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Aisthesis – Pathos – Ethos: Zur Heranbildung einer pädagogischen Achtsamkeit und Zuwendung im professionellen Lehrer/-innenhandeln
Aisthesis – Pathos – Ethos: Zur Heranbildung einer pädagogischen Achtsamkeit und Zuwendung im professionellen Lehrer/-innenhandeln
Aisthesis – Pathos – Ethos: Zur Heranbildung einer pädagogischen Achtsamkeit und Zuwendung im professionellen Lehrer/-innenhandeln
Ebook534 pages6 hours

Aisthesis – Pathos – Ethos: Zur Heranbildung einer pädagogischen Achtsamkeit und Zuwendung im professionellen Lehrer/-innenhandeln

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About this ebook

Die leitende These des vorliegenden Bandes ist, dass Aisthesis als sinnliche Wahrnehmung und Ethos im Sinne einer sittlichen Grundhaltung im Pathos als Widerfahrnis verwickelt sind. Davon leitet sich die Notwendigkeit ab, Aisthesis und Ethos in ihrer pathischen Verwobenheit als Aspekte professionellen pädagogischen Lehrer/-innenhandelns zurückzugewinnen. Professionelles Lehrer/-innenhandeln das dieser pathischen Verwicklung Rechnung trägt, zeichnet sich durch eine besondere Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für Irritationen aus, eine Umlenkung der Blickrichtung, eine Hin- oder Zuwendung. Professionelle Lehrpersonen schauen hin, sie horchen auf und hören zu. Ihre Wahrnehmungen erhalten eine gewisse Bestimmtheit, wenn auch noch keine präzise Bedeutung. Dabei lassen sich diese Lehrenden insbesondere durch ihre engagierte Wahrnehmungsweise charakterisieren, die anhand von phänomenologisch orientierten Vignetten als narrativ verdichtete Erzählungen eines prägnanten Erfahrungsmomentes ausgebildet werden kann.
Diese pathischen Dimensionen für die Lern- und Lehrforschung in formellen und informellen Bildungskontexten und insbesondere im Kontext von Unterricht und Lehrer/-innenfortbildung systematisch zu erschließen und fruchtbar werden zu lassen, ist das Hauptanliegen dieses Buches.
LanguageDeutsch
PublisherStudienVerlag
Release dateJun 1, 2020
ISBN9783706560702
Aisthesis – Pathos – Ethos: Zur Heranbildung einer pädagogischen Achtsamkeit und Zuwendung im professionellen Lehrer/-innenhandeln

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    Book preview

    Aisthesis – Pathos – Ethos - Evi Agostini

    Erfahrungsorientierte Bildungsforschung

    Band 6

    Im Bildungsbereich werden täglich vielfältige Aktivitäten initiiert, Prozesse in Gang gesetzt und Aufgaben bearbeitet. Wenig ist darüber bekannt, wie sie vollzogen werden. Die Reihe ,Erfahrungsorientierte Bildungsforschung‘ erschließt einen in den Bildungswissenschaften vernachlässigten Bereich, indem sie den Erfahrungen nachspürt, die sich in Bildung und Erziehung zeigen. Die einzelnen Bände machen die Erfahrungsmomente pädagogischen Handelns versteh- und erfahrbar. Über verdichtete Beschreibungen (z. B. Vignetten, Anekdoten) werden Erfahrungsdimensionen erschlossen, welche zum Überdenken der eigenen pädagogischen Erfahrungen beitragen können.

    Herausgegeben von Evi Agostini, Markus Ammann, Siegfried Baur, Hans Karl Peterlini, Michael Schratz und Johanna F. Schwarz

    Impressum

    © 2020 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

    E-Mail: order@studienverlag.at

    Internet: www.studienverlag.at

    Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

    ISBN 978-3-7065-6070-2

    Buchgestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation,

    Innsbruck/Scheffau – www.himmel.co.at

    Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

    Umschlag: himmel. Studio für Design und Kommunikation, Innsbruck/Scheffau –

    www.himmel.co.at

    Verwendete Schrift für Symbole auf der Titelseite: Big Cheese™ by Emigre

    Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

    Inhaltsverzeichnis

    Cover

    Impressum

    Titel

    Vorwort

    I. Erkenntnistheoretische Hinführung

    1. Aisthesis und Ethos als Aspekte professionellen Lehrer/-innenhandelns

    1.1 Professionelles Lehrer/-innenhandeln – eine kritische Bestandsaufnahme

    1.2 Vom aisthetischen und ethischen Handeln hin zum responsiven Ausdruck einer pathischen Erfahrung

    1. 2. 1 Ethische Haltung. Oder: Aristotelische Konzeption des Handelns zwischen Aisthesis und Ethos

    1. 2. 2 Die intersubjektive Bezogenheit des Handelns. Oder: Entstehung und Vollzug des Neuen nach Hannah Arendt

    1. 2. 3 Antwortendes Handeln und die pathische Struktur der Erfahrung bei Bernhard Waldenfels und Käte Meyer-Drawe. Oder: Zum schöpferischen Ausdruck bei Maurice Merleau-Ponty

    2. Aisthesis und Ethos in ihrer pathischen Verwobenheit im professionellen Lehrer/-innenhandeln

    II. Zur Orientierung

    1. Inhaltliches und formales Design

    2. Vier Thesen zur Bedeutung der pathischen Struktur sinnlicher Wahrnehmung für Lernen, Lehren und Forschen

    III. These 1: Lernen zwischen Aisthesis und Ethos in (in-)formellen Bildungskontexten: Chancen und Risiken

    1. Die Verwicklung von Aisthesis und Ethos in ihrer Bedeutung für schulisches Lernen

    1.1 Aisthesis und Ästhetik

    1.2 Von Aisthesis zu Ethos

    1.3 Ethos und Ethik

    1.4 Aisthesis und Ethos im sinnlichen Wechselspiel

    1. 4. 1 Lernen als Erfahrung zwischen Wahrnehmung und Gewöhnung

    1. 4. 2 Die Erschütterung des Blicks

    1.5 Vom Beginn des Lernens

    2. Überleitung. Oder: Zu den Vollzügen des Lernens und der Macht der Gewohnheit

    3. Lernen als Gewöhnung. Leibphänomenologische und praxistheoretische Perspektiven auf schulische Lernvollzüge

    3.1 Einleitung

    3.2 (Leib-)Phänomenologie und Praxistheorie. Eine (erste) Verhältnisbestimmung

    3. 2. 1 Der aristotelische Erfahrungsbegriff als Ausgangspunkt leibphänomenologischer und praxistheoretischer Perspektiven – hin zu einem Lernen als Erfahrung

