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Baltimore: oder Der Standhafte Zinnsoldat und der Vampir
Baltimore: oder Der Standhafte Zinnsoldat und der Vampir
Baltimore: oder Der Standhafte Zinnsoldat und der Vampir
Ebook485 pages5 hours

Baltimore: oder Der Standhafte Zinnsoldat und der Vampir

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About this ebook

Ein Meisterwerk von Mike Mignola und Christopher Golden!

Als Lord Henry Baltimore auf einem der höllischen Schlachtfelder des ersten Weltkriegs den Zorn eines Vampirs heraufbeschwört, verändert sich die Welt für immer. Eine extrem ansteckende Seuche wurde entfesselt – eine Seuche, die selbst der Tod nicht beenden kann.

Jetzt ein einsamer Soldat im Kampf gegen die Dunkelheit, lädt Baltimore drei alte Freunde zu einem Treffen in ein einsames Wirtshaus – Männer, deren Reisen und fantastische Erfahrungen sie an jenes Böse glauben lassen, das die Seele der Menschheit verschlingt.

Während die Männer auf ihren alten Freund warten, erzählen sie sich ihre Erlebnisse von Schrecken und Horror und stellen Überlegungen an, über ihren Anteil in Baltimores zeitlosen Kampf. Noch vor die Nacht dem Morgen weicht, werden sie wissen, was zu tun ist um die Seuche zu besiegen – und die Kreatur, die Baltimore als seinen Erzfeind betrachtet – endgültig.

Mit zahlreichen Illustrationen von Mike Mignola.
LanguageDeutsch
PublisherCross Cult
Release dateApr 6, 2020
ISBN9783966580663
Baltimore: oder Der Standhafte Zinnsoldat und der Vampir
Author

Christopher Golden

Christopher Golden is the New York Times bestselling author of such novels as Of Saints and Shadows, The Myth Hunters, Snowblind, Ararat, and Strangewood. With Mike Mignola, he cocreated the comic book series Baltimore and Joe Golem: Occult Detective. He lives in Bradford, Massachusetts. 

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    Book preview

    Baltimore - Christopher Golden

    ZINNSOLDAT

    IN EINER KALTEN HERBSTNACHT frei von Sternenlicht, unter einem finstren Himmelszelt, dem selbst der Mond den Rücken kehrt, hält Captain Henry Baltimore sein Gewehr fest umklammert und starrt über den finsteren Abgrund des Schlachtfelds hinweg, und er weiß in seinem Herzen, dass dies die marternden Fegefeuer der Hölle sind und dass die Verdammnis nur wenige Schritte entfernt auf ihn wartet.

    Er hält inne, kniet nieder, lauscht, aber der klamme Herbstwind trägt lediglich den Gestank von Tod und Verderben herüber. Baltimore gestikuliert in Richtung der Männer, die sich hinter ihm durch die Finsternis arbeiten, und bewegt sich dann gebückt auf eine kleine Anhöhe zu. Erde, die das Kriegsgetöse aufgeworfen hat … oder ein Haufen aufgetürmter Leichen.

    Hinter der Anhöhe sinkt Baltimore auf die Knie. Ein unschuldiger Lehmhaufen, der beim Ausheben eines Grabens entstanden ist. Aber diese Tatsache vermag ihm keine Erleichterung zu verschaffen. Allerdings wird dieser winzige Hügel ihnen bessere Deckung bieten, als es Leichen gekonnt hätten. Kugeln durchdringen verwesendes Fleisch weit leichter als harte Erde.

    Im Dickicht der Nacht würde nur ein Wahnsinniger den Versuch wagen, das zerklüftete Niemandsland zu überqueren, das seine Kompanie von den Hessen trennt. Die verbrannte Tundra ist zerfurcht von feuchten, matschigen Gräben und übersät mit den Körpern der Toten. Stacheldraht schlängelt sich in gewundenen Reihen quer über das Feld.

    Und doch erweisen sie sich als Wahnsinnige. Der Kompanieführer hat bestimmt, dass irgendjemand jenen verfluchten Boden in der Finsternis überqueren und den Kampf bis an die Schwelle des Feindes tragen soll. Ein Befehl, aus Verzweiflung geboren. Ohne eine Wendung des Schicksals – durch Götter oder Menschen – wird das erste Morgenlicht sie in höchst misslicher Lage wiederfinden.

