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Das Implantat
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Das Implantat

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About this ebook

Alexander und Gregor sind sechzehn Jahre alt, Zwillinge und sie sind gehörlos. Sie genießen ihr Zuhause mit der einfachen Kommunikation in Gebärdensprache und kämpfen gemeinsam im hörenden Umfeld ihrer Schule. Sie spielen beide Handball in einer Gehörlosenmannschaft und haben die gleichen Freunde. Sie sind immer zusammen. Alles scheint sortiert, bis Alexander plötzlich den Wunsch nach einem Cochlea Implantat äußert und Gregor nicht mitziehen will.
LanguageDeutsch
PublisherTWENTYSIX
Release dateSep 21, 2020
ISBN9783740777470
Das Implantat
Author

Beate Winkler

Beate Winkler, 1973 geboren in Hamburg, studierte Medizin in Lübeck. Ihre Weiterbildung zur Kinderonkologin absolvierte sie in Tübingen und Würzburg. Seit 2015 lebt sie mit ihren zwei Söhnen in ihrer Heimatstadt. Sie arbeitet weiterhin als Ärztin und schreibt in ihrer Freizeit. 2016 erschien die Trilogie "Viersamkeit, Flucht in die Zweisamkeit, Aus der Einsamkeit". 2020 der Roman "Der eigene Weg", die Vorgeschichte zu diesem Buch.

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    Das Implantat - Beate Winkler

    Alexander und Gregor sind sechzehn Jahre alt, eineiige Zwillinge, die sich äußerlich so gleichen, dass sie immer wieder verwechselt werden. Sie sind beide von Geburt an gehörlos. Sie genießen ihr Zuhause mit der einfachen Kommunikation in Gebärdensprache und kämpfen gemeinsam im hörenden Umfeld ihrer Schule. Sie spielen beide Handball in einer Gehörlosenmannschaft und haben die gleichen Freunde. Sie sind immer zusammen und trotz ihres unterschiedlichen Charakters - Alexander ist lebhaft und interaktiv, Gregor der Stillere - haben sie eine enge Beziehung. Alles scheint sortiert, bis Alexander plötzlich den Wunsch nach einem Cochlea Implantat äußert und Gregor nicht mitziehen will. Für Alexander ist es schwierig, den Wunsch gegenüber seinem stummen Vater durchzusetzen. Gregor lernt völlig unerwartet die hörende Pia aus seiner Klasse näher kennen und kämpft darum, seinem Bruder und seiner Freundin zu vermitteln, warum die Implantation für ihn nicht in Frage kommt.

    Beate Winkler, 1973 in Hamburg geboren, studierte Medizin in Lübeck. Ihre Weiterbildung zur Kinderonkologin absolvierte sie in Tübingen und Würzburg. Seit 2015 lebt sie mit ihren zwei Söhnen in ihrer Heimatstadt. Sie arbeitet weiterhin als Ärztin und schreibt in ihrer Freizeit. 2016 erschien die Trilogie »Viersamkeit, Flucht in die Zweisamkeit, Aus der Einsamkeit«. 2020 veröffentlichte sie den Roman »Der eigene Weg«, die Vorgeschichte zu dem aktuellen Buch.

    Prosper Menière [Anstaltsarzt der Gehörlosenschule in Paris] sprach es offen aus: »Die Gehörlosen glauben, sie seien in jeder Hinsicht unseresgleichen. […] Doch was immer sie glauben mögen, Taubheit ist ein Gebrechen, und wir sollten es beheben.«

    Wird je der Tag kommen, an dem es überflüssig sein wird, das Unmoralische und Gefährliche dieser Ansicht herauszustellen? Hören Sie also: die Taubstummen stehen auf gleicher Stufe mit allen Menschen. […] Taubheit ist ein Gebrechen für manche, eine Quelle der Kraft für andere, bloße Existenzbedingung für die meisten. Sie ist Bedingung meines Seins. Ich bin, was ich bin. Ich habe getan, was ich als meine Pflicht betrachtete. Ich habe nicht den Wunsch, irgendjemand anderes oder irgendetwas anderes zu sein, und ich hatte ihn nie.

    Laurent Clerc (1786-1869), in »Mit der Seele hören« von Harlan Lane

    Inhaltsverzeichnis

    Das Gespräch

    Einige Wochen zuvor

    Donnerstag

    Freitag

    Samstag

    Sonntag

    Montag

    Dienstag

    Mittwoch

    Donnerstag

    Freitag

    Samstag

    Sonntag

    Montag

    Dienstag

    Mittwoch

    Donnerstag

    Freitag

    Samstag

    Sonntag

    Montag

    Dienstag

    Mittwoch

    Donnerstag

    Im Zug

    Die Klinik

    Das Gespräch

    Manning überflog noch einmal kurz die Mail, die er vor zwei Wochen erhalten hatte.

    Sehr geehrter Herr Professor Manning, mein sechzehn-jähriger Sohn Alexander ist gehörlos. Er wünscht sich ein CI. Können Sie uns einen Termin für ein Vorgespräch anbieten? Mit freundlichen Grüßen, Tom Treppin

    Die Mail kam vom Chefarzt der Neurochirurgie der Universitätsklinik in Hamburg. Sie war kurz und knapp. Ihn erwartete heute sicher ein Gespräch von Arzt zu Arzt, er würde nicht so viel erklären müssen wie sonst. Hoffentlich gab es keine übertriebenen Hoffnungen. Obwohl… das Kind war sechzehn, sicher keine angeborene Gehörlosigkeit. Der Junge hatte bestimmt erst kürzlich sein Gehör verloren, vielleicht durch eine Meningitis oder einen Unfall. Er würde gut sprechen. Es waren diese Patienten, denen er am besten helfen konnte. Sie hatten gehört und wünschten sich das Hören zurück, etwas das sie verloren hatten. Ihr Gehirn hatte eine entwickelte Hörbahn, sie taten sich sehr viel leichter als Erwachsene oder Jugendliche, die von Geburt an gehörlos waren, die das Hören nicht kannten. Diese musste man im ersten Lebensjahr implantieren, dann hatten sie eine realistische Chance auf ein Hören, das den Spracherwerb sehr viel müheloser machte. Einige Kinder waren an ihrer Sprache kaum von einem hörenden Kind zu unterscheiden. Komisch, dass dieser Vater gar nichts zur Ursache der Gehörlosigkeit geschrieben hatte. Einfach mein Sohn ist gehörlos.

    Professor Manning erhob sich, um die Familie herein zu rufen. Im Vorbeigehen schenkte er seiner Sekretärin ein freundliches Lächeln und ging flotten Schrittes zu dem kleinen Wartebereich.

