Eine Insel im roten Meer: Erinnerungen an das Theologische Seminar Leipzig
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About this ebook
In diesem persönlich gehaltenen Erzählbuch erinnern sich ehemalige Studierende und Dozenten wie beispielsweise Christoph Dieckmann, Wolfgang Hegewald, Hans-Jörg Dost, Wilfried Engemann und Christoph Kähler an prägende Persönlichkeiten und an bemerkenswerte Umstände eines freien Studiums in unfreien Zeiten.
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Book preview
Eine Insel im roten Meer - Evangelische Verlagsanstalt
WOLFGANG RATZMANN/THOMAS A. SEIDEL (HRSG.)
Eine Insel
im roten Meer
Erinnerungen an das
Theologische Seminar Leipzig
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Weiterverarbeitung in elektronischen Systemen.
Gestaltung: FRUEHBEETGRAFIK · Thomas Puschmann · Leipzig
Coverbild: © Larzi · fotolia.com
E-Book-Herstellung:
Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-374-04871-7
www.eva-leipzig.de
Vorwort
Konnte man in der vormaligen DDR evangelische Theologie studieren? Ja, man konnte. Da gab es zum einen die Theologischen Fakultäten oder später so genannten »Sektionen Theologie« an den Universitäten in Jena, Leipzig, (Ost-)Berlin, Halle, Rostock und Greifswald, die institutionell mehr oder minder in das SED-politische Reglement eingebunden waren. ¹ Doch auch hier wirkten neben politisch angepassten Professoren ebenso solche, die unter diesen komplizierten Bedingungen ihre persönliche und fachliche Integrität zu wahren wussten. Daneben schufen sich die evangelischen Landeskirchen eigene, weitgehend staatsunabhängige kleine Hochschulen in Erfurt, Naumburg, Berlin – und Leipzig, um auch solchen jungen Leuten ein Theologiestudium zu ermöglichen, denen aus politischen Gründen der Besuch der »Erweiterten Oberschule«, d. h. ein gymnasialer Abschluss, verweigert wurde, und um generell die Freiheit der Theologie in Forschung, Lehre und Ausbildung auch institutionell zu wahren.
Das Theologische Seminar Leipzig (ThSL) war eine von jenen vier DDR-staatsunabhängigen Hochschulen, an denen junge Menschen – anfangs waren es vor allem junge Männer – aus unterschiedlichen Gründen ihr Studium aufnahmen. Die einen suchten bewusst die Kirchennähe einer Studieneinrichtung, weil sie sich schon früh für einen künftigen kirchlichen Dienst entschieden hatten. Die anderen zog vor allem die Unabhängigkeit vom staatlichen Bildungssystem an, weil sie schon oft die rigide Hand staatlicher Funktionäre gespürt hatten. Wieder andere suchten nach einer Bildungsmöglichkeit jenseits der Schule, weil ihnen ein Abitur verweigert worden war. Was die Studenten hier vorfanden, waren äußerlich eher bescheidene Verhältnisse, von denen in diesem Buch mitunter auch erzählt wird. Unter den restriktiven Bedingungen eines kirchenfeindlichen Regimes und einer finanziell eher schwachen Kirche dauerte es lange, bis sich die Lehrräume, die studentischen Unterkünfte oder die Bibliothekssituation spürbar verbesserten. Die Studienstruktur entsprach, wie an den Theologischen Fakultäten, dem klassischen Theologiestudium mit seiner Aufgliederung in die Hauptfächer Kirchengeschichte, Altes und Neues Testament, Systematische und Praktische Theologie, ergänzt von einzelnen Nebenfächern wie Missionswissenschaft, Ökumenik oder Kirchliche Kunst – freilich mit einer wichtigen Ausnahme: es gab hier eine dem Studium vorgeschaltete humanistische Vorausbildung in den für ein Theologiestudium wichtigen gymnasialen Fächern wie Deutsch oder Geschichte, Englisch oder Latein. Inhaltlich noch entscheidender war es allerdings, dass die marxistischen Erziehungs- und Bildungsideale, die die
DDR-Regierung
an ihren Schulen und Hochschulen massiv durchsetzte, hier keine Rolle spielten. Es waren eher der Geist der früheren humanistischen Gymnasien und die Bildungsintentionen aus evangelischem Glauben, die hier die Atmosphäre prägten. Dazu gehörte das bewusste Bemühen, den einzelnen Studierenden zu fördern und ihn nicht einfach als Ausbildungsobjekt zu betrachten. Allen, die hier unterrichteten, lag es am Herzen, an diesem besonderen Lern- und Lebensort, so bescheiden er sich äußerlich präsentieren mochte, den Studentinnen und Studenten eine umfassende Bildung auf der Höhe der jeweiligen europäischen und weltweiten ökumenischen geistigen Debatten zu vermitteln. Und sie genossen es, an diesem Hause den staatlichen ideologischen und politischen Einengungs- und Abgrenzungsstrategien nicht ausgeliefert zu sein.