    Die Mission ist Captain Baltimore übertragen worden.

    Er hat seinen Zug weggeführt von der Sicherheit des Kompanielagers, hinaus aus dem Wald, der nun in so weiter Ferne zu liegen scheint, fünfzig Meter hinein ins Niemandsland. Und bis zur nächsten brauchbaren Deckung müssen sie noch mindestens das Vierfache dieser Wegstrecke zurücklegen. Die Hessen kampieren in den dichten Wäldern auf der anderen Seite des Schlachtfelds.

    Baltimore weiß, dass er hier genau am Rande der Welt steht. Wie sonst wäre das Grauen zu erklären, das in seiner Brust umherkriecht und sich um seine Seele windet? Er muss vor der Pforte zur Hölle stehen, denn er kann sich kein Stück Boden vorstellen, das ferner der Heimat liegt, ferner der Familie und ferner jeden Trostes. Und doch ist dies die Natur des Krieges. Ein Soldat zu werden, Blut zu vergießen und menschliche Seelen im Namen von Glaube und Vaterland zu tilgen, heißt, in so weite Ferne zu reisen, dass dein Zuhause eine so entfernte und geheiligte Erinnerung wird wie die Unschuld.

    Er sehnt sich nach beidem, als ihm endlich klar wird – erst hier und jetzt –, dass er es für immer verloren hat.

    Als Knabe war er an verregneten Tagen in seinem Zimmer geblieben und hatte mit seinen Zinnsoldaten gespielt, hatte sie zu Feinden erklärt und sie einander auf dem Schlachtfeld seiner Bettdecke umbringen lassen. Doch Zinnsoldaten bluten nicht. Sie wandern zurück in ihre Kiste und leben weiter, bis zur nächsten Schlacht an einem anderen Tag.

    Soldaten aus Fleisch und Blut enden auch in einer Kiste, aber die ist aus schwerem Kiefernholz. Baltimore hat viel zu oft mit angesehen, wie Soldaten bluten und schließlich in diese Holzkisten gebettet werden. Furcht pulsiert nun in seinen Adern, er kann sich kaum rühren. Der Tod wartet auf dieser verwüsteten Ebene, und Baltimore verspürt nicht den Wunsch, ihm zu begegnen. Seine Knochen schmerzen. Eine schmerzhafte Kälte kriecht in seine Knochen, die mehr vom Schrecken und der Trauer herrührt denn von der Novemberluft, und er muss um Atem ringen.

    Er hebt eine Hand und gibt seinen Männern den Marschbefehl, erst denen zur Linken und dann denen zur Rechten. In zwei Reihen hasten sie vorwärts, seine Position zu beiden Seiten flankierend. Ihre Bewegungen sind flüsternd leise, sodass sie kaum die Finsternis aufwühlen, und doch kommen sie ihm viel zu laut vor. Während sie sich nähern, kann er das behutsame Auftreten ihrer Stiefel auf dem harten Grund hören und das kehlige Grunzen grimmiger Männer, die des Tötens überdrüssig sind.

    Ihre Gestalten schälen sich aus dem Schwarz. Figuren, auf deren Kopf die flachen Helme der alliierten Truppen sitzen, das Gewehr stets im Anschlag. Ihm am nächsten ist Sergeant Tomlin, der sein Gewehr im Arm wiegt wie ein Neugeborenes.

    Die Wolken am Nachthimmel hängen tief und üppig, sodass nur der leiseste Anflug von Licht vom Himmel dringt. Tomlins Augen funkeln in der Finsternis, und jetzt, da er nahe herangekommen ist, sieht Baltimore die Anspannung in den Gesichtszügen seines Untergebenen. Seine Haut kribbelt vor Angst, und in seinem Brustkorb hämmert sein Herz so schnell, dass es schmerzt. Baltimore war nie ein Feigling. Und doch zögert er jetzt, ausgerechnet hier, am denkbar ungünstigsten Ort für ein derartiges Innehalten.

    Da ihm keine andere Wahl bleibt, nickt er, hebt seine Hand und bedeutet seinen Männern erneut vorzustoßen.

