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Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein: Predigten
Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein: Predigten
Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein: Predigten
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Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein: Predigten

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About this ebook

Kein kirchliches Fest, kein politisches Ereignis, kein gesellschaftlicher Diskurs in den vergangenen Jahren, zu dem in der Öffentlichkeit nicht die klare Stimme Wolfgang Hubers zu hören gewesen ist. Er hat seiner Kirche nicht nur einen mutigen, wenn auch schmerzhaften Reformprozess verordnet, positionierte sich nicht nur in wichtigen gesellschaftlichen Fragen wie dem Sonntagsschutz oder dem verantwortlichen Umgang mit Ressourcen – nein, vor allem in den großen Fragen des Menschseins zeigte sich zunehmend seine nachdenkliche Frömmigkeit.
LanguageDeutsch
Release dateMar 31, 2010
ISBN9783869211589
Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein: Predigten
Author

Wolfgang Huber

Wolfgang Huber, Dr. theol., geb. 1942, seit 1980 Theologieprofessor in Marburg (Sozialethik) und Heidelberg (Systematische Theologie); 1983-85 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Von 1994-2009 Bischof von Berlin-Brandenburg, von 2003-2009 Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen.

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    Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein - Wolfgang Huber

    WOLFGANG HUBER

    GOTTES WORT HALTEN,

    LIEBE ÜBEN UND DEMÜTIG

    SEIN VOR DEINEM GOTT

    PREDIGTEN

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Vorwort

    Wahrhaftiges Herz, vollkommener Glaube

    Hebräer 10,19–25 * 1. Advent

    Große Freude allem Volk

    Lukas 2,1–14 * Heiligabend

    Gott nimmt Wohnung

    2. Samuel 7,4–6.11–14 * Heiligabend

    Vertrauen auf Gottes schöpferische Kraft

    Lukas 18,27 * Neujahr

    Vom Wein der Lebensfreude

    Johannes 2,1–11

    Führe uns nicht in Versuchung!

    Matthäus 4,1–11 * Invocavit

    Des Herrn Wort bleibt ewig

    Jesaja 40,8 * Oculi

    Ein Stein zieht große Kreise

    Markus 12,41–44 * Oculi

    Säen müssen wir alle

    Johannes 12,23–26 * Laetare

    Es ist gut für euch, dass ich weggehe

    Johannes 19,16–30 * Karfreitag

    Nun soll mir nicht mehr grauen

    Johannes 20,11–18 * Ostersonntag

    Ich sehe was, was du nicht siehst

    1. Samuel 2,1–2.6–8a * Ostersonntag

    Heilsame Diskretion

    Lukas 24,36–45 * Ostermontag

    Marta und die Option für das Leben

    Johannes 11,25–27

    Christus bei uns

    Epheser 1,20b–23 * Himmelfahrt

    Ruf nach vorwärts

    Johannes 14,6 * Pfingstsonntag

    Feuer fangen

    4. Mose 11,11–17.24–25 * Pfingstsonntag

    Ich bin ein Gast bei dir

    Psalm 39

    Finsternis ist wie das Licht

    Psalm 139

    Ungeduldig, zupackend, auf Sensationen aus

    Matthäus 17,1–9

    Moderat und nicht zancksüchtig

    Epheser 1,3–14 * Sonntag Trinitatis

    Die königliche Hochzeit

    Matthäus 22,1– 14 * 2. Sonntag nach Trinitatis

    Erwählt aus Liebe

    5. Mose 7,6– 12 * 6. Sonntag nach Trinitatis

    In Verantwortung vor Gott und den Menschen

    Römer 6,1–11 * 6. Sonntag nach Trinitatis

    Der Mensch auf Reise, Gott zur Seite

    Jesaja 43,1–7 * 6. Sonntag nach Trinitatis

    Alltagskultur und Glaube

    Apostelgeschichte 6,1–7 * 13. Sonntag nach Trinitatis

    Die Jakobsleiter

    1. Mose 28,10–19a * 14. Sonntag nach Trinitatis

    Werft euer Vertrauen nicht weg!