Im Unterschied zum damaligen sozialistischen Hochschulwesen wurden Studierende auf unterschiedliche Weise mit in eine echte akademische Selbstverwaltung einbezogen. Sie konnten in vielen Kommissionen mitwirken und wichtige Entscheidungen der Hochschule beeinflussen. Auch wenn die Lernprozesse in Sachen Mitbestimmung und Demokratie nicht spannungsfrei abliefen, auch wenn das Wünschenswerte nicht immer mit dem Machbaren zur Deckung zu bringen war, wird man sagen können: Das Theologische Seminar war strukturell so etwas wie ein Trainingsort in Sachen Demokratie. Das betraf einmal die Haltung vieler Studierender den Kirchen gegenüber, deren Strukturen und Konzepte durchaus kritisch wahrgenommen wurden. Und das betraf ebenso die gesellschaftlichen Entwicklungen. Nicht zufällig suchten zahlreiche Studierende vor und während der Friedlichen Revolution von 1989/90 den Kontakt zu den neu sich bildenden gesellschaftlichen Gremien. Viele arbeiteten engagiert in den neuen demokratischen Parteien und Gruppierungen mit und sie übernahmen teilweise nach 1989 auch beruflich politische Ämter als Stadträte, Bürgermeister o. ä. Es zeigte sich, dass dieser besondere Freiraum nicht nur kirchlich oder theologisch nützlich gewesen war, sondern dass er mit dazu beitragen konnte, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse friedlich veränderten.
In den Jahren von 1964 bis 1991 nutzten 938 Jugendliche die Möglichkeit des Studiums am Theologischen Seminar Leipzig; 575 legten in dieser Zeit das Erste Theologische Examen ab. Umfassend humanistisch und theologisch gelehrt, kritisch begleitet und professionell angeleitet wurden sie von fünf bis sechs hauptamtlichen humanistischen Dozentinnen und Dozenten, die sie in den Alten Sprachen, aber auch in Deutsch, Englisch, Literatur, Philosophie und Geschichte unterrichteten, und von zehn hauptamtlichen theologischen Dozenten, die sie in die verschiedenen theologischen Fächer einführten. Hinzu traten eine ganze Schar von nebenamtlich tätigen Lehrbeauftragten, die als Spezialisten in einem besonderen Fach, z. B. im Fach Kunstgeschichte und Kirchliche Kunst, den Studienplan wesentlich bereicherten. Einigen der hier tätigen Dozenten und Dozentinnen war nicht zuletzt aus »politischen« Gründen eine Hochschulkarriere an einer
DDR-Universität
verwehrt worden.