    Umrisse, so schwarz wie Ebenholz, preschen vor und verteilen sich auf dem Feld. Baltimore und Sergeant Tomlin trennen sich und umkreisen jeder für sich den Hügel aus feuchter Erde, und selbst auf diese Entfernung ist der Sergeant kaum mehr als ein dunkler, sich bewegender Schatten. Baltimore umklammert sein Gewehr so fest, dass seine Finger schmerzen. Seine Beine scheinen eigenen Befehlen zu gehorchen, wie sie ihn über die aufgerissene Erde tragen. Er stolpert beinahe über einen toten Soldaten, dessen Körper so verbrannt ist, dass unmöglich zu erkennen ist, ob er Freund oder Feind war. Das Gesicht des Toten ist zerlaufen wie geschmolzenes Kerzenwachs.

    »Mein Gott«, dringt Baltimores Flüstern ans Ohr der Nacht.

    Tomlin hastet nach links, um zu seiner Abteilung aufzuschließen, und Baltimore reißt sich vom Anblick des toten Mannes los, um zur Abteilung auf der rechten Flanke zu stoßen. Leises Grunzen und das Schaben von Drillichen und Baumwolluniformen ertönt von weiter vorne, wo sich Tomlins Zug sammelt, doch die Nacht hat sie alle verschluckt.

    In gebückter Haltung stiehlt sich Baltimore über das zerstörte Areal, seine Männer dicht hinter ihm. Er hebt eine Hand. Seine Augen suchen nach Norwich, dem Corporal mit dem Drahtschneider, und finden den Mann unmittelbar neben sich. Die Griffe des Werkzeuges ragen aus seinem Rucksack.

    Jeder für sich erreichen sie den Stacheldraht – ein verwobenes, mannshohes Durcheinander. Baltimore sinkt auf ein Knie. Seine nächste Geste gilt Corporal Norwich. Der Mann drückt dem Private neben sich sein Gewehr in die Hand und lässt den Drahtschneider aus seinem Rucksack gleiten. So rasch und so geräuschlos wie möglich macht er sich am Stacheldraht zu schaffen. Weiter vorne wird Tomlins Abteilung ebenso verfahren.

    Baltimore richtet sich auf und blickt forschend zur anderen Seite des Schlachtfeldes. Die dem offenen Areal nächstgelegenen Bäume sind Schattenstreifen vor dem tieferen Schwarz des Waldes.

    Norwich ist schon auf halbem Wege durch die fast zwei Meter dorniger Maschen. Dort, wo er die Barriere durchtrennt hat, ist der Draht zurückgewichen wie das Fleisch um eine Wunde.

    Der Corporal durchtrennt ein weiteres Stück, das zurückschnellt und seine Wange peitscht. Fleisch wird aufgerissen. Norwich stöhnt laut auf und lässt die Drahtschere fallen. Er drückt mit einer Hand auf seine Wange, aber weder schreit noch flucht er. Baltimore stürmt auf die Öffnung im Stacheldraht zu. Er gibt dem Private, der Norwichs Gewehr hält, einen Wink, und die beiden Männer ziehen Norwich an seinen Beinen zurück.

    Die Augen des Corporals sind von Schmerz und einem brodelnden, merkwürdig unbestimmten Zorn erfüllt. Blut malt schwarze Schlieren auf sein Gesicht und Kinn und sickert durch die Finger, die er auf seine Wunde gedrückt hält.

    Baltimore nickt Norwich anerkennend zu, dass er es geschafft hat, die Stille zu wahren. Dann lässt er den Private, der ihm geholfen hat, Norwich aus dem Stacheldraht zu zerren, mit einem stummen Blick wissen, dass es nun an ihm ist, den Schneider aufzuheben und mit der Aufgabe fortzufahren. Der Private zögert einen Augenblick lang, als hoffe er, dass der Befehl einem anderen Soldaten gegolten habe. Dann klettert er zögerlich in den Stacheldraht vor und hebt die Drahtschere auf.

    Ein in Schatten gehüllter Schemen kommt näher und tritt zwischen dem Pulk wartender Soldaten hervor. Der Mann nimmt seinen flachen Blechhelm ab und Baltimore erkennt in ihm den Sanitäter Stockton. Der greift in einen Beutel, den er sich über die Schulter geworfen hat, und zieht einen kleinen Kasten hervor. So geschwind, wie der hagere Private Strang um Strang kappt und eine Bresche in die Drahtwinden schlägt, reinigt Stockton Norwichs Wunde und schmiert eine gerinnungsfördernde Paste auf sie. Mehr kann jetzt nicht für den Verwundeten getan werden. Die Position der klaffenden Wunde macht eine Bandage hinderlich beim Kampfeinsatz.