    Hebräer 10,35–36.39 * Diakoniesonntag

    Ohne Ansehen der Person

    Jakobus 2.1–13 * 18. Sonntag nach Trinitatis

    Segen und Lob sind eins

    2. Korinther 9,6–15 * Erntedankfest

    Mission beginnt im Alltag

    Matthäus 28,16–20 * 20. Sonntag nach Trinitatis

    Glaubenscourage und Gottes freie Gnade

    Römer 3,21–28 * Reformationstag

    Raum der Barmherzigkeit

    Judas 2

    Mut aus der Zukunft

    Lukas 17,20–24 * Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

    Hiobsbotschaften und Bewahrungsgeschichten

    Hiob 14,1– 12 * Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

    Umkehr zu verantworteter Freiheit

    Offenbarung 3,14–22 * Buß- und Bettag

    Protestation gegen den Tod

    Offenbarung 21,1–7 * Ewigkeitssonntag

    Verzeichnis der Bibelstellen

    Der Autor

    Impressum

    VORWORT

    Gegen Ende von Wolfgang Hubers Amtszeit als Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nahm das Vorhaben konkrete Gestalt an, eine Auswahl seiner Reden und Predigten aus den Jahren 2003 bis 2009 zu veröffentlichen. In den Planungsgesprächen wurden von vornherein beide Gattungen in den Blick genommen: Reden und Predigten. Mit der Gattung der Rede kennt er sich aus wie wenig andere. Reden gehören in die Welt der Universität – und der Politik. Insofern ist Wolfgang Hubers weit gespannte Vortragstätigkeit nicht ganz unbeteiligt an der Entstehung des Klischees, an ihm sei ein Politiker verlorengegangen. In dieser Formulierung stimmt das sogar. Das Klischee verkennt aber die Leidenschaft, mit der er Prediger des Evangeliums, Seelsorger und Hirte geworden ist. Mit der Wahl ins bischöfliche Amt hatte er sich neuen Herausforderungen zu stellen, und so sind Predigten (und Andachten!) nicht weniger als Reden ein Markenzeichen seiner Tätigkeit als Bischof und Vorsitzender des Rates der EKD geworden. Die in den hier vorgelegten Band aufgenommenen Predigten machen das deutlich.

    Predigten sind lebendige Stimme des Evangeliums. Wenn sie jedoch aus dem aktuellen Vollzug im Kontext des Gottesdienstes und des Kirchenraums, die ihrerseits mitpredigen, herausgelöst, auf ihre gedruckte Fassung festgelegt und vervielfältigt werden, verändern sie ihren Charakter. Dennoch − gedruckte Predigten behalten etwas von ihrer ursprünglichen Aura und Bestimmung. Auch sie wollen Glauben wecken, stärken und fördern. Und wenn sie darüber hinaus maßstabsetzend wirken und die Urteilskraft der Gemeinde, der Mitglieder des Kirchenvorstandes und anderer Prediger schulen, umso besser.

    Dass die Predigt als lebendige Stimme des Evangeliums ihren genuinen Ort im Gottesdienst hat, ergibt sich für Wolfgang Huber noch aus einem anderen Überlegungsgang: Wenn „der christliche Glaube für die Menschen, die zu ihm bisher keinen Zugang haben, in seiner Lebendigkeit und Lebensdienlichkeit verständlich werden soll, muss er soziale Plausibilität gewinnen. Darum besteht die Aufgabe der Kirche auch „darin, die Sozialformen des christlichen Glaubens zu erneuern. Der Gottesdienst ist die grundlegende Sozialform des christlichen Lebens. Das gemeinsame Hören, das gemeinsame Loben und Klagen, die gemeinsame Teilhabe am Heiligen und die Sendung in die Welt bilden den Kern der Kirche als Gemeinschaft (W. H., Kirche in der Zeitenwende, 1998, S. 12 f.).