    »Familie Treppin?«

    Er ließ den Blick über die Familie wandern, scannte sie rasch. Die Mutter mit Krücken, einer offensichtlichen Gehbehinderung. Zwei Jungen, Zwillinge, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, hübsche, schlanke, sportliche, dunkelhaarige Jungen. Einer trug auffällige, bunte Hörgeräte.

    Professor Manning ging auf ihn zu.

    »Du bist sicher Alexander?«

    Er sprach langsam und deutlich, trainiert im Umgang mit Menschen, die kaum etwas hörten. Der Junge stand auf und reichte ihm die Hand.

    »Ja. Professor Manning?«

    Der Professor bekam kurz große Augen vor Erstaunen, die Stimme eines Gehörlosen. Wenig klar, kaum Modulation. Er warf dem Vater, der ihm mit einem Nicken die Hand zum Gruß reichte, einen kurzen fragenden Blick zu, dem dieser einfach standhielt. Nur ein Nicken, kein Wort.

    »Professor Manning? Kathrin Treppin, leider habe ich keine Hand frei.«

    »Hallo, Frau Treppin. Kommen Sie doch erstmal mit in mein Büro. Dort können wir alles in Ruhe besprechen.«

    Er ging voraus, hatte den schleifenden Gang der Frau, die sich schwerfällig vorwärts schob, im Ohr und versuchte, ihr nicht davon zu eilen. Die Familie in seinem Rücken schwieg.

    In seinem Büro wies er auf den Glastisch, der von sechs Stühlen umgeben war: »Nehmen Sie doch Platz.«

    Er selbst wählte seinen Chefplatz an der Stirn des Tisches, blieb an der Lehne seines Stuhls stehen und suchte Sichtkontakt mit Alexander, seinem Patienten.

    »Setzt du dich hier zu mir?«

    Dieser nickte, zog aber zunächst den Stuhl neben sich vom Tisch und half seiner Mutter. Ein aufmerksamer, höflicher Junge. Die Mutter ließ sich etwas schwerfällig auf dem Stuhl nieder. Der Vater nahm auf der anderen Seite des Tisches gegenüber von Alexander Platz, der Bruder neben ihm, gegenüber seiner Mutter.

    Professor Manning setzte sich als letzter, er räusperte sich ein wenig, bevor er begann. Er bemühte sich Alexander anzusehen und wählte seine übliche Einleitung.

    »Also, Alexander, Familie Treppin, schön, dass Sie gekommen sind«, er sah Alexander an, konzentrierte sich voll auf ihn, damit dieser eine Chance hätte, etwas von seinen Worten mitzuschneiden. Alexander bemerkte es mit Erstaunen, es fühlte sich gut an, »Alexander, du bist heute hier, weil du Interesse an einem CI hast?«

    Die Augen des Jungen drifteten ab, auf einen Punkt im Rücken von Manning. Dieser drehte sich ein wenig um und sah mit Erstaunen, das seine Worte in den Händen des Vaters waren.

    Frau Treppin unterbrach: »Warten Sie kurz, Herr Professor Manning, Sie können ganz normal sprechen. Mein Mann übersetzt.«

    »Äh, ja, also…«, er benötigte einen Moment, um sich zu fassen, ein Universitätsprofessor, der offenbar gebärdete und diese Sprache mit seinem tauben Jungen nutzte. Manning wandte sich schließlich der Mutter zu: »Könnten Sie berichten, warum Alexander gehörlos ist? Wie alt war er, als er ertaubt ist? Haben Sie Unterlagen dabei? Ein Audiogramm?«

    Frau Treppin begann zu erzählen, nebenher übersetzte der Vater für seinen Sohn: »Alexander hat eine angeborene Gehörlosigkeit. Es fiel im Neugeborenen-Hörscreening auf. In der Untersuchung nach vier Wochen hat es sich bestätigt.«

    Manning nahm die Worte mit einer gewissen Verwirrung auf. Es war alles anders, als er erwartet hatte. Er hatte gedacht ein kurzes Gespräch, ein Junge, der sein Gehör durch eine Krankheit oder einen Unfall verloren hatte, sich hörend und sprechend orientierte. Alles hatte in der Mail darauf hingedeutet. Der Vater war Neurochirurg. Warum in aller Welt…? Manning warf erneut einen fragenden Blick zu dem Vater, der jedoch keine Anstalten machte, irgendetwas klar zu stellen.

    »Aber«, seine Verwirrung konnte Manning kaum verbergen, die Worte kamen unkontrolliert, unbedacht, eigentlich war das nicht seine Art, »warum kommen Sie denn erst jetzt?«

    Vergessen war sein sonstiger Ansatz, sich einem Jugendlichen direkt zuzuwenden, um dessen Vertrauen zu gewinnen. Fast starrte Manning die Mutter an. Er stolperte weiter, an den Vater gewandt: »Sie sind doch Arzt! Sie wissen doch sicher, wie wichtig es ist, ein CI früh zu implantieren, für die Entwicklung der Hörbahn. Die Möglichkeiten gab es doch auch schon vor sechzehn Jahren«, als der Vater weiterhin jedes seiner Worte übersetzte, und ihm keine Antwort gab, wandte sich Manning erneut der Mutter zu, »ist Ihnen klar, was Sie verpasst haben? Sie wissen vielleicht nicht…«

    Sie unterbrach ihn, immer noch die Ruhe selbst: »Professor Manning, ich bin auch vom Fach. Ich bin Kinderärztin. Wir beide wissen als Eltern sehr genau, was empfohlen wird. Wir sind ein wenig andere Wege gegangen.«

    Beide Jungen beobachteten die Situation aufmerksam. Der Vater übersetzte weiter jedes gesprochene Wort, er wirkte unbeteiligt, nicht wie der Vater des Patienten, nur wie der Übermittler aller gesprochenen Worte, als sei er gar nicht wirklich da. Manning hatte einen langen Arbeitstag hinter sich, er war müde. Eigentlich hatte er sich auf dieses Gespräch gefreut, Privatpatienten, sicher Eltern, die ihm das Leben leicht machen würden, verständig, gehörig. Er hatte gedacht, dass er praktisch nur einen OP-Termin würde ausmachen müssen, hatte sich auf das dankbare Lächeln auf sein Angebot gefreut.

    »Sie haben einen Fehler gemacht! Sie haben ein gehörloses Kind und entscheiden sich gegen ein CI? Warum? Es gibt keinen vernünftigen Grund! Sie haben ihrem Kind über Jahre das Hören vorenthalten.«

    Er konnte sein Unverständnis nicht verbergen, seine Wut kaum im Zaum halten. Wie konnten Eltern nur so verantwortungslos sein? Sie waren nicht dumm, umso weniger verstand es Manning.

    Eine Hand an seinem Arm, vorsichtig, Alexander. Er suchte seine Aufmerksamkeit.