Schon vor 1989 wurden die Kirchlichen Hochschulen in Gesprächen unter Studierenden mitunter als Inseln im roten Meer bezeichnet. Hinter dieser Metapher standen die eigene aktuell erfahrene und mehr oder weniger erlittene Gegenwart inmitten einer »roten«, kommunistischen Weltanschauungsdiktatur und die biblische Geschichte des Auszugs der Kinder Israels aus Ägypten. Man gebrauchte dieses Bild ironisch und liebevoll, mit einem Augenzwinkern und einer Portion Sarkasmus, insgeheim jedoch dankbar und wertschätzend. Christoph Michael Haufe, Dozent für Kirchengeschichte am Theologischen Seminar, griff die Metapher ganz selbstverständlich in einem Aufsatz 1993 auf, in dem er hier vom »insularen Dasein« im »Roten Meer des ›realexistierenden Sozialismus‹« sprach. ² Dabei klingt zugleich kritisch etwas von den Grenzen einer insularen Abgeschlossenheit an, von der auch einige Beiträge dieses Buches erzählen. Eberhard Jüngel hatte die SED-staatsunabhängigen Ausbildungsstätten der evangelischen Landeskirchen in Erfurt, Naumburg, Leipzig und Berlin mit einem anderen Bild als »Oasen des Geistes« bezeichnet. ³ Und Wolf Krötke, ehemaliger Dozent für Systematische Theologie im früheren »Sprachenkonvikt« in Ostberlin, einem der Parallelinstitute des Theologischen Seminars Leipzig, späterer Professor an der Humboldt-Universität, griff mit seinem Vortrag zum 50. Gründungsjubiläum des Theologischen Seminars wiederum auf die Insel-Metapher zurück. ⁴
Jeder bildhafte Vergleich hat gewiss seine Grenzen: Auch die Leitung des Theologischen Seminars lebte institutionell nicht auf einer völlig abgeschotteten Insel, sondern kam ohne elementare Absprachen mit staatlichen Vertretern, z. B. in Fragen des Wehrdienstes für Studierende oder der studentischen Fahrpreisermäßigungen bei der Deutschen Reichsbahn, nicht aus. Jeder Rektor benötigte für seine Kontakte mit staatlichen Vertretern ein großes Maß an innerer Festigkeit, um die Eigenständigkeit einer kirchlichen Hochschule und ihrer Prinzipien nach außen zu vertreten, aber auch an Kommunikationsbegabung, um das politisch Mögliche auszuhandeln. Und wiederum konnte man bisweilen auch außerhalb kirchlicher Strukturen mitunter erstaunliche »Inselerfahrungen« im sonst so geschlossenen realsozialistischen Bildungs- oder Kulturbetrieb sammeln, beispielsweise an einzelnen Theologischen Fakultäten, vorwiegend abseits der Metropolen Berlin und Leipzig.
Aber wie begrenzt oder vielfältig die Bilder sein mögen: In diesem – innerkirchlichen und außerstaatlichen – »Windschatten« bestand für aufgeschlossene junge Menschen die Möglichkeit, randständige und zentrale historische, philosophische, politische wie theologische Themen zu analysieren und zu debattieren. Auf diese Weise wurden für manch einen und manch eine die intellektuellen und mentalen Grundlagen einer sehr breit gefächerten Bildung und lebendigen Kritikfähigkeit gelegt, die über eine bloße Weltanschauungsdebatte nach dem Muster »Marx gegen Christus« oder »Theismus kontra Atheismus« weit hinausging. Die meisten Absolventen gingen nach dem Ersten Theologischen Examen in ihre Landeskirchen und übernahmen dort nach Vikariat und Zweitem Examen eine Pfarrstelle. 1989 dürften mehr als die Hälfte aller Pfarrerinnen und Pfarrer in Sachsen Absolventen des Theologischen Seminars Leipzig gewesen sein. Auch in den lutherischen Landeskirchen von Mecklenburg und Thüringen und in den unierten Kirchen der Kirchenprovinz Sachsen und Brandenburgs waren unter den Pfarrerinnen und Pfarrern viele Absolventen der Leipziger kirchlichen Hochschule.