    3. 2. 2 Vignetten: Leibphänomenologische und praxistheoretische Bezüge

    3. 2. 3 Re-Lektüre und Re-Reflexion: Theoretische „Erkenntniswerkzeuge"

    3.3 Performative Vignetten-Lektüre: Zur szenischen Ausfaltung der Vignette

    3. 3. 1 Methodologische Rahmung: Szenische Methode in Anlehnung an das Forumtheater nach Augusto Boal

    3. 3. 2 Gruppenarbeit mit Erfahrungscharakter im Zwischenfeld von habitualisierten Praktiken und erfinderischen Ordnungen des Neuen

    3. 3. 3 Mehrperspektive Vignetten-Lektüre der Erfahrungssituation im Workshop

    3.4 Pädagogik der Leiblichkeit? Zusammenführung und Implikationen für Leibphänomenologie und Praxistheorie

    4. Überleitung. Oder: Zwischen Möglichkeiten und Wirklichkeiten

    5. Institutionenübergreifendes Lernen: Lernen in der Ganztagsbildung

    5.1 Lernen und Ganztagsbildung: Gesellschaftspolitische Einbettung und begriffliche Annäherung

    5. 1. 1 Die Frage nach dem Lernen. Oder: Lernen „lernseits" betrachtet

    5. 1. 2 Schulisches Lernen und formale Bildungsinstitutionen

    5.2 Leistung in der Ganztagsschule vs. Lernmöglichkeiten in der Ganztagsbildung

    5.3 Folgerung

    6. Überleitung. Oder: Diskurse des Lernens

    IV. These 2: Forschende und didaktische Annäherung an (er-)kenntnisreiche ästhetische Wahrnehmung und Erfahrung anhand von Vignetten

    1. Reflexive Zugriffe auf Erfahrungsvollzüge des Lernens

    2. Überleitung. Oder: Die transformative Kraft der Erfahrung

    3. Möglichkeiten professionsbezogener (ästhetischer) Bildung

    3.1 Diskurse der Professionalisierung und Perspektiven für die Lehrer/-innenbildung

    3.2 Wahrnehmen und Verdichten von prägnanten Erfahrungsmomenten: Vignetten und ihr ästhetisches Potenzial

    3.3 Im Lesen lernen: Vignetten zwischen Eigenem und Fremdem, Herkunft und Zukunft des Lernens

    3.4 Im Spiel von Finden und Erfinden: Bildende ästhetische Rezeptionsmodi im Zwischenfeld von Wirklichkeit und Möglichkeit

    3.5 Charakteristika von Vignetten und ihr Potenzial für die Lehrer/-innenbildung

    4. Überleitung. Oder: Das ästhetische Ideal der Sprache

    5. Forschendes Studieren zwischen empirischen und ästhetisch-ethischen Ansprüchen

    5.1 Vom Ereignis zum Lernen als Erfahrung

    5.2 Vignetten im Zwischenfeld von Wissenschaft und Kunst

    5.3 Zum Lernen von und mit Vignetten: Die Ausbildung einer forschenden Grundhaltung bei Studierenden

    5. 3. 1 Im Lesen lernen. Oder: Was zeigt sich in der Vignette und wie?

    5. 3. 2 Reflexive Zugriffe auf Praxis. Oder: Welche (ästhetischen) Erfahrungen werden in und mit der Vignette gemacht?

    5. 3. 3 Er-finden eines sprachlichen Ausdrucks. Oder: Wie können Erfahrungen übersetzt werden?

    5.4 Vignetten und ihr ästhetisch-ethisches Potenzial für angehende Kunstlehrpersonen

    6. Überleitung. Oder: Ästhetische und ethische Ansprüche

    V. These 3: Vignetten als „Instrumente" der Lehrer/-innenbildung zur Ausbildung einer sinnlich-leiblichen Wahrnehmungssensibilität

    1. Acht Kerngedanken lernseitigen Unterrichts

    1.1 Sinn, Einstellung und Haltung

    1.2 Professionsethik und Professionsbewusstsein

    1.3 Systemisches Wissen und Handeln

    1.4 Persönlichkeitsbezug

    1.5 Kompetenzorientierung

    1.6 Den Zugang finden

    1.7 Beziehungskultur

    1.8 Resonanzorientierung

    2. Überleitung. Oder: Aufmerksamkeit für Brüche und Widersprüche

    VI. These 4: Verantwortung lernen? Oder: Heranbildung eines pädagogischen Ethos

    1. Leibliche Wahrnehmung zwischen (er-)kenntnisreicher Aisthesis und pädagogischem Ethos

    1.1 Der Leib als Medium der Erfahrung. Oder: Vignetten als ästhetische und ethische Möglichkeitsräume pädagogischer Achtsamkeit und Zuwendung

    1.2 Forschungsmethodologische Annäherungen an verdichtete leibliche Wahrnehmungs- und Erfahrungssituationen

    1. 2. 1 (Er-)kenntnisreiche Aisthesis: Von einem pathisch-leiblichen Wahrnehmen zu einem Erkenntnisprozess als Erfahrung

    1. 2. 2 Das pädagogische Ethos. Oder: Forschen verantworten

    1.3 Pädagogisches Handlungsfeld: Wahrnehmen lernen, um anders und damit produktiv wahrnehmen zu können

    2. Überleitung. Oder: Leibliche Spielräume von Verantwortung

    3. Fremdes als Voraussetzung ethisch-bildender Verantwortlichkeit

    3.1 „Das Totenschiff" der Migration. Oder: Als was zeigt sich Fremdes und wie?