    »Bitte, Herr Professor Manning, überschütten Sie meine Eltern nicht mit Vorwürfen. Wir sind gut groß geworden. Es gab kein Problem. Wir hatten unsere Sprache zu Hause. Jetzt möchte ich ein CI, deshalb sind wir hier. Können wir das besprechen?«

    Alexander sah Manning fragend an, ob er ihn verstanden hätte, immer wieder war es schwierig. Sein Sprechen war für die Hörenden ungewohnt. Aber dieser Arzt war ein Profi, er hatte ständig mit Hörgeschädigten zu tun. Manning nickte, er hatte verstanden. Er beruhigte sich ein wenig, blickte in die dunkelbraunen, fast schwarzen Augen des jungen Mannes. Sechzehn Jahre kein Hören und jetzt saß er hier mit seinen Eltern, die es ihm verwehrt hatten und bat darum. Es ging um den Jungen. Manning holte tief Luft, versuchte die Ruhe, die ihn sonst auszeichnete, wieder zu finden.

    »Okay, Alexander, ja, du hast Recht. Sprechen wir über das CI. Kannst du mich einigermaßen verstehen?«

    »Kein Problem. Mein Vater übersetzt. Das macht es einfacher.«

    Manning hatte dem schweigsamen Mann fast den Rücken zugekehrt, er mochte nicht sehen, wie all seine Worte durch dessen Hände flossen.

    »In welche Klasse gehst du?«

    »In die zehnte.«

    »Was für eine Schule?«

    »Lohmühlen-Gymnasium in Hamburg. Sie kennen es vielleicht? Es ist eigentlich ein normales Gymnasium, dort sind aber mehrere Hörgeschädigte, es ist ganz guter Kompromiss.«

    Alexander sprach und untermalte seine Worte mit Gesten.

    »Ihr seid zusammen auf einer Schule?«

    Beide Jungen nickten.

    »Klingt nach einer guten Lösung für euch. Wie klappt es mit der Kommunikation, Alexander?«

    »Verschieden, manchmal gibt es Dolmetscher, dann ist es super. Ich kann den Lehrern auch so einigermaßen folgen. Mathe und Naturwissenschaften, Kunst und Sport sind kein Problem. Meine Mitschüler verstehen mich meist, eher besser als die Lehrer. Deutsch und diese Fächer, in denen diskutiert wird, ohne Dolmetscher ist es schwierig.«

    »Was für Freunde hast du?«

    Alexander war ein wenig erstaunt über die persönliche Frage, ihn freute das Interesse des Arztes: »Ob meine Freunde hören, meinen Sie? Gemischt, einige hören, andere sind schwerhörig oder taub. Das ist mir egal.«

    »Warum möchtest du ein CI? Was versprichst du dir davon?« Manning sah ihn ernst an, als warte er gespannt auf die Antwort des jungen Mannes. Er war ein wenig erstaunt, dass die Eltern es zuließen, dass er das Gespräch mit dem Jugendlichen führte, dass sie sich zurückhielten und ihren Sohn zu Wort kommen ließen.

    Alexander sammelte sich für einen Moment. Bevor er zu einer Antwort ansetzte, warf er seinem Bruder und seinem Vater einen fast entschuldigenden Blick zu: »Ein Freund von mir hat ein CI, seit er klein ist. Wir waren schon gemeinsam im Kindergarten. Er war in einer normalen Grundschule, ich musste auf die Gehörlosenschule. Auf dem Gymnasium haben wir uns wieder getroffen. Er«, Alexander blickte unsicher an seinem Vater vorbei, »spricht viel besser. Ich glaube, fast normal. Jedenfalls wird er eigentlich immer verstanden. Er hat es auch im Unterricht leichter, er bekommt einfach mehr mit, in diesen Diskussionen. Ich verstehe nur, was ich sehe. Was nicht in meinem Blickfeld ist, ist nicht da. Wenn die Leute undeutlich sprechen, schnell oder sich abwenden, die Hand vor dem Mund haben, habe ich keine Chance.«

    »Du weißt, dass das CI keine Wunderwaffe ist? Dass es nicht für jeden gleich ist? Die Menschen, gerade die Jugendlichen und Erwachsenen, die nie richtig gehört haben - manchen bringt es nur wenig.«

    Alexander sah den Arzt offen an: »Was habe ich zu verlieren? Ich höre ohnehin praktisch nichts. Ich habe keine Angst vor der OP. Ich möchte mehr hören, was immer es bedeutet. Vielleicht klappt es ganz gut und ich kann die Menschen da draußen leichter verstehen. Und - ich möchte besser sprechen können.«

    Schließlich schaltete sich die Mutter doch ein: »Herr Professor Manning. Wir alle kennen die Fakten, auch die Kinder kennen sie. Wir haben uns über Jahre ausführlich mit der Thematik beschäftigt. Wir haben uns damals sehr bewusst gegen ein CI entschieden. Jetzt wünscht sich Alexander die Implantation, wir unterstützen ihn in seinem Wunsch. Wir sind zu Ihnen gekommen, weil Ihre Abteilung über Deutschland hinaus bekannt ist«, sie schmeichelte Manning mit ihren Worten.

    »Haben Sie ein Audiogramm dabei?«

    Der Vater zog es aus seinem Rucksack und legte es Manning wortlos vor. Ein Blick reichte diesem, um zu sehen, dass Alexander taub war.

    »Gibt es eine Ursachenanalyse? Eine Genetik? Weitere Probleme?«

    »Nein, wir haben keine Genetik machen lassen«, die Mutter übernahm jetzt das Antworten.

    »Wir werden ein paar vorbereitende Untersuchungen machen müssen. Ein MRT.«

    »Ja, das ist kein Problem. Sollen wir das in Hamburg machen? Oder wollen Sie es hier machen?«

    »Nein, machen Sie es ruhig zu Hause. Es gibt eine Liste der notwendigen Voruntersuchungen. Wollen Sie es selbst in die Hand nehmen und beim nächsten Termin die Daten mitbringen?«

    »Ja, das können wir machen.«

    »Wann wäre denn ein guter Zeitpunkt für die OP?«

    Alexander schaltete sich ein: »Am Anfang der Sommerferien? Dann verpasse ich nicht so viel in der Schule.«

    »Pass auf, Alexander. Es geht nicht nur um die OP. Danach wirst du das Hören regelrecht lernen müssen. Es gibt eine intensive Nachsorge. So ähnlich wie du es von der Logopädie kennst.«

    Alexander nickte.

    »Besser wir machen die OP ein paar Wochen vor den Ferien. Du wirst nur etwa eine Woche hier sein. Es ist keine so große Sache. Dann könntest du dich in den Sommerferien ganz in Ruhe intensiv dem Beginn der Nachsorge widmen.«

    »Ja, okay. Das klingt nach einer guten Idee. Also im Mai?«

    »Du möchtest gleich Nägel mit Köpfen machen?«

    Tom Treppin, der Vater, dachte kurz nach, wie er diese Redewendung am besten übersetzen sollte.