Wie schon erwähnt, zählten manche der Absolventen später in ganz unterschiedlicher Weise und Intensität zu den Akteuren, die die Friedliche Revolution des Jahres 1989 geprägt und getragen haben. Davon gehörten einige der ersten, die meisten jedoch der zweiten und dritten (ost-)deutschen Nachkriegsgeneration an. Sie umfassen die Jahrgänge von 1940 bis 1960. Man könnte sie somit als »Kinder des Kalten Krieges« apostrophieren, was beschreiben soll, dass sie ihre Sekundärsozialisation, ihre wesentlichen Prägungen als Jugendliche, im geteilten Deutschland der 1960er und 1970er Jahre erlebten. Sie sind hinter dem Eisernen Vorhang aufgewachsen, und dies mit Bewusstsein zu einer Zeit, als die heißen Phasen des Kalten Krieges vorüber waren. Viele von ihnen entstammen christlichen Elternhäusern. Sie waren aufgewachsen in den protestantischen Biotopen Ostdeutschlands, was Ehrhard Neubert dazu veranlasst hat, von einer »protestantischen Revolution« zu sprechen ⁵ . Vom Krieg, von Hitlerjugend und vom Kirchenkampf hörten sie aus den stockenden Erzählungen der Eltern und Großeltern. Auch vom Hunger und Chaos der Nachkriegsjahre, in den Gesprächen am Küchentisch (zu) oft als »[…] Zeit echter Zufriedenheit mit dem Wenigen, Lebensnotwendigen«, »dem Erleben menschlicher Wärme und Bescheidenheit« verklärt, blieben weitergesagte Spuren. Die kirchenkampf-ähnlichen Auseinandersetzungen zwischen
SED-Staat
und den ostdeutschen Kirchen der vierziger und fünfziger Jahre hatten inzwischen an Schärfe verloren. Dennoch waren die Folgen dieser zwiespältigen und angstvollen Erlebnisse der Kriegs- und Nachkriegsgeneration für die Nachgeborenen deutlich zu spüren. Es schien, als sei bei den »Alten« auf die heftigen, von Resten nationalen Empfindens und evangelisch-volkskirchlichen Selbstbewusstseins getragenen Proteste gegen die willkürlichen Verhaftungen von »Agenten und Boykotthetzern«, gegen undurchsichtige und rabiate Enteignungen (1945/48), gegen vielfältige Repressionen des Staates gegenüber den »konterrevolutionären« Jungen Gemeinden und den Studentengemeinden (1952/53) und gegen die Einführung der Jugendweihe (ab 1954), als sei schließlich dem frustrierenden Erleben der brutalen Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 und den sich anschließenden Massenverhaftungen mehr und mehr die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung, nach Beheimatung gefolgt. Auch die besonderen Leipziger Erfahrungen des Jahres 1968, als der
SED-Staat
auf Geheiß Walter Ulbrichts eine im Krieg völlig erhalten gebliebene spätgotische Hallenkirche, nämlich die mit der Kultur- und Universitätsgeschichte der Messestadt eng verbundene Universitätskirche St. Pauli, sprengen ließ, führten meist nicht zu einer nach außen hin spürbaren Kursänderung. Besonders für viele lutherisch geprägte Pfarrerinnen und Pfarrer war es ein ernstes theologisches Problem, ob das
SED-Regime
selbst bei solchen massiven Fehlentscheidungen als »Obrigkeit« nicht ertragen werden müsse. Deshalb hatten sie nicht den öffentlichen Protest gewählt, sondern mit Briefen oder Eingaben den Entscheidungsträgern ins Gewissen zu reden versucht. Ähnlich verhielten sich Dozenten des Theologischen Seminars. Mit Respekt wurde die Haltung des damaligen Dekans der Theologischen Fakultät Leipzig, Prof. Dr. Ernst-Heinz Amberg, zur Kenntnis genommen, der als einziger Hochschullehrer im Senat der Universität seine Zustimmung zur Sprengung verweigerte. Aber unter den Studierenden kam es in dieser Zeit zu deutlichen Unruhen und Protestaktionen, an denen Angehörige der kirchlichen Hochschule, aber auch der damaligen Theologischen Fakultät beteiligt waren. Dieser christliche Widerstand wurde durch gezielte Verhaftungen einzelner Studierender bald erstickt.
Um das Theologische Seminar, eine dieser Inseln im roten Meer, geht es also in diesem Erinnerungsband. Im Jahr 1990 hatte es durch die damalige demokratisch gewählte
DDR-Regierung
endlich die Hochschulrechte erhalten und den neuen Namen »Kirchliche Hochschule Leipzig« angenommen. Doch bereits 1992 wurde es mit der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig zusammengeführt und beendete damit seine eigenständige Existenz. Ein Jahr später erschien eine erste historische Bestandsaufnahme: »Vier Jahrzehnte kirchlich-theologische Ausbildung in Leipzig« ⁶ . Eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte des Theologischen Seminars, die gleichwohl dringend erforderlich ist, ist eben erst begonnen worden. Diese kann und soll dieses Buch nicht ersetzen. Aber es kann sie in seiner Weise ergänzen, insofern in ihm – Mosaiksteinchen gleich – vielfältige Erfahrungen Betroffener in und mit dieser besonderen Hochschule berichtend oder erzählerisch festgehalten werden.