    Stockton besieht sich die Wunde ein letztes Mal, doch in der Dunkelheit ist es letztlich unmöglich, einen genaueren Blick zu erhaschen. Der Sanitäter zeigt Captain Baltimore den erhobenen Daumen und geht in die Hocke, um sich zu den anderen Soldaten zu gesellen, die auf den Marschbefehl warten. Eine schwarze Silhouette im Flügelhelm übergibt ihm sein Gewehr.

    Der hagere Private kehrt gebückt aus dem Drahtungetüm zurück. Er hat Norwichs Aufgabe zu Ende gebracht. Sie haben jetzt einen Pfad.

    Mit schmerzverzerrtem Gesicht steht Norwich auf, angelt sich die Drahtschere und steckt sie wieder in seinen Rucksack. Er und der Private sehen ihren Captain erwartungsvoll an. Baltimore nickt und signalisiert seinen Männern, sich in Bewegung zu setzen. Private Macintosh bildet die Spitze. Baltimore hätte den Umriss des hünenhaften Rohlings unmöglich mit jemand anderem verwechseln können. Der Captain reiht sich an fünfter Stelle ins Glied ein, während sie sich schnellen Schrittes durch die Schneise im Stacheldraht vorarbeiten.

    Auf der anderen Seite verteilen sie sich und bilden entlang des Drahtes eine Reihe. Baltimore studiert das zerlöcherte und vernarbte Schlachtfeld, das vor ihm ruht. Wind kommt auf. Als die Kälte durch seine Uniform bis direkt auf den Knochen schneidet, erzittert er.

    Weniger als zehn Fuß vor ihm gähnt ein breiter Graben, der wie eine Wunde klafft, die man in die Welt geschlagen hat. Gegen die Schwärze in diesem Abgrund wirkt die Nacht hell. Zu seiner Linken wird sich Tomlins Abteilung inzwischen auch durchgearbeitet und verteilt haben, sodass das Platoon wieder vereint ist. Sie werden auf seinen Befehl warten, als gäbe es denn eine andere Wahl außer dem Weg voran … in den Graben hinab und auf der anderen Seite wieder hoch.

    Baltimore hebt seine Hand, um das Vorrücken zu befehlen.

    In schneller Abfolge durchdringen drei bellende Geräusche die Nacht, gefolgt von einem seltsamen Pfeifen, das sein Ende findet, als ein Trio von Leuchtgeschossen in gleißender Helligkeit über dem Schlachtfeld explodiert und die ganze Szenerie in ein grelles weißes Licht taucht, sodass man jeder Leiche und jedes Grabens und jeder Grassode im Erdboden ansichtig werden kann.

    Das Platoon sitzt zwischen Stacheldraht und Graben wie auf dem Präsentierteller, ohne jede Deckung.

    Grauen und Furcht, die durch seine Venen rasen, erstarren zu massivem Eis wie auch Baltimore selbst. Seine Beine stehen fest verwurzelt an Ort und Stelle, einem seiner geliebten Zinnsoldaten gleich, dessen Füße an den Sockel geschweißt sind. Er hat versagt und sein Land im Stich gelassen wie auch die Männer, die ihm folgen. Sein Blick folgt den Leuchtgeschossen, die sich zum höchsten Punkt ihrer Flugbahn erheben und dort oben einen Moment lang wie Engel in der Luft zu stehen scheinen.

    Zehn oder zwanzig Fuß zu seiner Rechten flucht einer seiner Männer. Die Stimme klingt, als dringe sie aus eintausend Meilen Entfernung an sein Ohr. Und so groß mag die Distanz zwischen ihnen auch sein, zwischen ihnen allen, denn im Augenblick des Todes steht jeder Mann für sich alleine.

    In dieser Flut aus weißem Licht senkt Baltimore den Blick, selbst als der Graben vor ihm zum Leben erwacht. Die Hessen, die dort gekauert haben, rappeln sich mit gezückten Waffen auf und recken die Läufe ihrer Maschinengewehre hoch, um ihre Ziele aufs Korn zu nehmen.

    Ein Zinnsoldat kann sich nicht bewegen.

    Er steht bereit, das Gewehr in der Hand, doch es wird der Hand des Kindes bedürfen, um ihn in das Duell mit seinem Feind zu entsenden. Eine schwere Wolldecke in zwei Blautönen dient als Schlachtfeld. Ihre Knitterfalten geraten zu Hügeln, auf denen dem Zug der Zinnsoldaten der Angriff befohlen werden muss.

