Gunst: Eine absurde Abfolge
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Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall ist das Leben der selbstbewussten G in Ostdeutschland wieder so unterdrückt und unfrei wie zur Zeit des Nationalsozialismus.
Liegt das daran, dass die ethisch geprägte Westdeutsche mit ihrem Wohnsitz in einem der neuen Bundesländer als Feindin aufgefasst wird?
Respektlosigkeit vor den humanistischen Werten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 führte zu gewaltenübergreifender Diskriminierung, zu Korruption und Terror.
Die Bezeichnung „Rechtsstaat“ scheint in diesem neuen Bundesland ein bedeutungsloses Fremdwort geblieben zu sein.
Petra Deckart blickt in die literarische Zeit des Existenzialismus im von den Nationalsozialisten besetzten Frankreich (1940-44) zurück, um den kultivierten Bürgerinnen und Bürgern in Ost und West 30 Jahre nach der Wiedervereinigung die Augen für den die liberale deutsche Gesellschaft zersetzenden Neofaschismus zu öffnen.
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Book preview
Gunst - Petra Deckart
Vorspiel
Im Element
Heute ist der 5. Tag an dem der Mistral heftig über das felsige, mit niedrigen Sträuchern und Pinien bewachsene Inselland weht.
Übrigens stürmt er nicht stärker als die westlichen Winde im Frühjahr und im Herbst an der Nordsee.
Sie - eine vor vielen Generationen vertriebene Hugenottin - fühlt sich hier wie Zuhause, sitzt jedoch im Hafen der Iles de Frioul, gegenüber von Marseille, mit Blick auf das Château d’If und auf Notre Dame de la Garde - das Wahrzeichen der Kulturhauptstadt Europas von 2013 - auf einer Bank und wartet.
Worauf wartet eine seriöse Frau, die im Leben alles erreicht hat, was sie erreichen wollte und sogar noch ein bisschen mehr?
Der Mistral pfeift in ihren Ohren, die Fahnen und Schnüre an den Segelmasten flattern und heulen im peitschenden Sturmwind.
Das Mittelmeer prallt krachend auf die Felsen der Inseln, die Fährschiffe bleiben wild schaukelnd im Hafen liegen und können nur sporadisch hinausfahren, weil das Risiko, von einer Monsterwelle erfasst zu werden, sehr hoch ist.
Es ist so stürmisch, dass keine Vögel in der Luft sind und sich die Zikaden verkrochen haben.
Die Atmosphäre erzittert.
Im Windschatten ist es sehr heiß und es duftet nach Pinien.
Schöner kann die Septembersonne kaum scheinen, um sich in der Bucht von Marseille in allen Farbnuancen zu reflektieren.
Dennoch sehnt Sie sich wartend - wonach oder nach wem?
Ein tollkühnes Segelboot durchschneidet die Sonnenbahn auf dem Golfe du Lion und eine vereinzelte Möwe tanzt im Sturmwind, biegt und windet sich mit der Thermik.
Der Ausblick auf die zweitgrößte Stadt Frankreichs mit der Kirche auf dem Felsmassiv über der Einfahrt in den Alten Hafen ist malerisch.
Augenscheinlich fehlt Ihr nichts.
Dennoch wartet Sie.
Geduld, Beharrlichkeit und innere Ruhe, die einen guten Kapitän auszeichnen, sind auch Ihre Eigenschaften.
Fremder Leute Probleme, die Ihr willkürlich auferlegt worden sind, sieht Sie - eine siegreiche Ausdauersportlerin - als Herausforderungen an, die gemeistert werden müssen, genau so wie der Kapitän eines Schiffs das vom Mistral gepeitschte unberechenbare Mittelmeer bezwingen muss.
Sprachlose Aufmerksamkeit ist auf die Naturgewalten gerichtet.
Immer bereit, sofort auf eine neue Situation richtig zu reagieren.
Ein Fährschiff sticht jetzt durch das brausende Meer.
Die darauf folgende Brandung übertönt den Septemberwind.
Gischt spritzt Ihr auf die Lippen.
Das Salz, viel milder als das der Nordsee, schmeckt herrlich.
Ihre Haare werden vom Wind zerzaust.
Sie wirkt glücklich.
Tränen sammeln sich in Ihren Augenwinkeln.
Gegenüber - auf dem Château d’If - saß im Abenteuerroman von Alexandre Dumas der Graf von Monte Christo jahrzehntelang unschuldig in Haft; um die Ecke - vor der Ile de Riou - stürzte 1944 der Pilot Antoine de Saint-Exupéry, von Nazi-Deutschen abgeschossen, mit seinem Flugzeug ins Mittelmeer.
Und was ist Ihr Schicksal?
Plötzlich lugt er um die Ecke - der Fährmann.
Er fordert Sie zur letzten Überfahrt auf: „Darf ich bitten, Madame?"
„Wenn es denn sein muss", stöhnt sie, bäumt sich auf, wandelt sich zur gewaltigen Sturmwelle, senkt sich herab, um dann tief seufzend mit dem tosenden Meer der Ewigkeit eins zu werden …
> le chant du cygne <
(Schwanengesang)
II
Hauptteil
Dreizehn Oktobertage
1
Es ist nicht das Land wo die Zitronen blühen von welchem sie seit jeher träumt. Vielmehr ist es das Land gleich nebenan.