    3.2 Fremdes als Anderer: Fremdheit als Erfahrung des Andersseins – Verantwortung als Verantwortung vonseiten des und für den Anderen

    3.3 Fremdes als Eigenes: Fremdheit als Erfahrung des Fremden im Eigenen – Verantwortung als Verstehen des Fremden als Zugang zum Eigenen

    3.4 Fremdes als Ereignis: Fremdheit als durchkreuzte Erwartung – Verantwortung als Antwort auf Wahrnehmbares

    3.5 Literatur bildet

    4. Überleitung. Oder: Die vertraute Welt ins Wanken bringen

    5. Lernen verantworten

    5.1 Raumerfahrungen im Spannungsfeld von Finden und Erfinden

    5.2 Modellierung des (physischen) Raumes: Schule zwischen Selbststeuerung und Gewöhnung

    5. 2. 1 „Moderne" Lernräume? Die Schule als Disziplinaranstalt nach Jeremy Bentham

    5. 2. 2 „Kreative" Lernmaterialien? Maria Montessori und das schöpferische Kind

    5. 2. 3 „Innovative" Raumkonzepte? Das Münchner Lernhaus

    5.3 Räumliche Erfahrungen der Differenz – eine pädagogisch-phänomenologische Betrachtungsweise

    5.4 Vignetten als räumliche und zeitliche Narrationen des Lernens

    5.5 Bildende Lernräume (um-)gestalten

    5.6 Lernen verantworten. Eine erfinderische Verortung

    6. Überleitung. Oder: Der „Beinahe-Blick"

    7. Grenzfelder pädagogischer Professionalität: Pädagogische Verantwortung zwischen Eros und Ethos

    7.1 Verantwortung im Spannungsfeld von sexualisiertem Eros und pädagogischem Ethos – Eine Hinführung

    7.2 Verantwortung – ein pädagogischer Begriff?

    7.3 Landerziehungsheime – „Laboratorien der Zukunft? oder „Zauberberge eines berühmt-berüchtigten Eros?

    7.4 Der Fall Odenwald. Oder: (Ambivalente) Tabuisierungen

    7.5 Verantwortung weder nur abgeben noch nur übernehmen: Ein Paradox?

    8. Überleitung. Oder: Verantwortung von und für den Anderen

    VII. Resümee und Ausblick

    Literaturverzeichnis

    Evi Agostini

    Aisthesis – Pathos – Ethos

    Zur Heranbildung einer pädagogischen Achtsamkeit und Zuwendung im professionellen Lehrer/-innenhandeln

    Vorwort

    „We shall not cease from exploration, and the end of all our exploring will be to arrive where we started and know the place for the first time."

    T. S. Eliot 1974: 46

    Seit Jahren beschäftigt mich die Frage, wie (angehende) Lehrerinnen und Lehrer so aus- und weitergebildet werden können, dass „professionelles"¹ Lehrer/-innenhandeln möglich wird: Auf welchen Wegen, mit welchen Ansätzen und Method(ologi)en muss dafür in der Lehrer/-innenbildung² gearbeitet werden? Wie können (angehende) Lehrpersonen auf eine Zukunft vorbereitet werden, die niemand kennt und deren Profession immer auch von soziokulturellen und politischen Gegebenheiten, von wirkmächtigen Menschheitsidealen und gesellschaftlichen Sehnsüchten geprägt ist?

    Spreche ich mit (zukünftigen) Lehrerinnen und Lehrern, so spüre ich bei vielen eine große Unsicherheit, adäquate Antworten auf konkrete, kontextbezogene Fragestellungen zu finden. Dabei scheint es keine Suche nach so genannten schnellen Rezepten zu sein, die sie umtreibt. Bei vielen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner zeigt sich ein Einlassen auf situative Ansprüche und für sie fremde Herausforderungen, für welche sie kontextspezifische Antworten suchen. Viele der mir bekannten (angehenden) Lehrkräfte umtreibt noch eine andere, damit zusammenhängende Frage: Wie können sie achtsam sein und offen bleiben im Hinblick auf diese Ansprüche, mit denen sie tagtäglich in der Klasse konfrontiert werden? Welche (neuen) Antworten auf (alte) Fragen sind möglich, ohne sogleich durch schnelle Reaktionen ihrerseits im Entstehen Begriffenes im Keim zu ersticken?

    All dies sind Fragen, denen auch ich nachspür(t)e, zuerst als Lehrerin und später als Lehrer/-innenbildnerin, und auf welche das vorliegende Buch³ eine erste Antwort geben möchte. Zur Beantwortung dieser Fragestellungen dient vornehmlich eine pädagogisch-phänomenologische Sichtweise (vgl. z. B. Meyer-Drawe 2012a). Bereits im Rahmen meiner Dissertation zum Phänomen des Erfindens in der Erfahrung des Lernens (vgl. Agostini 2016a) hat sich diese erkenntnistheoretische und methodologische Rahmung im Zwischen von Präreflexion und Reflexion als äußerst produktiv erwiesen. Eine Mischung aus Präreflexion und Reflexion wünsche ich auch den vielen Lehrerinnen und Lehrern, deren Aufgabe vor allem darin besteht, Kinder und Jugendliche immer wieder aufs Neue für fachwissenschaftliche Inhalte zu begeistern. Dabei stehen sie vor der scheinbar paradoxen Herausforderung, ihren Schülerinnen und Schülern, aber auch den Gegenständen ihrer Unterrichtsstunde einerseits in einer präreflexiven Perspektive mit den damit verbundenen lebensweltlichen Bezügen zu begegnen und sich zugleich ihrer jeweiligen Blickweise bewusst zu sein bzw. zu werden. Diese Haltung zwischen Präreflexion und Reflexion, aber auch Sinnlichkeit und Vernunft bedeutet ein stetes Lernen. Dieses bringt es mit sich, sich immer wieder von Neuem von lieb gewonnenen Gewohnheiten verabschieden zu müssen.⁴

    Dass ich selbst neue Erfahrungswege beschreiten und dabei eine grundsätzliche Erfahrungsfähigkeit im Sinne einer (pädagogischen) Achtsamkeit und Zuwendung für das Fremde und Unbekannte – zumindest in Ansätzen – ausbilden durfte, verdanke ich vielen Menschen, allen voran meinen unterstützenden Eltern, aber auch meiner verständnisvollen Schwester, meinem ermutigenden Partner und meinen lieben langjährigen Freundinnen. Danken möchte ich auch den Kolleginnen und Kollegen an den Universitäten in Brixen, Innsbruck, Klagenfurt und Wien, insbesondere Herrn Univ.-Prof. Dr. Hans Karl Peterlini, Herrn Univ.-Prof. Dr. Siegfried Baur (i. R.) und Herrn Univ.-Prof. Dr. Michael Schratz (i. R.) sowie nicht zuletzt den vielen (angehenden) Lehrerinnen und Lehrern, mit denen ich arbeiten und von denen ich lernen durfte und nach wie vor darf.