    Der Krieg hält inne. Er atmet eine leichte Frühlingsbrise, die durch das Zimmer huscht.

    Der Junge ist fürs Erste gegangen. Verbündete und Feinde stehen im Moment gefangen da. Die große Macht, die sie alle bewegt, hat sie inmitten dieser Szenerie fallen lassen und nacktes Entsetzen ergreift von dem Zinnsoldaten Besitz. Wie gelähmt kann er nur darauf warten, dass die Schlacht wieder zum Leben erwacht. Sobald der Junge zurückkehrt, wird sein Schicksal entschieden werden. Mag sein, dass er überlebt, mag sein, dass nicht. Doch die Ungewissheit nagt an ihm.

    Das Schlafzimmerfenster steht einen Spaltweit offen. Drum tanzt und wirbelt die Frühlingsluft in den Raum hinein. Das Sonnenlicht skizziert ein längliches Rechteck auf den Boden, das von einem Quartett aus Fensterkreuzen zerschnitten wird. Die Brise trägt Kinderlachen mit sich. Der Junge ist draußen und spielt mit seinesgleichen, während auf dieser blaugestreiften Wolldecke das Schicksal zweier Zinnarmeen erstarrt seiner Erfüllung harrt.

    Wenn der Junge doch nur hereinkäme, wenn Henry mit ihnen spielen würde und sein Lachen mit ins Zimmer brächte, dann, so weiß der Zinnsoldat, wäre alles wieder gut. Wäre der Junge hier im Zimmer, so würden hier Wärme und Fröhlichkeit einkehren. Und das Gefühl von Sicherheit. Doch in diesem versteinerten Augenblick kann alles geschehen.

    Ausnahmslos alles.

    Ein Zinnsoldat kann sich nicht bewegen.

    Ein neues Geräusch dringt in den Raum. Barsches, hochmütiges Gelächter, das keiner kindlichen Belustigung entstammt. Es kommt nicht von dem grünen Frühlingstag draußen vor dem Fenster, sondern von dem Regal hoch an der Wand. Aus einer Holzkiste, in deren bemalte Seiten grinsende Gesichter von Hofnarren geschnitzt sind. Ein Kurbelgriff ragt unbewegt aus einer Seite der Kiste hervor.

    Doch in der Kiste rührt sich etwas.

    Der Springteufel wälzt sich in seiner Holzkiste und es macht laut »Klopf-klopf-klopf«, als sein hölzerner Kopf gegen die Wände schlägt. Misstönende, fröhliche Musik blökt drei Noten, doch die Kurbel bleibt unbewegt. Das Gelächter erklingt erneut – ein raues, bellendes Stakkato –, und der Soldat weiß, dass es etwas gibt, vor dem er sich mehr fürchten muss als davor, sein Leben zu verlieren, den Krieg zu verlieren …

    Das Gewehrfeuer zerreißt die Luft – ein raues, bellendes Stakkato. Das Platoon manifestiert sich als schwarze Silhouetten, die aus dem grellen weißen Hintergrund herausstechen. Die Funken aus den Läufen regnen vom Himmel herab. Fast sehen sie aus wie Engelsflügel, wie sie auf der herbstlichen Brise dahintreiben. Ihr Flackern gleicht seinen Rhythmus dem Feuer der Maschinengewehre an und verwandelt das Abschlachten von Baltimores Männern in ein grauenhaftes Zoetrop – ein Grand Guignol aus Schatten und Licht.

    Schreie, beseelt von Schmerz und Tod, erheben sich um ihn herum. Baltimore dreht sich nach links und sieht, wie Sergeant Tomlin und noch ein weiterer Mann zurücktaumeln, wie Marionetten, deren Gliedmaße von den Kugeln zum Tanzen gebracht werden. Man treibt sie in den Stacheldraht, den sicheren Tod. Ihr Fleisch reißt bei jeder Bewegung. Sie bluten. Sie sterben.

    Rechts steht der hagere Private kerzengerade, ganz als stünde er stramm. Nur fehlt die obere Hälfte seines Schädels, und ein Loch klafft dort, wo seine Nase sein sollte. Eine Eintrittswunde. Längst tot, umklammert er noch immer sein Gewehr und marschiert drei Schritte vorwärts, bevor er in den Graben stürzt, hinunter zu den Hessen, die ihn ermordet haben.