Die meisten Texte sind speziell für diese Veröffentlichung verfasst worden, und zwar von Ehemaligen, die heute als Publizisten oder Literaten, als Professoren, als Pfarrerinnen und Pfarrer oder als Inhaber kirchlicher Leitungsämter tätig bzw. tätig gewesen sind. Sie sind zu ganz unterschiedlichen Zeiten an der Leipziger Hochschule gewesen und beschreiben deswegen die Situation, wie sie sie damals erlebt haben. Einige wenige Beiträge berichten noch aus der Zeit, in der das Theologische Seminar Leipzig rechtlich noch gar nicht gegründet war, sondern in der es noch unter dem Dach der Leipziger Mission als »Missionsseminar« oder »Mi-Haus« als theologische Ausbildungsstätte arbeitete. Und einige andere Beiträge erzählen sehr anschaulich von den letzten Jahren seiner Existenz, als gerade in Leipzig revolutionäre Zeiten anbrachen und als sich aus der Friedlichen Revolution vielfältige Prozesse gesellschaftlicher Transformationen ergaben, die auch für die Strukturen der theologischen Bildung in Leipzig mit der Eingliederung der Kirchlichen Hochschule in die Theologische Fakultät einschneidende Konsequenzen hatten. So unterschiedlich die Zeiten waren, die im Hintergrund der einzelnen Berichte stehen, und so fragmentarisch der jeweilige Gegenstand sein mag, der betrachtet wird – wir als Herausgeber hoffen, dass alle Texte in je ihrer Weise etwas von den Konturen jener besonderen Insel im roten Meer aufzeigen können, die seit den 1950er Jahren bzw. seit dem juristischen Gründungsdatum 1964 und bis 1992 in der sächsischen Messestadt zu Hause war.
Wir könnten dieses Buch nicht vorlegen ohne die Mithilfe vieler anderer: So sei allen Autorinnen und Autoren für ihre Berichte von Herzen gedankt. Ein herzlicher Dank gebührt Matthias Katze, der das Namensregister erstellt hat. Ebenso danken wir den vielen Spendern, die durch teilweise erhebliche finanzielle Zuschüsse den Druckkostenzuschuss ermöglicht haben, so dass bei einer schönen Ausstattung dennoch der Preis des Buches niedrig gehalten werden konnte. Zu den Spendern gehören viele ehemalige Dozenten und Studierende des Theologischen Seminars, stellvertretend für sie sei der frühere Dozent für Alte Sprachen Robert Rosenkranz mit einer namhaften Spende genannt, aber auch die drei Landeskirchen, die früher zu den Trägerkirchen der Leipziger Hochschule zählten, nämlich die Ev. Kirche Mitteldeutschlands (als Rechtsnachfolger der Thüringer Landeskirche), die Ev.-Luth. Nordkirche (als Rechtsnachfolger der Mecklenburgischen Landeskirche) und die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens. Ebenso gehört auch die Vereinigte Ev.-Luth. Kirche (VELKD) zu den Spendern, die in der Zeit der deutschen Teilung das Theologische Seminar Leipzig immer wieder von ihren Dienststellen in Hannover und Berlin aus auf vielfältige Weise wesentlich unterstützt hat.
Wir sind sicher, dass zu den Lesern und Leserinnen dieses Buches viele Ehemalige gehören werden, die mit der Leipziger Hochschule biografisch eng verbunden sind. Aber wir wünschen diesem Erzählbuch auch junge Leserinnen und Leser, die durch die Beiträge dem begegnen, was ihre Eltern oder Großeltern früher erlebt haben, und die möglicherweise dadurch auch Anregungen für ihre eigenen Studien heute finden können.