    Bei Univ.-Prof. Dr. Käte Meyer-Drawe (i. R.) möchte ich mich zudem sehr herzlich für die Diskussion und kritische Lektüre vieler meiner Texte bedanken. Auch Regina Jaider, die wertvolle Lektorinnenarbeit geleistet hat und Alexandra Miltner, die mich in der Manuskripterstellung umfassend unterstützt hat, gebührt großer Dank. Ihnen allen möchte ich diese Publikation widmen!

    Evi Agostini, März 2020

    I. Erkenntnistheoretische Hinführung

    Dieses Buch untersucht das Verwobensein von Aisthesis⁵ und Ethos⁶ in ihrer Bedeutung für das Lernen, Lehren und Forschen von (angehenden) Lehrerinnen und Lehrern. Damit wird der Fokus auf das professionelle Handeln von Lehrerinnen und Lehrern im Spannungsfeld von (er-)kenntnisreicher Aisthesis und pädagogischem Ethos gelegt.⁷ Professionelles Lehrer/-innenhandeln, so die These vorliegender Arbeit, zeichnet sich durch eine besondere Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für fremde Ansprüche aus, eine Umlenkung der Blickrichtung, eine Hin- oder Zuwendung, ein bestimmtes „Ethos der Sinne" (Waldenfels 2006a: 103). Professionelle Lehrerinnen und Lehrer schauen hin, sie horchen auf und hören zu. Ihre Wahrnehmungen erhalten eine gewisse Bestimmtheit, wenn auch noch keine präzise Bedeutung. Dabei lassen sie sich insbesondere durch ihre engagierte Wahrnehmungsweise charakterisieren, die aufgrund ihres sinnlich-leiblichen Responsoriums allererst ermöglicht wird (vgl. Waldenfels 2000: 388 ff.; Meyer-Drawe 2001) und anhand von so genannten Vignetten⁸ (vgl. z. B. Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter 2012; Agostini 2016a; Baur & Peterlini 2016) – unabhängig von Alter und Schultyp – ausgebildet werden kann. Vignetten als Narrationen leiblicher Erfahrungsvollzüge, so die weiterführende These, vermögen in besonderem Maße eine Schulung des Blicks, im Sinne der Entwicklung einer genuinen Wahrnehmungssensibilität für Fremdes, Anderes und nicht zuletzt Eigenes, aber auch im Sinne einer grundsätzlichen Erfahrungsfähigkeit im Hinblick auf außerordentliche Ansprüche.⁹ Diese Wahrnehmungssensibilität kann einerseits anhand von Vignetten veranschaulicht und andererseits im Erfahrungsvollzug, im (wiederholten) Lesen und Schreiben von Vignetten(-Lektüren) geübt und in der Form einer ethisch-sittlichen Grundhaltung verfestigt werden.¹⁰ Damit soll aufgezeigt werden, dass Vignetten für professionelles Lehrer/-innenhandeln große Bedeutsamkeit erlangen können.

    Um die angeführten Thesen zu stützen, werden bereits veröffentlichte Beiträge bzw. Buchauszüge aus den Bereichen der (ästhetischen) Wahrnehmung und Erfahrung mit Blick auf insgesamt vier Themenfelder neu gegliedert, verknüpft und im Kontext der Lehrer/-innenbildung positioniert. Dabei wird der Versuch neuer Erkenntnisgewinnung unternommen: Anhand der forschungsleitenden Fragestellung zur Verwicklung von Aisthesis und Ethos wird dem Pathos¹¹ Rechnung getragen und im Hinblick auf die Bedeutung für professionelles Lehrer/-innenhandeln unter besonderer Berücksichtigung der Schwerpunkte Lernen, Lehren und Forschen diskutiert. In Frage steht, mit welchen Potenzialen und Herausforderungen dabei sowohl in anthropologischer als auch in institutioneller und hochschuldidaktisch-methodischer bzw. nicht zuletzt methodologischer Hinsicht zu rechnen ist und wie genau Vignetten als „Methoden" der Wahrnehmungsschulung für die Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer konkret fruchtbar gemacht werden können.

    Im kumulativen Teil der Arbeit entstehen dadurch Erörterungen auf der Grundlage früherer Texte und jüngerer Forschungszusammenhänge sowohl zu präreflexiv-leiblichen als auch zu reflexiv-ästhetischen Erfahrungsvollzügen im Kontext von phänomenologischen, pädagogischen, bildungsphilosophischen, praxis- und handlungstheoretischen Ansätzen. Professionelles Lehrer/-innenhandeln als institutionalisiertes Handeln umfasst Lernen, Lehren und Forschen als komplementäre, aufeinander bezogene und miteinander verwobene Erfahrungen. Dieser Gedanke wird insbesondere von der phänomenologischen Lerntheorie aufgegriffen, in lebensweltliche und koexistenzielle Bezüge eingebunden und erfahrungstheoretisch ausgewiesen.

    Phänomenologie selbst fängt mit der Frage an, was geschieht, wenn Erfahrungen „gemacht" werden – sei es im Alltag bzw. in einem lebensweltlichen Kontext, sei es in wissenschaftlich-methodischer Bemühung. Im Besonderen geht es dabei um die Frage, welcher Sinn, welche Gestalten, Strukturen und Regelungen in statu nascendi aufgehen. Dazu wird erfahren und artikuliert, wie sich „Welt – in vorliegender Arbeit die Welt des ästhetischen oder des ethischen Handelns und Erfahrens – in ihrer jeweiligen Logik in der Grundstruktur der Erfahrung, der phänomenologischen „Formel des „etwas als etwas" ausbildet. Ausgehend vom Ereignis der Erfahrung wird die mit allen zustoßenden Ereignissen verbundene Passivität ernst genommen – und damit einhergehend auch die Sphäre der Affektivität und des (Er-)Leidens. Eher als „gemacht werden diese Erfahrungen „durchgemacht, wobei sie sich der Alternative von Aktivität und Passivität, Aktion und Passion entziehen. Die pathische Struktur der Erfahrung betont geradezu das Pathos als das ereignishafte „Zustoßende, „An‐gehende, als „Affektion und „Widerfahrnis und verortet Erfahrung damit zwischen Aktivität und Passivität, Handeln und Erleiden.