    Der Zinnsoldat kann sich nicht bewegen.

    Baltimore realisiert nicht, dass er getroffen worden ist, bis er spürt, wie ihm heißes Blut am Oberschenkel hinabläuft und sein linkes Bein nachgibt. Während er vorwärtsstolpert, hebt er nicht einmal das Gewehr, um zu versuchen, seinem Sturz Einhalt zu gebieten. Die Waffe bleibt von seinen Händen umklammert, ein nutzloses Stück Metall.

    Wieder dröhnt Trommelfeuer aus dem Schützengraben. Und während er sich im Niedersinken um die eigene Achse dreht, sieht er die zur Tarnung mit Dreck geschwärzten Gesichter der hessischen Soldaten, wie sie ihre Waffen laden und ihre schweren Gewehre mit Munition füttern. Während die Funken verglühen, sieht er, wie zwei Männer seines Platoons zu seiner Position vordringen. Stockton und der Hüne Macintosh formieren sich um ihren Captain. Sie erwidern das Feuer, doch die zehn Kugeln in den Magazinen ihrer Gewehre werden nicht genügen.

    Baltimore fällt.

    Der Zinnsoldat kann nichts sehen, aber das kratzende, angedeutete Lachen dieses Dings in der geschnitzten Kiste, des abscheulichen Springteufels, das kann er hören. Das Geräusch könnte auch einer schrecklichen Maschine entweichen, in einer Fabrik Satans. Er weiß, dass der Springteufel dort oben auf seinem Regal in der Kiste belustigt innehält und nur auf seine Gelegenheit wartet, auszubrechen.

    Was das Wesen dann tun wird, das weiß der Zinnsoldat nicht. Aber er fürchtet schon jetzt jenen Augenblick, da er jenes misstönende, schrille Geräusch hören wird, wenn sich die entsetzliche Kurbel in Bewegung setzt. Denn dann wird er wissen, dass der Springteufel befreit wird.

    Fürs Erste ist das Lachen entsetzlich genug.

    Und dann verstummt es.

    Zeit vergeht, obschon der Soldat nicht weiß, wie viel. Er fühlt, wie seine Kameraden unnachgiebig auf ihn eindrängen, überall um ihn herum drücken Zinnarme und -beine von oben und unten auf ihn ein.

    Aber ja, doch, sie sind wieder in ihrer Kiste. Der Junge hat sie eingesammelt und verstaut, bis es ihn erneut nach Krieg gelüstet. Für den Jungen verhält es sich so einfach, so unschuldig.

    Wieder in der Kiste zu weilen, ist tröstlich. Erstickend, ja, denn dort drinnen liegt er verdreht, auf dem Rücken, die Beine steil in die Höhe und all die anderen Zinnsoldaten über ihm; ihre Gewehre stoßen in seinen Leib. Aber in der Kiste ist es sicher. Hier drinnen gibt es keine Feinde. Die zwei Armeen sind nun eine. Brüder aus Zinn.

    Er fühlt sich sicher. Freude gar durchströmt ihn.

    Vielmehr würde sie es, wäre die Nacht nicht so kalt und wäre da nicht der pulsierende Schmerz, den die Wunde in seinem Oberschenkel verursacht, und wäre da nicht der Gestank nach Blut und Moder.

    Es fängt an zu regnen.

    In der Kiste … zu regnen …

    Die Kälte weckt ihn. Kühle Tränen bilden ein Rinnsal auf seinem Gesicht, und Baltimore bemerkt, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt. Er kann atmen, was bedeutet, dass er noch nicht tot ist. Der metallische Geruch von Blut hängt in der Luft; der Regen kann ihn nicht wegwaschen.

    Zitternd öffnen sich seine Augenlider. Er lässt seinen Blick umherschweifen und versucht herauszufinden, wo er ist und wie er dort hingekommen ist. Andere Gerüche dringen ihm nun in die Nase – der satte Duft feuchter Erde, das schwere Bouquet ungewaschener Körper. Schmerz pocht in seinem linken Bein, als stieße irgendwer ein Bajonett tief in sein Fleisch.

    Vielleicht ist es das, mehr noch als der eisige Regen, was ihn geweckt hat.