Leipzig und Weimar, am Reformationstag 2016
Die Herausgeber
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Vom Missionsseminar zum Theologischen Seminar
WILHELM SCHLEMMER
Alltag und Lichtblicke
Das »Mi-Haus« der 1950er Jahre ohne und mit Gottfried Voigt
HUBERT SCHIERL
Gute Manieren inklusive
Studentischer Alltag in den 1960er Jahren
ANDREAS VOIGT
Nach und nach aus Engführungen befreit
Vom »Mi-Haus« zum Theologischen Seminar
Ereignisse, Personen, Erfahrungen am Theologischen Seminar
JOHANNES BERTHOLD
Wie ein kleiner Frühling
Geistliche Studienergänzung in der Bruderschaft Liemehna
CHRISTOPH DIECKMANN
»Hörnse druff!«
Weltliche Erinnerungen an das Theologische Seminar Leipzig
HANS-JÖRG DOST
Innere Angelegenheiten
Oder: Entscheidung am Lindenauer Markt
WILFRIED ENGEMANN
Dritter Weg – erste Wahl
Studium als Vorbereitung für die »Fahrt aufs offene Meer«
WOLFGANG GEILHUFE
»So könnte es möglich sein.«
Studentenseelsorge in Geh-Struktur
GERHARD GRAF
Auf geraden und krummen Wegen
Die Beschaffung von Westliteratur für die Bibliothek
HEIKO FRANKE
Gastgeber und Wegbegleiter
Erinnerungen an Ulrich Kühn
WOLFGANG HEGEWALD
Studium als Freiheitserfahrung
Aus den Erinnerungen eines dankbaren Kirchenasylanten
CHRISTOPH KÄHLER
Kommunikatives Handeln
Harald, Habermas und die Erziehung eines Dozenten
ERNST KOCH
Mongolisch VII
Erstaunliches und Unwahrscheinliches im Sprachunterricht
ROLAND KUTSCHE
Die schönste Nebensache der Welt
Theologen auf der Nonnenwiese
CHRISTOPH DIECKMANN
Wieder Zweiter!
CHRISTIAN MENDT
Gott hinterherdenken
Einblicke in einen subversiven Bildungsort
OLAV METZ
Schwer enttäuscht
In der Schule der Verantwortung
ANDREAS MÜLLER
Ein Tor zur Welt
Ökumenische Kontakte zum Queen’s College in Birmingham
CHRISTOPH SCHNEIDER
Himmlische Fügung
Ein katholischer Dozent am evangelischen Seminar
CHRISTIAN SCHULZE
»Konzentrationspunkt feindlich-negativer Personen«
Unterrichtserfahrungen und Stasi-Urteil
HANS SEIDEL
Theologie mit allen Sinnen
Musische Bildung als Teil des Theologiestudiums
THOMAS A. SEIDEL
Lindenhayn
Ein studentisches Wohngemeinschaftsidyll
DIETMAR SELUNKA
Räume, Personen, Rituale
Erinnerungen an Atmosphärisches aus den Jahren 1967–1972
MARTIN STEINHÄUSER
Angezettelt
Retrospektiven zu einem rebellischen Luther-Schauspiel
JÖRG UTPATEL
»Die Band« und Phyllis
Tanzmusik am Theologischen Seminar
HARALD WAGNER
Frieden, Macht und Angst
Das interdisziplinäre Seminar zum Thema »Frieden« im Sommersemester 1984
JÜRGEN ZIEMER
Umstrittene Ehe
Ein studentischer Brief und die Ehescheidung eines Dozenten
In Zeiten gesellschaftlicher Revolution und Transformation
ANGELA KUNZE-BEIKÜFNER
Studienbeginn in Zeiten des Umbruchs
Die Vorausbildung an der Kirchlichen Hochschule 1990/91
NADJA PAPAGEORGIU
Wunderbare Notgemeinschaft.