    In einer pädagogisch-phänomenologischen Sichtweise wird (professionelles) Handeln von Lehrerinnen und Lehrern damit als erfahrungsbezogene Praxis bestimmbar, in der auch die vorreflexiven, passiven, nicht intentionalen und somit pathischen Aspekte in den Blick geraten. So geht dem Aufmerksamwerden stets etwas voraus: Etwas oder jemand fällt auf, stört, unterbricht, bietet einen Anblick oder erhebt einen Anspruch. Man wendet sich diesem etwas zu und richtet sein Augenmerk darauf. Vor allem pädagogisch-phänomenologische Betrachtungen rücken diese pathische Struktur sinnlicher Wahrnehmung und Erfahrung, die Umlenkung der Blickrichtung und das Aufhorchen in den Mittelpunkt (vgl. z. B. Meyer-Drawe 2013a). Damit zeichnet sich bereits in Ansätzen ab, dass Aisthesis und Ethos im Pathos verwickelt sind und als Aspekte professionellen Lehrer/-innenhandelns zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein, Präreflexivität und Reflexivität, aber auch zwischen den beiden Weltzuwendungen Sinnlichkeit und Vernunft anzusiedeln sind. Im (professionellen) Lehrer/-innenhandeln sind Aktivität und Passivität, Präreflexivität und Reflexivität, Vernunft und Affektivität, aber auch Autonomie und Heteronomie sowie Subjekt und Objekt unwiderruflich miteinander verwoben.

    1. Aisthesis und Ethos als Aspekte professionellen Lehrer/-innenhandelns

    „Es ist eine unabänderliche Tatsache, daß wir endliche Wesen sind, uns gelegentlich täuschen und immer in einer Welt leben, deren Komplexität unser Fassungsvermögen übersteigt. Wir müssen erst Wissen erwerben, um zu erfahren, dass es negierbar ist."

    Hauke Brunkhorst 1994: 135

    Im einleitend kritischen Überblick über aktuelle und außerordentlich wirkmächtige Forschungsansätze in der Lehrer/-innenbildung werden Grenzen und Herausforderungen der vorwiegend von der Kognitiven Psychologie dominierten Diskurse im Hinblick auf die Entwicklung eines neuen Verständnisses von professionellem Lehrer/-innenhandeln deutlich gemacht.

    1.1 Professionelles Lehrer/-innenhandeln – eine kritische Bestandsaufnahme

    In den überwiegend kognitionspsychologisch orientierten Überblicken über Theorie und Problemfelder der beruflichen Entwicklung von Lehrpersonen (vgl. z. B. Messner & Reusser 2000; Blömeke, Reinhold, Tulodziecki & Wildt 2004; Helsper & Böhme 2008), in denen Forschungsperspektiven in diesem Bereich aufgezeigt und Konsequenzen für die Grundausbildung bzw. die Berufslaufbahn von (angehenden) Lehrpersonen diskutiert werden, wird davon ausgegangen, dass die berufliche Entwicklung von Lehrerinnen und Lehrern mit der Grundausbildung beginnt und sich über die ganze Spanne der Berufslaufbahn erstreckt.¹² Diese berufliche Entwicklung wird auf der einen Seite vom Berufsbild und den beruflichen Anforderungen her definiert, auf der anderen Seite von der subjektiven Bewältigung dieser Anforderungen. Dabei werden meist unterschiedliche, aufeinander aufbauende Entwicklungsphasen unterschieden, die von einem Novizinnen- bzw. Novizen-Stadium hin zu einem Expertinnen- bzw. Experten-Stadium verlaufen und auf der Seite der Lehrerinnen und Lehrer einen Erwerb zunehmender Expertise zur Folge haben. Das hauptsächliche Ziel besteht dabei darin, den Anforderungen unterschiedlicher berufsspezifischer Entwicklungsaufgaben immer besser gewachsen zu sein (vgl. z. B. das Stufenmodell des Lehrenlernens nach Fuller & Brown 1975 und in Anlehnung dazu Terhart, Czerwenka, Ehrich & Jordan 1994, aber auch das „Novizen-Experten-Paradigma" zum sukzessiven Aufbau von professionellen Fähigkeiten und von professionellem Wissen,¹³ vgl. Berliner 1988 und Dreyfus & Dreyfus 1987, aber auch Bromme 1992: 96 ff.).¹⁴

    Diese Idealmodelle der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz fokussieren somit vorwiegend die hauptsächlichen Ziele, Sorgen und Herausforderungen der Anfängerinnen und Anfänger hin zur entwickelten Lehrperson und gehen zudem ganz selbstverständlich davon aus, dass sich Expertinnen und Experten des Lehrens insbesondere durch eine zunehmend progressive Haltung,¹⁵ Handlungssicherheit und Routine charakterisieren lassen.¹⁶ Zugleich wird unter forschungsmethodologischen Gesichtspunkten eingeräumt, dass es nicht möglich sei, diese Entwicklung hin zum Meisterstadium anhand von Prädiktoren verlässlich vorherzusagen (vgl. Messner & Reusser 2000: 160). Helmut Messner und Kurt Reusser (2000: 168 f.) kommen zu dem Schluss:

    „Mit der Vermittlung formaler Kompetenzen bzw. Schlüsselkompetenzen und allgemeiner Strategien, mit denen sich vermeintlich alle Probleme – unabhängig vom Realitätsbereich – lösen lassen, ist es bekanntlich nicht getan; in der konkreten Situation taugen sie wenig […]. Deshalb spielt für die Vorbereitung auf den erfolgreichen Berufseinstieg insbesondere die gegenseitige Durchdringung von Theorie und Praxis eine zentrale Rolle. Weder ein isoliertes Modelllernen in der Praxis noch eine abgehobene pädagogisch-didaktische Ausbildung sind für den Berufseinstieg hilfreich. Lehren ist eine regelgeleitete, nicht regelgebundene Praxis […]. In der Grundausbildung sollen dementsprechend die leitenden Prinzipien sichtbar gemacht und nicht nur richtige Lösungen vermittelt werden. Unterstützt wird eine so verstandene Grundausbildung durch eine offene, experimentelle Einstellung zum eigenen Handeln und zur Praxis […]."