    »Bist du dir ganz sicher?«, waren die Worte, die er wählte, es waren mehr seine als die des HNO-Arztes.

    »Ja, ich bin mir sicher, Papa«, war Alexanders Antwort.

    Manning registrierte den intensiven Blickwechsel zwischen Vater und Sohn. Er setzte ein Lächeln auf, wie nach einer erfolgreichen Verhandlung. Er verstand weiter nicht, warum die Familie sich viele Jahre gegen die OP entschieden hatte. Sie waren nicht in die Diskussion gekommen. Vielleicht war er zu konfrontativ gewesen. Er wollte ein gutes Ende für dieses Gespräch. Er hatte erreicht, was erreicht werden musste, wieder ein Gehörloser, dem er helfen konnte zu hören, mit seinem Handwerk. Trotzdem konnte er es nicht lassen nochmal zu fragen. Er wandte sich dem Neurochirurgen zu, seinem Kollegen, der in dem ganzen Gespräch noch kein Wort von sich gegeben hatte: »Also, Herr Professor Treppin, ich bin sehr froh, dass Sie heute mit Ihrem Sohn bei mir waren. Wir können ihm helfen.«

    Wieder nur ein Nicken.

    »Aber nochmal, damals, ich verstehe nicht, warum? Alexander würde heute fast normal sprechen. Die Logopädie war sicher sehr schwierig für ihn. Was war der Grund?« Diesmal fragte er offen, nicht vorwurfsvoll. Er sah sein Gegenüber voll an.

    Tom warf einen kurzen Blick zu seiner Frau, es war der ihr bekannte Blick. Er stieß einen lautlosen Seufzer aus und seine Hände begannen zu reden, ohne dass aus seinem Mund ein Laut kam, die Lippen ein dünner Strich, sie formten keine Worte. Verwirrt folgten Mannings Augen den Gesten des Vaters, die Worte, die er sagte, wurden von dessen Frau in Laute übertragen.

    »Wir haben unsere eigene Sprache.«

    »Aber…?«

    Kathrin schaltete sich ein, sie fand es nicht fair, den Kollegen weiter im Unklaren zu lassen: »Herr Professor Manning. Mein Mann ist stumm. Unsere Sprache war, schon bevor die Kinder da waren, die Gebärdensprache. Es gab also in unserer Familie kein Kommunikationshindernis. Für uns, ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, ist die Gehörlosigkeit bedeutungslos. Wir sprechen ohnehin nicht, wenn wir unter uns sind.«

    »Aber da draußen, in der Welt um sie herum, da ist es nicht egal.«

    »Wir kennen all diese Argumente. Es gab heftige Diskussionen innerhalb meiner Familie.«

    »Was ist jetzt anders? Warum kommen Sie jetzt?«

    Alexander schaltete sich erneut ein. Selten war ihm ein gehörloser Jugendlicher in einer hörenden Familie so autark und so integriert im Gespräch erschienen wie heute. Es klappte durch das ständige Dolmetschen des Vaters.

    »Weil ich meine Eltern darum gebeten habe.«

    »Ja, gut«, plötzlich hatte Manning es eilig, das Gespräch zu Ende zu bringen. Noch ein Patient für ein CI, es war doch alles gut, wenn der Junge es jetzt wollte. Alles andere konnte man im Nachhinein ohnehin nicht ändern. Er wollte nach Hause zu seiner Frau, die bald mit dem Abendessen auf ihn warten würde. Er versuchte es mit einem letzten versöhnlichen Satz in Richtung des Zwillings, der die ganze Zeit schweigend und mit großen Augen zugehört hatte. Er blickte ihn an. Seine Worte erneut in den Händen des Mannes neben ihm.

    Lächelnd sagte Manning: »Na, und du? Du bist sicher froh, wenn Alexander endlich ein CI hat und ihr mehr mit euren Freunden zusammen machen könnt, ohne dass du übersetzen musst? Wenn er eine Chance hat, dem Unterricht selbst zu folgen unabhängig von einem Dolmetscher?«

    Gregor starrte den Arzt für einen kurzen Augenblick an. Als seine Hände in Bewegung kamen, dachte Manning immer noch, sie redeten, damit Alexander ihn auch verstand. Er irrte sich. Kein Wort kam aus dem Mund des anderen Jungen. Kathrin übersetzte.

    »Ich bin auch taub. Und stumm. Das CI bringt uns nicht zusammen, eher wird es uns auseinandertreiben.«

    Gregor hielt den Chef der HNO-Abteilung fest im Blick, um die Wirkung seiner Worte zu erfassen. Der hatte gedacht, er würde hören. Es war alles so ein Witz.

    Manning kniff die Augen zusammen und presste die Luft zwischen den Zähnen heraus: »Du bist auch gehörlos?«

    Gregor las die Worte von den Lippen des Arztes und nickte.

    »Du willst Alexander den Vortritt lassen mit dem CI? Oder kommst du gleich mit? Brauchen wir zwei OP-Termine?«

    »Nein. Ich brauche kein CI. Für mich ist alles gut so, wie es ist.«

    »Du änderst deine Meinung sicher, wenn du siehst, wie gut es Alexander hilft. Wir können dann in einem halben Jahr noch einmal darüber sprechen. Man muss nicht so viel Angst vor der OP und den Risiken haben. Es ist keine so große Sache.«

    »Nein, es geht nicht um die OP. Ich habe keine Angst davor. Mein Vater ist Neurochirurg. Er hilft jeden Tag Menschen mit seinen Operationen. Es ist anders. Sie werden es nicht verstehen. Ich bin taub, ich möchte gar nicht anders sein. Es ist okay so.«

    Die Worte taten Tom, der nur mit einem großen inneren Widerstand, mit Sorge und Angst in dieses Gespräch gegangen war, gut. Angst vor den Vorwürfen, die er nur allzu gut kannte. Aus dem Munde des Arztes ertrug er sie. Er war nur verrückt vor Sorge, dass Alexander ihm Vorwürfe machen würde, den Vorwurf, dass er damals alles falsch entschieden habe.