    So war es für Wolfgang Huber in seinem Amt als Bischof selbstverständlich, regelmäßig zu predigen. Das hat es leicht und schwer zugleich gemacht, diesen Band mit seinen Predigten zusammenzustellen: leicht, weil sehr viele Predigten zur Verfügung stehen, schwer, weil eben dies die Qual der Wahl im Gefolge hat. Als Wegbegleiter habe ich mich oft gewundert, woher er die Zeit nahm, sich auf diese Predigt und jene Andacht vorzubereiten. Zu den Gaben, mit denen Gott ihn reich gesegnet hat, gehören nicht nur ein wacher Intellekt und große sprachliche Kraft, sondern − verbunden mit protestantischer Arbeitsdisziplin − auch eine ungewöhnliche Ausdauer und Belastbarkeit. Mit ihm zusammenzuarbeiten ist ein großes Privileg − vorausgesetzt, man vergleicht sich nicht mit ihm.

    Dass Wolfgang Huber mit gleicher Leidenschaft als Redner und Prediger gewirkt hat, sagt nicht nur etwas über seine Person, sondern auch über das Amt des Vorsitzenden des Rates, das er sechs Jahre bekleidet hat. Weithin ist unbekannt, dass die Grundordnung der EKD keineswegs vorschreibt, dass der Vorsitzende des Rates ordinierter Geistlicher sein muss. Dennoch ist es seit 1945 noch kein einziges Mal anders gewesen. Und das hat einen starken Grund: Nach evangelischem Verständnis ist die Kirche zu bestimmen als die „Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. So sagt es das Augsburger Bekenntnis von 1530 in seinem VII. Artikel. „Beide, Glaube und Glaubensgemeinschaft, verdanken sich dem sich in der Verkündigung des Evangeliums und in den Sakramenten manifestierenden Wort Gottes. Darum sind im reformatorischen Verständnis die rechte Verkündigung des Evangeliums und die evangeliumsgemäße Feier der Sakramente „die ‚Kennzeichen der wahren Kirche‘ … Mit ihnen ist der Auftrag gegeben, den die Kirche zu erfüllen hat" (Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis,

    EKD-Texte

    69, 2001, S. 5 – 7). Es macht symbolisch einen großen Unterschied, ob der oder die Vorsitzende des Rates selbst das Amt ausübt, durch das sich der Leib Christi aufbaut, oder ob dies nicht der Fall ist. Reden mögen brillant sein, wie sie wollen. Aber sie schaffen weder Glauben noch Glaubensgemeinschaft. Der Vorsitzende des Rates stellt, indem er das Amt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung gemäß Artikel XIV des Augsburger Bekenntnisses auch selbst ausübt, in seiner Person die Grundkoordinaten einer reformatorischen Lehre von der Kirche dar.

    Im heutigen Verständnis der Predigt kreuzen sich zwei unterschiedliche Traditionslinien. Zum einen schafft sie als Verkündigung des Evangeliums Glauben und Glaubensgemeinschaft. Zum anderen ist sie Zeitansage und Lebensorientierung. Das eine darf das andere nicht ersetzen. Wolfgang Hubers Predigten erfüllen diese Erwartung. Sie sind aktuell, ohne dafür die Verkündigung des Evangeliums unter den Tisch fallen zu lassen, und sie kommen der Aufgabe nach, das Evangelium zu verbreiten, ohne die Erwartung eines Wortes in die aktuelle Situation hinein zu enttäuschen.

    Der Titel des Bandes ist dem Buch des Propheten Micha (6,8) entnommen. Wolfgang Huber hat diesen Vers in seiner Predigt über Apostelgeschichte 6,1 – 7 als Zusammenfassung dessen benutzt, was Gott von uns erwartet: „nämlich nach einem prophetischen Wort: Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott (S. 161). So lautet die Stelle in Luthers großartiger Bibelübersetzung. Gerade in diesem Fall freilich lohnt es sich, zugleich im Sinn zu haben, wie heutige Bibelwissenschaftler die Stelle übersetzen: „Recht üben, Freundlichkeit lieben und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott.

