahren hatte ihn Besson für einige Tests nach Auteuil geschickt. Wie gewöhnlich hatte Maugras viel zu viel gearbeitet und sich in jeder Hinsicht verausgabt.

    »Ich habe dich zunächst nach Auteuil bringen lassen, genauer gesagt, ich bin im Krankenwagen mit dir dorthin gefahren. Man hat dir das Zimmer gegeben, in dem du schon einmal warst, und deine Frau ist gleich gekommen. Mach dir ihretwegen keine Sorgen. Ich habe ihr erklärt, dass du außer Gefahr bist. Sie ist sehr gefasst. Ich rufe sie mehrmals täglich an. Sie wartet nur auf einen Wink von mir, um zu dir zu kommen.

    Versuch nicht zu sprechen. Ich weiß, es ist äußerst unangenehm und bedrückend. Aber ich versichere dir, es handelt sich nur um eine vorübergehende Aphasie.«

    Das musste so kommen. Während sein Freund spricht, wiederholt René diese vier Wörter

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