    Manning schüttelte ungläubig den Kopf: »Du machst dir etwas vor. Du kannst mir nicht erzählen, dass du dich nicht danach sehnst in einem Gespräch einfach einmal dabei zu sein und alles mitzubekommen. Dich frei äußern zu können. Jeder Mensch sehnt sich danach, es ist unser grundlegendes Bedürfnis nach Kommunikation, nach Austausch, nach Anerkennung.«

    Gregor konterte: »Ich habe das jeden Tag. Zu Hause. Oder wenn ich mit Gehörlosen zusammen bin.«

    »Wenn Alexander sich ein CI implantieren lässt, ist es für dich ein Problem?«

    »Es ist seine Entscheidung. Meine sieht anders aus.«

    Schließlich schaltete sich die Mutter ein: »Also, ich denke, wir können zum Schluss kommen. Das ist unsere interne Diskussion. Damit wollen wir nicht unnötig Ihre Zeit beanspruchen. Alexander wird die vorbereitenden Untersuchungen in Hamburg machen. Wir lassen Ihnen alles zukommen und freuen uns dann von Ihnen zu hören wegen des genauen OP-Termins. Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für uns genommen haben.«

    Sie hebelte sich schwer aufgestützt auf den Tisch in den Stand. Einer nach dem anderen verließ den Raum. Alexander bedankte sich beim Abschied.

    Als die Familie sein Zimmer verlassen hatte, ließ Manning sich erschöpft auf den Chefarztsessel, wie er insgeheim den Stuhl vor seinem Schreibtisch schmunzelnd betitelte, fallen. Was für ein verrücktes Gespräch. Er hatte gedacht, er könnte mit seinem Kollegen ein wenig fachsimpeln, dass sie sich etwas Honig um den Bart schmieren würden und das taube Kind schweigend und wenig verstehend daneben säße, wie es so oft war. Er hatte ambitionierte Eltern erwartet, die nach Zahlen fragen würden, wie oft eine Implantation erfolgreich sei. Ihr Erfolg wäre das mühelose Sprechen und Verstehen in einer größeren Gruppe, ein Erfolg, der immer wieder nicht erreicht wurde. Er hatte sich vorab kurz überlegt, wie er ein wenig an der Wahrheit vorbeisegeln könnte. Eben ein besonderes Kind, exzellent gefördert, dann sollte alles kein Problem sein, ihr Kind würde bestimmt zu den Vorzeigeobjekten werden, die zu der Erfolgsgeschichte des CI beitrugen. Der Vater, ein Professor, sein Kollege. Was für ein merkwürdiger Mann. Er hatte sich kontinuierlich auf die Übersetzer Position zurückgezogen. Wenn Manning darüber nachdachte, hatte Treppin in dem ganzen Gespräch nur einen einzigen Satz gesagt. Wir haben unsere eigene Sprache… Wie konnte man nur neurochirurgischer Chefarzt werden, ohne zu sprechen? Immer wieder betonten sie als HNO-Ärzte, dass es wichtig sei, früh zu hören, damit man sprechen lernen könne, damit die Kinder sich ausdrücken lernen. Und hier? Ein stummer Professor mit zwei gehörlosen Söhnen, von denen einer sich mit sechzehn Jahren ein CI wünschte, der andere nicht sprach und nicht hörte und angab, damit zufrieden zu sein. Kopfschüttelnd las Manning noch einige Mails, dann packte seine lederne Aktentasche und verließ in Gedanken versunken sein Büro.

    Einige Wochen zuvor

    Alexander saß allein in der U-Bahn auf dem Weg nach Hause. Heute Abend würde er es wagen, er würde all seinen Mut zusammennehmen und sich trauen, auf seinen Vater zuzugehen. Mittwoch war der ideale Tag. Gregor würde mit dem Theaterprojekt beschäftigt sein und erst am späten Abend nach Hause kommen, seine Mutter hatte ihren langen Tag in der Klinik und die Mädchen, naja, die waren inzwischen alt genug, um sich allein zu beschäftigen. Er hoffte, dass sie den Vater nicht den halben Abend mit Musikmachen okkupieren würden. Manche Mittwochabende endeten so, die drei machten zusammen Musik, mit geröteten Wangen und leuchtenden Gesichtern. Alexander mochte es nicht, er kam sich ausgeschlossen vor und zog sich meist zum Lernen in sein Zimmer zurück, bis eines der Mädchen kam und ihn zum Abendessen abholte. Er versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr es ihm zu schaffen machte, wenn die drei oder auch alle vier zusammen mit der Mutter ihren Spaß zusammen in der Musik fanden und er daran nicht teilhaben konnte. Es ließ sich nicht ändern, also machte es keinen Sinn, es sich allzu sehr zu Herzen zu nehmen und sich die Laune verderben zu lassen. Sie waren rücksichtsvoll genug, nicht jeden Mittwochabend mit Musikmachen zu verbringen, sondern wechselten es ab mit einem gemeinsamen Spiel oder sie unterhielten sich einfach. Diese Abende nur mit seinem Vater und den Schwestern hatten etwas Schönes, zumindest wenn sie nicht der Musik zum Opfer fielen, die ihm unzugänglich war.

    Er war so tief in Gedanken, dass er fast vergaß, in Ohlsdorf auszusteigen und den Bahnsteig zu wechseln. Es war ein lästiges Umsteigen. Entweder man nahm die Beine in die Hand, drängelte und fetzte an den Langsamen vorbei, um gerade noch die S-Bahn zu erreichen, oder man stand zehn Minuten und wartete. In all den Jahren, die er mit U- und S-Bahn zur Schule fuhr, war es ihnen nicht gelungen, einen besseren Fahrplan zu machen. Heute schlenderte er langsam, die Warterei würde ihm noch ein paar Minuten für sich geben. Wie könnte er das Gespräch beginnen? Wo würde er es am besten führen? Er hatte das Thema nie mit seinem Vater angepackt, in dem Wissen, dass es schwierig sein würde. Warum das so war, wusste Alexander selbst nicht so genau. Aber heute in der Schule war es wieder einmal demütigend gewesen, wie so oft. Sie hatten Deutsch gehabt und lasen gerade die Buddenbrooks von Thomas Mann. Ein langes Buch, schwere Kost, wenn man immer wieder mit Worten kämpfte, die einem noch nie unter die Augen gekommen waren. Derer gab es einige. Für Alexander war es im Großen und Ganzen in Ordnung, er hatte nicht die gleichen Schwierigkeiten wie sein Bruder, der an diesem Buch fast verzweifelte. Aber es war schwierig genug. Im Unterricht hatten sie sich an einer Textstelle festgebissen, hatten gemeinsam begonnen, diese zu interpretieren, so viel hatte Alexander noch mitbekommen in der Stunde, die wieder einmal ohne Dolmetscherin gelaufen war. Immer wieder waren sie Mangelware und fielen aus. Es machte den Zwillingen und ein paar anderen das Leben unnötig schwer, sicher schwerer als all die hörenden Lehrer da vorne es sich ausmalen konnten. Die Lehrerin hatte wohl eigentlich nett sein wollen, ihn nicht links liegen lassen wollen, obwohl keine Dolmetscherin da war, und hatte etwas gefragt, das er zunächst nicht verstanden hatte. Wie so oft hatte er nachfragen müssen, sie hatte ihn um seine Meinung gebeten zu etwas, was die anderen Schüler gesagt hatten und er wieder nicht mitbekommen hatte. Er hatte irgendetwas gesagt, offenbar unpassend, am Thema vorbei und hatte diese peinlich berührten Blicke seiner Mitschüler gespürt, das verhohlene Grinsen in einigen ihrer Gesichter gesehen. Viele mochten ihn, wussten eigentlich, dass er nicht dumm war, dennoch stand er immer wieder doof da. Er war es so unendlich leid. Wenn er nur einmal einfach alles mitbekommen könnte, hätte er eine kluge Antwort geben können. Nach außen hatte er nur die Schultern gezuckt und geschwiegen, innerlich brodelte es in ihm. In der Pause hatte Finn es ihm erklärt. Finn war genauso taub wie er, aber er hatte diese verdammte Technik, das Cochlea Implantat, das es ihm so viel leichter machte, etwas mitzubekommen. Er war nicht wie die Hörenden, eher wie die schwerhörigen Schüler. Alexander kam es immer wieder so vor, dass Finn es um Lichtjahre einfacher hatte als er selbst. Er wollte auch diese Technik, er wollte sich operieren lassen, in der Hoffnung darauf, mit den Dingern besser zu hören, mehr mitzubekommen und besser auf seine hörende Umwelt reagieren zu können. Vielleicht könnte er damit auch sein Sprechen perfektionieren. Es gab diese Möglichkeit, er würde kämpfen, sich anstrengen, er war sicher, dass er Erfolg haben würde. Warum nur hatten seine Eltern damals so anders entschieden als die von Finn? Es war alles so unfair. Er musste es besprechen. Mit seinem Vater, den galt es zu knacken. Seine Mutter würde schon mitziehen, die war das kleinere Problem. Seine Mutter, die immer um ihr Laufen gekämpft hatte, hatte als Kind viele Operationen über sich ergehen lassen, um auf die Beine zu kommen. Sie würde es verstehen. Bei seinem Vater war er nicht so sicher. Und es gab noch Gregor…