Studieren mit Kind und Kegel
WOLFGANG RATZMANN
Mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz
Wie aus Dozenten Professoren wurden
RAINER STAHL
»Ob es dann die DDR noch gibt?«
Prophetisches in der Dozentenkonferenz
CHRISTIAN STEINBACH
Gesprächskultur über Gräben hinweg
Ein theologisch-pädagogischer Sonderkurs unter dem Dach des Theologischen Seminars
KATRIN WUNDERWALD
»Ich bin richtig«
Anfangen kurz vor dem Ende
Anhang
WOLFGANG RATZMANN
Inselerzählungen
Ein Nachwort
Die Dozentinnen und Dozenten
des Theologischen Seminars bzw. der Kirchlichen Hochschule Leipzig
Die Rektoren
des Theologischen Seminars bzw. der Kirchlichen Hochschule Leipzig
Biogramme
der Autorinnen und Autorinnen
Personenregister
Bildnachweis
Weitere Bücher
Fußnoten
Vom Missionsseminar zum Theologischen Seminar
WILHELM SCHLEMMER
Alltag und Lichtblicke
Das »Mi-Haus« der 1950er Jahre ohne und mit Gottfried Voigt
Das rote Meer
Meine Zeit im Theologischen Seminar Leipzig lag im Schatten zweier für Leipzig prägender Ereignisse: dem 17. Juni 1953, an dem ich als Lehrling für Maschinenbau im Stadtzentrum aktiv beteiligt war, und dem 30. Mai 1968, an dem die Universitätskirche barbarisch und gegen den ausgesprochenen Willen der Bevölkerung und gegen alle Proteste gesprengt wurde. Am 25. März 1954 erklärte zwar die Sowjetunion die DDR zu einem souveränen Staat mit dem Recht, »nach eigenem Ermessen über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten zu entscheiden«; tatsächlich aber hatte sich nichts daran geändert, dass alles nach den Vorgaben aus Moskau zu laufen hatte. Die Gründung des Warschauer Paktes am 14. Mai 1955, der die Einbindung der DDR auch militärisch in den Ostblock stabilisierte, war ein Beleg dafür. Beim Rückblick auf die Jahre ist von heutiger Sicht aus verwunderlich, dass wir tatsächlich wie auf einer Insel leben konnten. Die Mehrzahl in meinem »Kurs« war zwar in ihrer persönlichen Vergangenheit von der DDR gezeichnet (bis hin zu mehrjährigen Hafterfahrungen), aber in unserem Alltag war das tatsächlich Vergangenheit und das Seminar ein Neuanfang.
Die berühmte Geheimrede Chruschtschows im Februar 1956, in der er mit den verbrecherischen Herrschaftsmethoden Stalins abrechnete und die anschließend das große Stalindenkmal am damaligen Karl-Marx-Platz und manche Straßennamen verschwinden ließ, schlug bei uns natürlich wie eine Bombe ein und hatte eine – durch die Erfahrungen von 1953 und die weitere Herrschaft Walter Ulbrichts – gebremste Hoffnung auf bessere Zeiten geweckt, vielleicht auch eine gewisse Unbekümmertheit unter uns im Blick auf die Situation und die Zukunft unserer Kirche. Die Staats- und Parteiführung der DDR hatte mit dem Aufbau der Nationalen Volksarmee, mit enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit der Massenflucht in die Bundesrepublik u. a. so viele fundamentale Probleme zu bewältigen, dass uns vom äußeren Bild her ein Schattendasein zugutekam. Wir hatten uns nach meiner Erinnerung auf ein Inselleben eingelassen und ließen Gedanken über aktiven Widerstand oder neue Umsturzversuche ruhen. Deutliche Reformgedanken für den weiteren Weg der Landeskirche angesichts des Rückgangs der Zahl der Gemeindeglieder oder Überlegungen zum Widerstand gegen die Diktatur der
DDR-Behörden
entwickelten sich erst später in der Gemeindearbeit.
Wie wir nach 1989 erfuhren, hatte die DDR natürlich immer wieder versucht, sich in die inneren Angelegenheiten der kirchlichen Ausbildung einzumischen bzw. diese zu kontrollieren. Ich denke daran, dass wir eines Tages in unserem Kurs einen Neuzugang hatten, der nach eigenen Aussagen an der »Arbeiter- und Bauernfakultät« (ABF) begonnen hatte, Theologie (!) zu studieren, und dies nun am Missionshaus fortsetzen wollte, der sich aber sehr bald als Außenseiter offenbarte und nach kurzer Zeit das Seminar auch wieder verließ. War er von Mielke geschickt worden? Ich weiß es nicht. Andererseits hatte das Seminar eine Bibliothek, um die wir von vielen Kollegen von der Universität beneidet wurden. Nach unserer Sicht war jedes theologische Werk und ein Großteil der belletristischen Literatur vorhanden und konnte ausgeliehen werden. Die Mauer war eben noch nicht gebaut, und der Bücherverkehr vor allem von West-Berlin in die DDR lief überraschend gut.