    In einer vorwiegend kognitionspsychologisch dominierten Sichtweise scheint die Kunst des Unterrichtens einerseits darin zu bestehen, für jede praktische Situation in ihrer Konkretheit angemessene Handlungen zu wählen wie auch die eigenen konkreten Handlungen der jeweiligen Schülerin bzw. dem jeweiligen Schüler, aber auch dem jeweils aktuellen und vorherrschenden Inhalt, Wissensstand und Erziehungsziel anzupassen. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem der Inhalt und die Organisation des Wissens (vgl. Bromme & Haag 2008: 805 f.). Andererseits wird in diesem Zusammenhang immer wieder betont, dass eine offene Haltung für erfolgreiches Unterrichten auf der Seite der Lehrperson Voraussetzung sei. Wie dies in Kombination mit zunehmender Handlungssicherheit möglich sei, wird nicht thematisiert. Zudem, so die Forderung, dürfe das Verhältnis von Theorie und Praxis nicht als Anwendungsverhältnis bestimmt werden, weshalb Rezeptwissen wenig hilfreich sei. Dennoch erhält man in der Analyse vieler kognitionspsychologischer Modelle zur Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz häufig den Eindruck, dass Theorie eine Theorie aus der Praxis für die Praxis sein soll oder aber Theorie und Praxis bruchlos ineinander übergehen sollen.

    Vor allem in Veröffentlichungen zur Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern der vergangenen zehn Jahre (vgl. z. B. Bromme & Haag 2008: 804 ff.; Abel & Faust 2010) wird folgendes deutlich: Die Lehrer/-innenbildung hat sich im Hinblick auf professionsrelevante Fragestellungen von einem vormals statischen Verständnis – mit Fokus auf den stabilen Faktor Lehrer/-innenpersönlichkeit¹⁷ – über eine technizistisch ausgeprägte Sichtweise – wobei insbesondere Methoden der Wissensvermittlung und des zu erlernenden Wissens als Produkt fokussiert werden – hin zur Kompetenzorientierung entwickelt. Bei der Orientierung an Kompetenzen steht die Umsetzung des Wissens in Können im Vordergrund. Ferner hat sich in den letzten Jahren in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern ein weiteres Forschungsfeld aufgetan, das sich um professionelle Unterrichtswahrnehmung dreht (Professional Vision, vgl. z. B. Goodwin 1994). Es folgt der Einsicht, dass sich Lehrerinnen und Lehrer jeden Tag in Situationen behaupten müssen, in denen unterschiedlichste Einflüsse auf sie wirken. Die Lehrkraft müsse diese komplexen Einflüsse „filtern", um zu entscheiden, worauf ihre Aufmerksamkeit gelenkt werden solle. Unser Wissen bestimme unsere Wahrnehmung: Wer im Gewühl des Unterrichtsgeschehens Relevantes sehen will, muss zunächst professionelles Wahrnehmen lernen, so die damit verbundene Annahme. Als Folge davon wird das Beobachten und Verstehen von relevanten Situationen im Unterricht als Schlüsselkomponente von Lehrerinnen- und Lehrer-Expertise angesehen (vgl. Sherin, Russ & Colestock 2011; siehe dazu auch Blömeke, Gustafsson & Shavelson 2015).

    Neben Videos zur Analyse, Förderung und Reflexion von Wahrnehmungskompetenz (vgl. z. B. Helmke & Helmke 2004; Hellermann, Gold & Holodynski 2015; Mayer-Frühwirth 2017; Barth 2017), die teilweise noch sehr stark von einem von der empirischen Bildungsforschung dominierten Diskurs geprägt sind, spielen auch qualitative Fallbeispiele¹⁸ (in der Form von so genannten Fallvignetten siehe z. B. Petko & Reusser 2004, zu „Kinderportraits bzw. zur „Kind-Umfeld-Analyse siehe z. B. Lemke 2007: 175) bzw. nicht zuletzt phänomenologisch orientierte Vignetten (vgl. z. B. Agostini 2017a) bzw. (szenische) Vignetten-Lektüren (vgl. Peterlini 2017) im Hinblick auf die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen eine zentrale Rolle. Parallel dazu wird nach wie vor mit analogen und digitalen Portfolios experimentiert, die Reflexionsprozesse bei (angehenden) Lehrerinnen und Lehrern systematisch anregen, anleiten und begleiten sollen.¹⁹

    Diese Blickverschiebung hin zu einer Schulung der professionellen Wahrnehmung im Kontext der Lehrer/-innenbildung hat einerseits mit einer Veränderung des Lern- und Lehrverständnisses – von stärker behavioristisch (vgl. z. B. Skinner 1968) oder kognitiv bzw. kognitionspsychologisch²⁰ (vgl. z. B. Berliner 1988) geprägten Sichtweisen hin zu konstruktivistischen Annahmen von Lernen (vgl. z. B. Helmke 2012) – zu tun. Andererseits kann diese auch als Symptom dafür gelesen werden, dass Lehrer/-innenbildung – und ihre Versuche der unmittelbaren Steuerung von Lehrer/-innenhandeln und Einflussnahme auf das Lernen der Lehrkräfte, aber auch jenes der Schülerinnen und Schüler – selbst an ihre Grenzen gekommen und einem grundlegenden Wandel unterworfen ist (vgl. Kraler, Schnabel-Schüle, Schratz & Weyand 2012). Nach wie vor steht in Frage, wie Lehrerinnen und Lehrer im Spannungsfeld von unterrichtspraktischen und (fach-)wissenschaftlichen Ansprüchen bestmöglich ausgebildet werden können (vgl. dazu z. B. Prenzel, Sälzer, Klieme & Köller 2013).