    Baltimore fällt das Atmen schwer. In seiner jetzigen Lage sind seine Beine erhöht, während sein Kopf zurückhängt. Seine Gedanken erwachen langsam zum Leben, als habe er zu viel Whisky getrunken und sei mitten in der Nacht zu Sinnen gekommen, noch nicht gänzlich nüchtern. Sein Kopf fühlt sich betäubt an, sein Geist benebelt.

    Wieso fällt ihm das Atmen so schwer?

    Die Finsternis dauert an, also war er nicht lange genug bewusstlos, als dass der Morgen angebrochen wäre. Und doch wird Baltimore, während er versucht, die Desorientierung abzuschütteln, die ihn wieder ins Vergessen hinabzuziehen droht, klar, dass die Finsternis nicht mehr ganz so allumfassend ist, wie sie es gewesen ist. Dunkle Schemen lasten schwer auf ihm. Etwas Kaltes, Feuchtes, Rohes berührt sein Gesicht. Er liegt auf einer Reihe kleiner Bodenwellen und Erhöhungen, die sich anfühlen wie ein Steinhaufen.

    So verwirrt sein Verstand auch ist, dringt doch die Wahrheit an die Oberfläche und ein Seufzer der Verzweiflung entweicht seinen Lippen.

    Er liegt mit den Toten in einem Graben, und seine Kleidung ist durchnässt von Blut und dem eisigen Regen. Die Steine unter ihm sind die hervorstehenden Ellenbogen und Knie der Soldaten, die ihm in den Tod gefolgt sind. Er dreht sich ein wenig und zwingt seinen Kopf dazu, sich zu erheben. Zur Belohnung explodiert Schmerz in seinem verletzten Bein. Immerhin kann er jetzt sehen, dass die Last auf seiner Brust, die ihm das Atmen so erschwert, ein Gesicht hat. In der schwermütigen Finsternis der stürmischen Nacht kann er die Schnittwunde auf Corporal Norwichs Wange klaffen sehen. Der tote Mann starrt ihn an, mit seinen ins Leere blickenden, trüben Augen.

    Pein sticht wieder in sein Bein, und er fragt sich, welches Ausmaß seine Verletzungen haben mögen. Baltimore blinzelt und dreht sich wieder ein wenig, findet einen Halt in dem Totenmeer. Schwindelgefühl folgt auf seine Mühen und er lässt es kurz gut sein, um das Gefühl vergehen zu lassen. Er hat sehr viel Blut verloren.

    Er ringt mit dem Drang, um Hilfe zu schreien. Es ist unmöglich zu sagen, ob auf dem Schlachtfeld noch irgendwer lebt, aber wenn, werden es höchstwahrscheinlich Hessen sein und keine alliierten Soldaten. Und selbst wenn ihn sein eigenes Bataillon hört – wenn sie jemanden losschicken, der versuchen soll ihn zu holen, werden die Hessen auch ihn niedermähen.

    Bilder seiner Männer, wie sie abgeschlachtet werden, blitzen in seinem Verstand auf, und die Schuld wiegt so schwer, dass sie droht, ihn noch tiefer in das Loch zu drücken. Er war wie versteinert, unfähig zu jeder Hilfe.

    Nicht, dass das von Bedeutung wäre. Ein weiteres Gewehr hätte sie nicht gerettet, diese Männer, deren Blut den Boden tränkt. Jetzt wünschte er, ach, wäre er doch nur versteinert geblieben, um dem Schmerz zu entgehen wie auch der schneidenden Wahrheit seines eigenen Versagens.

    Kalt. Baltimore ist so unfassbar kalt. Eine schläfrige Starre übermannt ihn. Die Stille ist besser. Sicherer. Er hat schon zu viel Blut verloren, da ist er sich sicher. Der Tod wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.

    Und doch will er nicht in dem Schützengraben sterben.

    Er beruhigt seinen rasselnden Atem und versucht, einen klaren Kopf zu bekommen. Baltimore stützt sich an den Toten zu beiden Seiten ab und drückt sich in die Höhe. Getrocknetes Blut bröckelt von seiner Uniform. Schmerz rast durch sein Bein und er neigt sich zur Seite. Sein Kopf ruht auf dem Rücken eines toten Soldaten.