    Immer noch in Gedanken schloss er die Haustür auf. Ob die Mädchen schon zu Hause wären? Wie war noch ihr Stundenplan am Mittwoch? Er konnte es sich einfach nicht merken. Er warf seinen Rucksack in die Ecke und begab sich in die Küche. Die Stundenpläne zeigten ihm, dass er noch eine Stunde für sich haben würde, bevor Vera und Sophia nach Hause kämen. Er holte eine Pfanne aus dem Schrank, öffnete den Kühlschrank, sammelte Eier, Speck und Butter ein und machte sich zwei Spiegeleier mit Speck. Während sie vor sich hin brieten, schnitt er eine Scheibe von dem Körnerbrot ab und bestrich sie mit Butter. Vom Duft des Specks lief ihm das Wasser im Mund zusammen, das Fett schlug Blasen, das Durchsichtige wurde langsam weiß, der Speck legte sich in Wellen. Schließlich ließ er die Eier und den Speck aus der Pfanne auf den Teller mit dem Brot gleiten, kramte Messer und Gabel aus der Küchenschublade. Er ließ sich an dem großen Küchentisch nieder und genoss seine Mahlzeit. Wie selten war man allein in diesem Haus und konnte einfach in Ruhe essen. Er aß schnell, aber mit Genuss. Gestärkt ging er nach wenigen Minuten in sein Zimmer, den Rucksack hatte er auf dem Weg nach oben geschnappt und stellte ihn in die Ecke neben seinem Schreibtisch. An Hausaufgaben war nicht zu denken. Eigentlich hätte er genug zu tun, aber sein Kopf war mit etwas anderem beschäftigt. Er setzte sich auf die Kante seines Bettes und starrte unbestimmt vor sich hin.

    Wie sollte er es seinem Vater sagen? Das erste Problem wäre, ihn überhaupt zu erwischen, wenn er nach Hause kam, bevor Vera oder Sophia ihn abfingen. Er würde wieder nicht mitbekommen, wann er kam, es sei denn, er würde sich in die Küche setzen mit seinen Hausaufgaben, dort käme er auf jeden Fall vorbei. Sollte er ihm eine Nachricht an das Handy schicken und um ein Gespräch bitten? Sein Vater guckte oft nicht auf das Handy, auch das könnte schief gehen. Aber Alexander wollte dieses Gespräch, heute, es nicht noch weiter aufschieben, sonst ginge ihm wieder der Mut verloren. Plötzlich hatte er eine Idee. Alexander stand auf, setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb ein paar Worte auf einen Zettel. Er faltete ihn einmal, schrieb auf die Außenseite Für Papa, verließ sein Zimmer, sprang die Treppe nach unten immer zwei Stufen auf einmal nehmend, durch den Flur und ins Musikzimmer. Er deponierte das Blatt auf dem Notenständer des Flügels.

    Eine Hand an seiner Schulter. Er zuckte zusammen und sah in das lachende Gesicht von Vera: »Hey, Alexander. Was machst denn du im Musikzimmer?«

    Genervt sah er sie an. Was für eine blöde Frage: »Nichts.«

    Vera sah an ihm vorbei auf den Brief, der auf dem Flügel prangte.

    »Ein Brief für Papa? Darf ich?« Schon griff sie nach dem Zettel.

    Fast riss Alexander ihn ihr aus der Hand: »Lass das. Es ist für Papa. Es geht dich nichts an.«

    Vera blickte ihn erstaunt und neugierig an: »Ein Geheimnis? Dann solltest du es nicht so offen hier herum liegen lassen.«

    »Es steht nicht viel drin. Trotzdem ist es nicht für dich, okay?«

    »Was steht denn drin?«

    Alexander verdrehte innerlich die Augen. Vera konnte nie Ruhe geben.

    »Nur, dass ich ihn sprechen will.«

    »Warum sagst du es ihm nicht einfach?«

    »Ich krieg nicht mit, wenn er nach Hause kommt. Du weißt das doch.«

    »Hm. Was willst du denn besprechen?«

    »Das geht dich nichts an.«

    »Wichtig?«

    »Ja.«

    »Was denn? Sag es doch!«

    Seine elfjährige Schwester brannte vor Neugier.

    »Nein.«

    Er drängte sich an ihr vorbei aus dem Zimmer heraus. Das Musikzimmer, er fühlte sich dort nicht wohl, es war nicht sein Terrain. Er strebte gen Küche, gab sich beschäftigt, indem er sich etwas zu trinken organisierte. Vera folgte ihm, wieder stupste sie ihn an. Sie reichte ihm zwei Gläser.