Unterschiedliche Studienerfahrungen am »Mi-Haus«
Bei mir persönlich kam der Wunsch, Theologie zu studieren, bereits in der Kindheit auf. Im 8. Schuljahr forderte unser Klassenlehrer jeden Schüler und jede Schülerin auf, einzeln nach vorn an die Tafel zu kommen und den Berufswunsch anzuschreiben. Neben den üblichen Berufen stand dann auch »Missionar« an der Tafel, was den Lehrer veranlasste, zu fragen: »Du willst also die Neger bekehren?« Neben anderen Auffälligkeiten war auch dies ein Grund, mir – nach anfänglicher Zulassung – wenige Tage vor dem Schuljahresabschluss und den Sommerferien den Besuch der Oberschule mit Abitur zu verweigern. Der offene aggressive Kampf gegen die Junge Gemeinde, der im April 1953 durch eine Sonderausgabe der
FDJ-Zeitung
»Junge Welt« zum Höhepunkt kam, hatte begonnen. Der staatliche Terror führte zu zahlreichen Schauprozessen, u. a. gegen den Leipziger Studentenpfarrer Siegfried Schmutzler.
Wollte ich nicht das Wagnis eingehen, in eine von mir nichtgeliebte Berufsausbildung verpflichtet zu werden, war jetzt Eile geboten, und ich suchte und fand im Bekanntenkreis eine Lehrmöglichkeit und wurde zunächst also Maschinenschlosser. Nach zwei Jahren legte ich als Sechzehnjähriger die »Facharbeiterprüfung« ab und war nun frei für neue Entscheidungen. Das Katechetische Oberseminar in Naumburg in der benachbarten Kirchenprovinz Sachsen, das unter uns einen guten Ruf hatte, kam für mich nicht in Frage, weil die Landeskirche Sachsens eine Mitfinanzierung ablehnte und meine Familie die Gesamtkosten (bei sechs Kindern in der Ausbildung) nicht aufbringen konnte. Eine Bewerbung in Leipzig scheiterte. Lizentiat Helmut Appel (damals Seminardirektor und »der Lic« genannt, der es ablehnte, seinen »Lic« in einen »Dr. theol.« umzuwandeln) sagte kurz und klar: »Sie sind mir noch zu jung«. Ein Jahr später, im Frühjahr 1955 wurde ich dann probeweise aufgenommen. Damals hieß das spätere Theologische Seminar noch Leipziger Missionshaus, kurz »Mi-Haus« genannt, der Missionsdirektor Carl Ihmels wachte streng über Lehre und Wandel der Seminaristen und der Dozenten, die Missionslehre war fest in den Stundenplan des schulmäßig gestalteten Unterrichts integriert, und der »Missionsneger« saß noch auf der Sammelbüchse und nickte bei jedem Geldeinwurf für die Arbeit der Äußeren Mission.
Das anfänglich monatlich zu zahlende Lehrgeld musste ich durch Ferienarbeit verdienen, wobei mir natürlich meine handwerkliche Berufsausbildung behilflich war. Am liebsten versuchte ich, im westlichen »Ausland« (West-Berlin oder Hamburg) eine Aushilfsanstellung zu bekommen, denn dann vermehrte sich der Verdienst durch die Umtauschquote West-Ost im Verhältnis 1 : 5 beträchtlich. Zum Unterrichtsgeld kamen noch diverse offizielle Schulden, die es zu begleichen galt. Im Missionshaus Paul-List-Straße, wo bis zum Einzug in das Haus Mozartstraße alle Unterrichtsveranstaltungen stattfanden und für die Mehrheit der Seminaristen auch die Studentenzimmer waren, gab es den Büchertisch von »Papa Schmidt«. Dieser war – trotz seines in unseren Augen fortgeschrittenen Alters – in der Beschaffung von theologischer Literatur sehr umsichtig, und bei jeder Neuerscheinung kaufte man, auch wenn Autor und Inhalt unbekannt waren. Warum? Nach wenigen Tagen