    Er kommt wieder zu Atem. Muss seine Augen zwingen, geöffnet zu bleiben. Sein Mund fühlt sich trocken an, und er kann spüren, wie die Bewusstlosigkeit an ihm zerrt, aber er lässt seinen linken Arm zwischen zwei Leichen emporgleiten. Einer von ihnen ist der tote Norwich. Die Leiche des Corporals wird von Baltimore beiseitegeschoben.

    Er kann nun den Himmel sehen. Eiskalter Regen spritzt auf sein Gesicht und hilft ihm, bei Bewusstsein zu bleiben. Frische Luft füllt seine Lungen, kalt und belebend. Der nächtliche Himmel ist voller schwerer Wolken, aber es gibt Lücken, hinter denen er schummrige Sterne ausmachen kann, und im Osten wird der Horizont langsam heller.

    Wenn er sich nur aus diesem Wirrwarr aus toten Männern befreien könnte, würde er friedlich auf der verwüsteten Erde liegen. Wenn er sich dann nicht rührt, wird der Schmerz vielleicht nicht so schlimm sein, und er kann seine Augen schließen, um sich jenem ewigen Schlaf zu überantworten.

    Er fragt sich, ob er lange genug leben wird, um Zeuge des Sonnenaufgangs zu werden, und hofft, er wird.

    Die Toten scheinen auf ihn einzudringen, als wollten sie ihn nicht freigeben. Sein Puls rast und Baltimore setzt sich in Bewegung. Er zieht sein gutes Bein unter sich, stützt sich wieder an den Toten ab und stößt sich aufwärts. Der Schmerz treibt einen Schrei seinen Hals hinauf, aber er presst die Zähne fest aufeinander und lässt nur ein leichtes Stöhnen hören. Er kann sein linkes Bein unterhalb des Knies nicht mehr fühlen, aber auf der Rückseite seines Oberschenkels fühlt er warmes, frisches Blut hinabsickern, und das bereitet ihm Sorgen.

    Dank seiner Hände Arbeit gelingt es dem leidenden Leib mit Ach und Krach, sich hochzuwinden. Er stößt sich hinauf, durch Beine und Arme hindurch, und sein Körper zittert ob der Anstrengung. Seine Gedanken verschwimmen, aber Baltimore bleibt gerade so weit bei Bewusstsein, dass er es vermeiden kann, in die Gesichter der Toten zu blicken. Je mehr er sie berührt, desto mehr spürt er ihre Geister, die ihn umgeben. Gespenster, die anklagend gerade eben am Rande seiner Wahrnehmung schweben.

    »Es tut mir leid«, flüstert er.

    Der Schmerz in seinem Bein trifft ihn wie Hammerschläge, sie zermalmen ihn, als Baltimore nach den Wänden des Schützengrabens greift und sich den Berg an Leichen zunutze macht, um sich hochzuarbeiten. Er entsteigt dem Graben mithilfe einer Leiter aus toten Soldaten. Seinen toten Soldaten.

    Er versucht den Schmerz, der ihn blendet, wegzublinzeln, und glaubt zunächst, es sei der Regen, der seinen Blick verklärt. Dann fegt ihn dunkles Vergessen von den Füßen, direkt in seine klamme Umarmung …

    … und wieder weckt ihn der kalte Regen.

    Einen Augenblick lang liegt er dort, unfähig sich zu bewegen, und fragt sich, ob die Hessen gesehen haben, wie er herausgeklettert ist. Er hat keinen von ihnen etwas rufen oder flüstern hören und auch kein Fußgetrappel, also geht er davon aus, dass er nicht bemerkt worden ist … oder ganz alleine ist.

    Der Wall aus Stacheldraht zeichnet sich zu seiner Linken ab. Männer aus seinem Platoon haben sich in dem Draht verheddert, manche wie gekreuzigt, mit gespreizten Armen und Beinen und von Einschüssen durchsiebt. Einem der Männer ist die Kehle durchgeschnitten worden, vielleicht um seinem Elend ein Ende zu bereiten, oder vielleicht auch nur, um seine Sterbensschreie verstummen zu lassen.

    Baltimore atmet tief ein und versucht sich umzudrehen. Schwärze schwimmt am Rande seines Blickfeldes und als er die Augen wieder aufschlägt, hat sich der Horizont geringfügig aufgehellt. Das Morgengrauen kommt mit jeder Ohnmacht näher.

    Er lehnt sich zurück, um den Horizont im Osten anzusehen und auf die Sonne zu warten. Darauf zu warten, zu sterben.

    Doch … da ist

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