    »Ich habe auch Durst.«

    Sie nahm die beiden gefüllten Gläser, setzte sich an den Küchentisch und blickte ihren großen Bruder fragend an. Sie spürte seine Unruhe. So war er sonst nicht, eigentlich war Alexander meist ein Bündel an guter Laune, gesprächig und lustig, wie sie selbst und ihre Mutter. Sie drei waren der lebhafte Teil der Familie, es waren die anderen, die oft schweigsam und still waren.

    »Es ist etwas mit der Schule. Hast du eine fünf geschrieben?«

    Plötzlich musste Alexander lächeln, Vera war wirklich unerträglich neugierig. Er knuffte sie in die Seite: »Nein, ich doch nicht.«

    »Also, was dann? Hast du eine Freundin?«

    »Nein, alles wie immer.«

    »Du möchtest einem ominösen Club beitreten und brauchst seine Erlaubnis? Er soll dir Alkohol für eine Fete besorgen?«

    Ihre Fantasie kannte keine Grenzen. Alexander stoppte ihren Fragenfluss.

    »Ist Sophia auch zu Hause?«

    »Nein, sie hat heute Orchester.«

    »Wir sind allein?«

    »Ja, wer soll sonst da sein?«

    »Ich weiß nicht. Du hörst keinen?«

    »Nein, Alexander. Leidest du unter Verfolgungswahn?«

    »Nein, ich weiß nur, dass ihr immer orientiert seid, wer im Haus ist und ich nicht.«

    »Ja, gut. Also, es ist keiner da. Verrätst du mir das Geheimnis? Was du mit Papa besprechen willst?«

    Alexander schwieg einen Moment und sah seine kleine Schwester voll an. Er wechselte plötzlich die Sprache. Er nutzte seine Stimme.

    »Ich möchte ein CI.«

    Veras Augen wurden groß vor Überraschung. Auch wenn sie erst elf Jahre alt war. Sie hatte zwei gehörlose Brüder, die viele gehörlose Freunde hatten. Zahlreiche hatten ein CI und hörten damit um Klassen besser als ihre Brüder. Sie hatte nie so ganz verstanden, warum ihre Brüder diese Dinger nicht hatten. Immer wieder hatte sie Diskussionen mitbekommen, die sie nie wirklich begriffen hatte, aber sie wusste, dass das CI ein absolutes Reizthema für ihre Eltern war.

    »Was meinst du, wird Papa sagen?«

    Auch Vera sprach, ihre Lippen formten die Worte so deutlich, dass Alexander keine Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen.

    Alexander stöhnte.

    »Ich weiß nicht, Vera. Ich glaube, dass es schwierig wird. Dass er nicht gerade in Begeisterungsstürme ausbrechen wird.«

    »Ja, das glaube ich auch. Warum sind sie so dagegen?«

    »Ich weiß es nicht so genau.«

    »Warum habt ihr kein Recht auf ein CI, wie all die anderen auch? Es würde doch helfen.«

    »Ja. Mal gucken, wie es läuft. Ich mache jetzt Hausaufgaben.«

    »Ich kann dich gut verstehen, Alexander. Ich wünsche dir viel Glück.«

    Ein wenig ruhiger begab Alexander sich in sein Zimmer. Es war gut gewesen mit jemandem über seinen Wunsch zu reden.

    Tom schulterte seinen Rucksack und verließ raschen Schrittes die Klinik. Er mochte den Mittwoch nicht. Es war sein kürzester Tag, der einzige, an dem er abends sicher noch seine Kinder sah, das war das Gute an diesem Tag. Die Sprechstunde im Rahmen seiner Arbeit hingegen war eine einzige Quälerei, es würde nie seins werden, das Sprechen mit den Patienten. Es war so viel besser im OP zu stehen. Er schloss sein Rad auf und schwang sich darauf. Der Anfang der Strecke war nervig, zwischen den Autos und den Abgasen, es wurde besser, als er weiter nach außerhalb kam. Im Alstertal waren die Wege nicht eben, aber man fuhr unter Bäumen in der Natur, er mochte es. Es gab ihm die Gelegenheit abzuschalten, kurz zur Ruhe zu kommen, bevor es zu Hause gleich weiter gehen würde. Er wieder jemandem zur Verfügung würde stehen müssen. Kommunizieren, oft schien es ihm anstrengender als alles andere. Heute Abend wären drei seiner Kinder zu Hause. Neuerdings war Gregor, das Kind, das ihm näher war als die anderen, nicht da, er war in ein Theaterprojekt hineingerutscht, gänzlich unbeabsichtigt. Er war gefragt worden, war sehr unentschlossen gewesen, ob er mitmachen sollte und hatte nach längerem Zögern doch zugesagt. Jetzt schien es ihm Spaß zu bringen. Tom war froh, dass Gregor diese Truppe für sich entdeckt hatte, einmal ganz unabhängig von seinem Zwilling. Sie mussten eigene Wege gehen. Er erinnerte es noch von früher, von seinem eigenen Zwilling, wie schwierig es gewesen war, als jeder begann, ein Stück weit sein eigenes Leben zu leben. Vielleicht könnte es ein Abend mit Musik werden mit den beiden Mädchen. Aber es wäre unfair gegenüber Alexander, der allein übrigbleiben würde. Also, eher etwas spielen oder einfach im Wohnzimmer sitzen und erzählen. Meist übernahmen das seine Kinder und er hörte oder sah nur zu, aber er genoss es, dabei zu sein.

    Als er das Haus betrat, lag es in Stille. Tom lächelte. Sollte der Tag doch noch ein paar Minuten für ihn allein hergeben? Er begab sich unmittelbar ins Musikzimmer, sogar den Rucksack legte er erst neben dem Klavier auf den Boden ab. Im Hinsetzen auf den Klavierhocker sah er das Blatt, das vor seinen Noten lag. Für Papa, Alexanders Schrift. Stirnrunzelnd wog er das Blatt in seinen Händen, bevor er es langsam aufschlug.

    Hallo Papa. Hättest du Zeit für ein Gespräch heute? Es wäre mir wichtig. Alexander

    Verwundert ließ Tom das Blatt sinken. Alexander wollte ein Gespräch und bat darum an dem Ort, der Tom so wichtig war, am Flügel. Es erinnerte ihn an damals, als Gregor sich unter dem Klavier schlafen gelegt hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Um seinen Vater zu erwischen, um ihm zu gestehen, dass er seine Hörgeräte in die Toilette geworfen hatte. Jetzt wählte Alexander den gleichen Ort, um ihn um ein Gespräch zu bitten. Worum es wohl ginge? Eigentlich war er zu müde für ein Gespräch, es waren schon so viele, zu viele Worte, heute gewesen, mit den Patienten. Aber wenn es für Alexander so wichtig war… Tom ging durch den Flur zu dem Zimmer von Sophia und klopfte an. Es war leer. Die Tür des Nebenzimmers öffnete sich.