    Zu betonen ist, dass der Großteil der Studien zur professionellen Wahrnehmung²¹ im Besonderen nach wie vor dem kognitionspsychologischen Expertinnen- und Experten-Ansatz und dem Paradigma der Ko-Konstruktion (vgl. z. B. Krammer & Reusser 2005: 40 f.) bzw. dem wissensbasierten Konstruktivismus (vgl. Reinmann & Mandl 2006) verpflichtet sind. So wird die Wirkung des Wissens von Expertinnen und Experten meist „als eine Veränderung der kategorialen Wahrnehmung von Unterrichtssituationen" (Bromme 1997: 199) definiert. Im Zentrum stehen damit vor allem die kognitive Verarbeitung kategorialer Wahrnehmungsprozesse sowie die Frage nach der Reflexion über pädagogisch produktiven und wirksamen Unterricht (vgl. Krammer & Reusser 2005: 40 f.).²²

    Betrachtet man hingegen die Diskurse rund um Lehrer/-innenprofessionalität im Allgemeinen, so wird auch hier vor allem das zielgerichtete Handeln und die aktiv-kognitive Strukturierung des Handlungsraumes betont. Dabei wird professionelles Lehrer/-innenhandeln vorwiegend als Ablauf von Denkprozessen und handlungsbezogenen Kognitionen bestimmt. Für die erfolgreiche Gestaltung von Lerngelegenheiten werden meist Wissen und Können oder vielmehr deren Verknüpfung in den Mittelpunkt gestellt, d. h. die Umsetzung von Wissen in Können (vgl. Bromme & Haag 2008: 804). Lehrer/-innenhandeln wird dabei vorwiegend als das Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung mit Unterrichtssituationen aufgefasst (vgl. Dann 2000). Obgleich das Prozess-Produkt-Paradigma²³ (vgl. z. B. Shulman 1986b; Bromme 1997) mit seinen behavioristischen Elementen allgemein als überholt gilt, stützen sich auch neuere Konzeptionen explizit oder implizit immer noch darauf, beispielsweise in der Form von Wirkungsuntersuchungen zur Lehrer/-innenbildung, wobei die Folgen der Lehrer/-innenkompetenzen bis hin zu den Wirkungen bei den Schülerinnen und Schülern untersucht werden (vgl. z. B. Abel & Faust 2010). Betont werden zudem die Bedeutsamkeit der Flexibilität der Handlungen und die dadurch bedingten und notwendigen unbewussten Entscheidungen auf der Seite der Expertinnen und Experten. Damit einher geht das Ziel einer Reduktion der kognitiven Beanspruchung sowie die Bildung und Entwicklung von Routinen. Hervorgehoben wird auch die zeitliche Erfahrung (im Sinne eines Lernens durch Erfahrung, vgl. z. B. Dewey 2000²⁴) für das Erlernen von Routinen und die Entwicklung von Handlungsexpertise. Während das genaue Verhältnis von wissenschaftlichem Wissen und praktisch-pädagogischem Handeln als (noch) unklar deklariert wird, wird die Kompetenz zum lebenslangen Lernen durchgängig propagiert (vgl. z. B. Europäische Kommission 2007: 14 ff.).

    Es zeichnet sich bereits in Ansätzen ab, dass sowohl die Annahmen zum Lernen als auch das damit verbundene Subjektverständnis, d. h. die gesellschaftlichen Ideale vom Menschen im Hinblick auf die Fassung und Ausgestaltung des Lehrens eine maßgebende Rolle spielen und zudem soziopolitischen Rahmenbedingungen und Veränderungen unterworfen sind (vgl. hierzu insbesondere Künkler 2011). Dabei müssen der beruflichen Tätigkeit von Lehrpersonen bedeutsame gesellschaftliche Funktionen zugeschrieben werden (vgl. Reichenbach 2013; 2018).

    In der derzeitigen starken Orientierung an einem konstruktivistischen und neurowissenschaftlichen Verständnis von Lernen und Lehren (vgl. z. B. Spitzer 2002; Stern, Grabner und Schuhmacher 2005; Schermer 2006; Helmke 2012) und angesichts der Prominenz neoliberaler Konzeptionen (vgl. dazu z. B. die Kritik von Bröckling 2007) zeigt sich zudem die Tendenz, durch die Charakterisierung der „Lernende[n] als Systeme der Selbststeuerung (Meyer-Drawe 2013b: 90) sowie der davon abgeleiteten Rolle der Lehrenden als Lernbegleiterinnen und -begleiter bzw. als „Coaches, diesen lediglich „Angebote" zu unterbreiten (siehe dazu insbesondere die Kritik von Meyer-Drawe 2013b: 90 ff.). Professionelles Handeln zeigt sich vor diesem Hintergrund vor allem darin, die Lernenden durch ein ausgewogenes, zurückgenommenes Maß an Instruktion und die Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedingungen von Unterricht in ihrem individuellen Lernprozess zu begleiten. Dafür stellen sie den Lernenden attraktive Lernangebote zur Verfügung, sodass sich diese mit den Lerninhalten selbständig auseinandersetzen, deren Inhalte erschließen und Zusammenhänge entdecken können. Die Inhalte sollten dafür strukturiert und leicht explorierbar dargestellt werden, damit die Lernenden an ihr Vorwissen anknüpfen und eigenverantwortlich ihr subjektives Wissen konstruieren können.

    In all diesen Konzeptionen rund um Lernen, Lehren und Forschen wird nach wie vor auf Lehrer/-innenseite wie auch auf Seite der Schülerinnen und Schüler deren passive, pathische Struktur wenig betont. Kaum Berücksichtigung finden somit vorreflexive, sinnlich-leibliche Wahrnehmungen und Erfahrungen, die professionelles Lehrer/-innenhandeln allererst bedingen – und letztlich auch stets begleiten.

    1.2 Vom aisthetischen und ethischen Handeln hin zum responsiven Ausdruck einer pathischen Erfahrung

    „Ist es heute üblich, den gesamten Bereich menschlicher Tätigkeiten ‚als den genuinen Gegenstand der Kulturwissenschaft‘ anzusehen, so wird mit dieser voraussetzungsvollen Grenzziehung all dasjenige vernachlässigt, was sich […] in der Bedeutung von Widerfahrnis, Passivität und Leidenschaft versammelt. Eine solche Privilegierung der Handlungs- und Herstellungskategorien führt zum Ausschluss alles dessen, was als Affekt und Ereignis nicht nur jede Tätigkeit in unterschiedlicher Weise begleitet, sondern auch als Anstoß und Ermöglichungsgrund menschlicher Praxis und Poiesis in Betracht gezogen werden muss."