Wie Goethe sein Italien, so hat die G ihr Frankreich. „Wat den Eenen sin Uhl‘, ist den Annern sin Nachtigall", lautet ein plattdeutsches Zitat von Fritz Reuter.
Das Land in welchem die helle Kalksteinküste in der Sonne vom blauen Mittelmeer weich umspült und daher Côte d’Azur genannt wird.
Hier zieht es sie immer wieder her und das bereits seit Jahrzehnten.
Bei sanft auslaufender Dünung trainiert auf beinahe spiegelglattem Wasser ein Doppelzweier. Das Ruderboot zerteilt die glitzernde Sonnenspur und zieht seine eigene Bahn.
Dieser Anblick erinnert die G an 1992 in Berlin-Grünau, wo sie auf der für Westdeutsche bis zum 09. November 1989 unerreichbaren Olympiaregattastrecke von 1936 - ein Mythos - Deutsche Hochschulmeisterin im Doppelzweier geworden ist. Zwei Wochen später gewann sie dort auch noch ein 10km-Langstreckenrennen im Doppelvierer mit Steuerfrau. Dieses Ehrenrennen fand zur Feier des 100. Geburtstags des Weltruderverbands F.I.S.A. - heute Worldrowing - im wiedervereinten Deutschland statt. Die G nutzte die Stunde und gewann mit drei ehemaligen KGB-Olympionikinnen aus St. Petersburg die selten verliehene Zentenarmedaille.
Putins Freundinnen sei Dank. Mit diesem russisch-deutschen Sieg gingen sie in die Weltgeschichte ein: Frauen konnten 1992 erstmals im von Männern quantitativ dominierten Sport eine Weltauszeichnung erlangen, die qualitativ so hoch ist, dass kein Ruderer ihnen zu Lebzeiten das Wasser reichen kann. Höchstens gleichziehen, aber erst 2092.
Und das ist definitiv die einzige positive Seite des Kommunismus (im Leninismus): die Emanzipation der Frau.
Aller guten Dinge sind drei: nachdem Napoleon I. 1812 und der „Größte Führer aller Zeiten" (GröFaZ = Adolf Hitler) 1941 in zwei Kriegen an Moskau gescheitert waren, holte sich die G 1992 in Friedenszeiten ihren sportlichen Welterfolg gemeinsam mit Russland.
„Was kostet diese Welt?", fragte sich das Ruderass.
Eine frustrierende WM-Final-Teilnahme als Juniorin 1983 (ohne den gedopten Ostblock: DDR und Bulgarien, hätte sie eine ehrliche Bronzemedaille gewonnen gehabt), die 1992 als sogenannte Veteranin - nach neunjähriger Berufs- und Bildungspause - zur Zentenarmedaille des Weltruderverbands führte!
„Urbi von der Heimatstadt mit einer Ehrenurkunde und der dazugehörenden „Silbermedaille 1983
für hervorragende sportliche Leistungen sowie „@orbi" vom Weltruderverband F.I.S.A. zu seinem 100. Geburtstag mit der Zentenarmedaille für den Sieg im Ehrenrennen in Berlin-Grünau gewürdigt.
Neben der Urkunde ihres hugenottischen Vorfahren (ein ungarischer Husar aus Budapest) - von Kaiser Wilhelm I. für die siegreiche Schlacht um Paris im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 verliehen - glänzen mehr als ein Jahrhundert später ihre eigenen Trophäen.
Das geerbte Siegergen kann nicht verleugnet werden.
Weibliche Effizienz ist, mit minimalem Aufwand in nur zwei bedeutsamen internationalen Endläufen in zwei verschiedenen Bootsgattungen (1983, Juniorinnen-WM-Riemenvierer mit Steuerfrau: JF 4+ und 1992, Veteraninnen-Ehren-Doppelvierer mit Steuerfrau: VF 4x+) den größtmöglichen Erfolg erreicht zu haben. Im Grunde hat die G lediglich zwei Jahre intensiv trainiert: die Saisons 1982/1983 und 1991/1992. Was hätte sie bei längerem Trainingsaufwand wohl noch alles erreicht? In Ostfriesland konnte eine junge Ruderin Anfang der Achtzigerjahre ohne ein eigenes Boot und ohne Sponsoring aus der freien Wirtschaft gar nichts erreichen, also wechselte sie in den allgemeinen Berufsalltag und erlernte 1984-1986 den Beruf der Hotelfachfrau. An ein professionelles zeitaufwändiges Rudertraining war parallel zu dieser unterbezahlten Knochenarbeit nicht zu denken. Dennoch war es eine wertvolle Lebenserfahrung.
Anmerkung: Die Zentenarmedaille des Weltruderverbands von 1992 ist nicht einmal mit dem Nobelpreis vergleichbar, denn dieser wird zum einen von einer schwedischen Jury in Schweden (Ausnahme: der Friedensnobelpreis) und zum anderen jährlich neu vergeben.
Bevor die G ihre Zentenarmedaille vom Weltruderverband erhalten hat, wurde einzig Kaiser Wilhelm I. - allerdings posthum - anlässlich des Wassersport-Festtags am 19.