    »Hallo, Papa, Sophia ist doch noch beim Orchester.«

    Tom schreckte auf die Stimme kurz zusammen: »Hallo, Vera. Wann kommt Sophia?«

    »So gegen sieben.«

    »Sonst jemand zu Hause?«

    Vera grinste.

    »Du fragst genauso wie Alexander. Ja, Alexander ist schon zu Hause. Gregor kommt auch spät.«

    »Ja, gut. Ich gehe mal zu Alexander. Er… wollte etwas besprechen. Lass uns ein bisschen und mach deine Hausaufgaben, ja?«

    Vera sah ihn komisch an. Wusste sie, worum es ging? Tom fragte nicht.

    »Ja, Papa. Oder ich übe Klarinette.«

    »Ja, bis später.«

    In Gedanken versunken ging Tom die Treppe hoch. Vor dem Zimmer seines Sohnes hielt er noch einen Moment inne. Ein Gespräch. Was er wohl wollte? Noch nie hatte Alexander so explizit um ein Gespräch gebeten. Tom holte tief Luft und öffnete die Tür. Bei Alexander brauchte er nicht zu klopfen. Er griff zum Lichtschalter neben der Tür, um auf sich aufmerksam zu machen. An-aus-an-aus. Alexander sah von seinen Hausaufgaben auf und drehte sich auf dem Stuhl herum. Sein Vater stand in der Tür.

    »Hallo Alexander.«

    »Hallo Papa«, Alexander sah in das fragende Gesicht seines Vaters. Er war sicher, dass dieser seinen Zettel schon gefunden hatte, er sah es an dessen Blick.

    »Du… wolltest etwas besprechen?«

    »Ja«, plötzlich klopfte Alexanders Herz so stark, dass er es in seinem Hals spürte. Dort bildete sich ein Kloß. Wie gut, dass er mit seinem Vater nicht sprechen musste, er würde jetzt kein Wort über die Lippen bringen. Sein Vater musterte ihn. Alexander wusste, dass dieser kein Meister der Worte war. Eher ein Meister des Schweigens und Abwartens.

    »Willst du dich nicht setzen?«

    Es war gut, dass das Gespräch in seinem Zimmer stattfand. Sein Terrain, er konnte seinem Vater sogar einen Platz anbieten. Sein Vater nickte leicht und ließ sich auf die Kante des Bettes sinken. Er blickte seinen Sohn weiter fragend an.

    »Papa, ich…«, Alexander stockte.

    Sein Vater sah ihn unverwandt an. Es passte nicht zu seinem Sohn, nicht zu diesem. Alexander hatte noch nie Schwierigkeiten gehabt sich auszudrücken. Er war einer der Redner dieser Familie. Sein Herz lag meist auf seiner Zunge, oder in seinen Händen, je nachdem welcher Sprache er sich bediente.

    Alexander blickte kurz zu Boden und sammelte sich. Schließlich sah er auf und suchte den Blick seines Vaters. Seine Hände zitterten leicht, als sie die Worte formten: »Ich möchte ein CI.«

    Tom trafen diese Worte wie ein Schlag, sie gingen ihm durch und durch. Er senkte den Blick, wich dem erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht seines Sohnes aus.

    Die Antwort seines Vaters, sein Schweigen, sein abgewandter Blick dehnten sich in Alexanders Gefühl in eine unerträgliche Ewigkeit. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus.

    »Papa?«

    Tom zuckte zusammen, die Stimme seines Sohnes. Alexander sprach weiter. Sein Vater sah ihn nicht an, aber seine Ohren konnte er nicht verschließen. »Papa, ich weiß nicht, ob du es verstehst. Ich bin es so leid. Ich sehe, wieviel besser Finn und die anderen klarkommen. Sie sprechen offenbar hundertmal besser, Finn wird von jedem verstanden. Die Leute glotzen nicht immer so blöd, wie bei mir, wenn ich nur den Mund aufmache. Ich strenge mich mit der Logopädie an, ich kann wieder mehrmals pro Woche hingehen, ich finde schon irgendwie die Zeit. Und hören«, sein Vater sah langsam auf, »Papa, ich möchte so gerne hören. Leichter verstehen, Musik…«

    »Bist du sicher?«

    »Ja, Papa«, und vorsichtiger, »kannst du mich verstehen?«

    Die Antwort war unerwartet.

    »Nein.«

    »Aber warum, Papa? Alle haben Verständnis, warum du nicht?«

    »Du hast mich gefragt, ob ich dich verstehe. Alexander, ich KANN dich nicht verstehen. Ich bin nicht taub. Ich glaube, ich kann nicht wirklich nachempfinden, wie es für dich ist.«

    »Wirst du mir helfen?«

    »Ja.«

    »Bist du mir böse?«

    »Nein, Alexander.«

    Ein vorsichtiges Lächeln breitete sich auf dem Gesicht seines Sohnes aus. Tom hoffte, dass das Gespräch beendet war, er wünschte jetzt nichts mehr, als sich zurück zu ziehen. Alexander tat ihm nicht den Gefallen. Er machte weiter, so wie seine Mutter immer wieder weiter gemacht hatte, egal, wie weh es ihm getan hatte.

    »Papa, ich muss dich noch etwas fragen.«

    »Ja?«

    »Warum habt ihr euch damals gegen ein CI für uns entschieden? Gab es irgendeinen guten Grund?«

    Tom holte tief Luft und stieß sie durch die Nase aus. Nichts hielt ihn mehr auf der Bettkannte, er stand auf und sah aus dem Fenster auf den Garten, der in der Dunkelheit lag, hinaus. Nachdem er zu Atem gekommen war, setzte er sich halb auf die Tischkante des Schreibtisches und nahm wieder Blickkontakt mit seinem Sohn auf.

    »Ja. Alexander, es gab Gründe. Der wichtigste war, dass deine Mutter und ich ohnehin in Gebärdensprache kommunizieren. Die Sprache ist wie für euch gemacht. Ich… war damals sehr froh, dass ich euch diese geben konnte. Dass wir alle eine Sprache teilen. Du weißt es nicht mehr, aber wir haben sogar den Beginn der Logopädie hinausgezögert, bis ihr drei wart. Niemand hat es damals verstanden. Aber ihr habt euch prächtig entwickelt, in eurer, in unserer Sprache. Alles war in Ordnung. Ihr hattet nie ein Kommunikationsdefizit hier zu Hause. Die anderen Kinder: die Eltern geben ihnen ein CI, damit sie mit ihnen kommunizieren können. Die Kinder müssen sich auf sie zu bewegen, eigentlich sollte es andersherum sein. Ich hätte es als eine Nicht-Akzeptanz eurer Behinderung empfunden, wenn wir euch hätten operieren lassen. Wie ein Defekt, den

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