    Kathrin Busch und Iris Därmann 2007a: 7

    Nachfolgend wird der Versuch unternommen, (professionelles) Lehrer/-innenhandeln neu und anders als vorangehend beschrieben auszufalten. Dabei werden jene (erkenntnis-)theoretischen Referenzpunkte aufgezeigt, die auch in den einzelnen Beiträgen – explizit oder implizit – eine elementare Rolle spielen. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Konzeption des Handelns nach Aristoteles (1999; 2003). Weiterführend wird die Handlungstheorie²⁵ von Hannah Arendt (vgl. v. a. 1981: 165 ff.)²⁶ – die sich u. a. auf Aristoteles bezieht²⁷ – aufgegriffen, um insbesondere die Bezogenheit und Verwobenheit des Handelns im Hinblick auf ein intersubjektives, plural verfasstes Bezugssystem deutlich zu machen. Nur dadurch wird die erfinderische Generierung von Neuem überhaupt fassbar. Abschließend wird – unter Bezug auf Maurice Merleau-Ponty (vgl. z. B. 1966a; 2004) und der Weiterführung seiner Erkenntnisse durch Bernhard Waldenfels (vgl. z. B. 2000; 2002) und Käte Meyer-Drawe (vgl. z. B. 2010; 2012a) – die Brücke hin zu einem antwortenden bzw. responsiven Handeln als Ausdruck der Erfahrung und damit hin zu einem Lernen, Lehren und Forschen als Erfahrung geschlagen. Wie zu zeigen sein wird, ist Dreh- und Angelpunkt all dieser Erfahrungen das Pathos. In all diesen Konzeptionen wird zudem die Bedeutung nicht-propositionaler Wissensformen sowie die kontextuelle und situative Verankerung menschlicher Sinngenerierung betont (vgl. z. B. Lippitz 1987: 110).

    1. 2. 1 Ethische Haltung. Oder: Aristotelische Konzeption des Handelns zwischen Aisthesis und Ethos

    Die Erfahrung erwächst den Menschen aus dem Erinnerungsvermögen: viele Erinnerungen an einen und denselben Sachverhalt machen die Kraft einer Erfahrung aus."

    Aristoteles 2003: 980b

    Mit Aristoteles (1999; 2003) steht insbesondere das zweckbefreite, praktisch-gute Handeln, also die Praxis und ihre Bezogenheit auf Aisthesis und Ethos im Vordergrund.²⁸ Den Praxisbegriff reserviert Aristoteles dabei für all jene Hand-lungen, die direkt die sittliche Lebensgestaltung betreffen. Das Ziel liegt in der Realisierung des menschlichen Potenzials, d. h. richtig und gerecht zu handeln (vgl. Aristoteles 1999: 1140a-1140b). Aristoteles (vgl. 1999: 1103a-1103b) fundiert dieses Handeln sowohl in der sinnlichen Wahrnehmung (aisthesis) als auch in der Erfahrung (empeiria). Mit ihm kann deutlich gemacht werden, dass es aufgrund der sinnlichen Wahrnehmung und Erfahrung ein praktisches Wissen gibt, das sich im Körper ablagert. Dieses besitzt man aufgrund von Ethos im Sinne einer sittlichen Gewohnheitsbildung, welche zu einer „Haltung" ausgebildet werden kann. Diese ethische Haltung befähigt den konkreten Einzelfall zu beurteilen (vgl. Aristoteles 2003: 980b-981a). Diese aristotelische Konzeption des Handelns, bei welchem der (bruchlose) Gang des Lernens als ein Übergang von einem Nicht-Wissen hin zu einem gesicherten Wissen gefasst werden kann, kennt jedoch kein Pathos: Mit Aristoteles kann damit nicht deutlich gemacht werden, wie es möglich ist, von einer (lieb gewonnenen) Gewohnheit wieder abzuweichen, um neue (propositionale oder nicht-begriffliche) Erkenntnisse zu erlangen.²⁹ Mit einem zu starken Bezug auf Aristoteles besteht somit die Gefahr, den konservativen Grundzug menschlicher Praxis zu verharmlosen.

    „Handeln sucht seine Sicherheit in der Bestätigung und im Erfolg. Der Vollzugssinn von Praxis ist nicht getragen von dem Aufklärungswillen eines thematisierenden Bewußtseins, sondern von dem Willen, sich zurechtzufinden, sich zu verständigen, kurz: die Ziele zu erreichen, die man anstrebt. Handeln ist dabei nicht blind, sondern selbstbezogen, reflexiv in einem eigenen, vortheoretischen Sinn" (Meyer-Drawe 1984: 253).

    Erst der Einbezug eines chiastischen Ineinander, das zwischen Praxis und Pathos, Handeln und Leiden besteht, verbietet den Gedanken eines bei sich selbst anfangenden aktiven Bewegers bzw. Handelnden, den auch Hannah Arendt (1981) in ihrer Handlungstheorie teilweise noch im Blick hat.

    1. 2. 2 Die intersubjektive Bezogenheit des Handelns. Oder:

    Entstehung und Vollzug des Neuen nach Hannah Arendt

    „Initium ut esset, creatus est homo – damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, sagt Augustin. Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen."

    Hannah Arendt 2006: 979

    Mit Hannah Arendt können vor allem die Bedingungen der Möglichkeiten des (erfinderischen) Handelns, aber auch sein Vollzug erörtert werden. Thematisiert wird dabei insbesondere die Bedeutung des intersubjektiven Zwischen als menschliches Bezugssystem und die Notwendigkeit der Natalität und Pluralität für jegliches Handeln. Letztere ermöglichen es, dass (aktives) Handeln im gesellschaftlichen Miteinander entsteht bzw. überhaupt Sinnhaftigkeit beanspruchen kann. Aus dem Zwischen oder Raum der Intersubjektivität geht wiederum allererst der einzelne Mensch mit seinen singulären Handlungen hervor. Auch Wilfried Lippitz (2001: 147) betont, dass Handlungen im „Zwischenreich der Interaktionen bzw. in den Zwischenwelten der Medien" anzusiedeln sind. Da die Handlungstheorie nach Arendt (1981) in den einzelnen Beiträgen³⁰ lediglich schemenhaft zum Zug kommt, erfährt diese nachfolgend eine ausführliche Erörterung.

    Der Grundpfeiler des Handelns nach Hannah Arendt (1981) ist die menschliche Geburt, welche sie als wichtigstes Ereignis des Anfangen-Könnens beschreibt. Ihre Philosophie der Gebürtlichkeit bzw. die existentielle Bedingung der Natalität³¹ betrachtet die Menschen als Initiale des Lebens (vgl. Arendt 1981: 165). Während die Menschen in der Form einer ersten Geburt geboren werden, „schalten" (Arendt 1981: 165) sich diese in der Form

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