    Dass dieser Band zustande gekommen ist, haben wir – neben dem Autor, der alle Texte noch einmal durchgesehen hat – insbesondere drei Personen zu verdanken: Dr. Elke Rutzenhöfer von der Programmleitung der edition chrismon, die an das Projekt „geglaubt" und es so durch alle Schwierigkeiten hindurch ins Ziel gebracht hat, Arnd Brummer, dem Chefredakteur von chrismon, der ausdauernd dafür geworben hat, den Schatz zu heben, der uns mit den Reden und Predigten von Wolfgang Huber anvertraut ist, schließlich Oberkonsistorialrat Dr. Christoph Vogel, der als Persönlicher Referent Wolfgang Hubers in der Zeit als Vorsitzender des Rates die nötige Detailkenntnis besaß, um die Texte zeitlich einzuordnen und eine überzeugende Auswahl vorzunehmen.

    Mit Wolfgang Huber verbindet mich eine zwölfjährige, immer intensiver gewordene Zusammenarbeit, Weggenossenschaft und Freundschaft. Darum habe ich mich über den Wunsch sehr gefreut, ein Vorwort beizusteuern, und tue das gern.

    Dieses Vorwort ist schließlich eine willkommene Gelegenheit, Wolfgang Huber noch einmal für alles zu danken, was er in der EKD und für sie auf den Weg gebracht hat, dem vorliegenden Band eine interessierte und dankbare Leserschaft zu wünschen und empfehlend auf den Band mit Reden (unter dem Titel: „Das Netz ist zerrissen und wir sind frei") hinzuweisen.

    HANNOVER, IM FEBRUAR 2010

    DR. HERMANN BARTH, PRÄSIDENT DES KIRCHENAMTES

    DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN DEUTSCHLAND

    P R E D I G T E N

    Wahrhaftiges Herz,

    vollkommener Glaube

    HEBRÄER 10,19 – 25

    Da hält mir jemand die Tür auf, so voll bepackt wie ich bin mit Reisegepäck, Mantel und Blumen im Arm. Eine freundliche und aufmerksame Geste.

    Während der Berlinale öffnet ein junger Mann jeweils die Tür der anrollenden Luxuslimousinen, damit die Stars ohne Mühe auf den roten Teppich hinaus in das Blitzlichtgewitter gleiten können. Eine sehr begehrte Dienstleistung, wenn auch nur für ein paar Tage.

    Da hilft eine Hebamme der erschöpften jungen Frau im Morgengrauen bei der Geburt ihres Kindes. All ihr Können und ihre Erfahrung setzt sie dabei ein und vermeidet so dramatische Komplikationen. Dann ist das Baby da, die Nabelschnur wird durchtrennt und der erlösende Schrei erklingt. Der Weg ist frei für den neuen Anfang.

    Da begegnet einem fünfzigjährigen, in all den Jahren zynisch gewordenen Menschen Jesus Christus selbst und die Güte kehrt in sein Antlitz zurück. Alles erhält einen Sinn und fügt sich auf unerwartete Weise zusammen.

    Von Jesus Christus sagt der Hebräerbrief, dass er den Vorhang bei Seite schiebt, das größte denkbare Geheimnis lüftet und uns den direkten Zugang zu Gott eröffnet. Hören wir auf den Hebräerbrief:

    WEIL WIR DENN NUN, LIEBE BRÜDER, DURCH DAS BLUT JESU DIE FREIHEIT HABEN ZUM EINGANG IN DAS HEILIGTUM, DEN ER UNS AUFGETAN HAT ALS NEUEN UND LEBENDIGEN WEG DURCH DEN VORHANG, DAS IST: DURCH DAS OPFER SEINES LEIBES, UND HABEN EINEN HOHEN PRIESTER ÜBER DAS HAUS GOTTES, SO LASST UNS HINZUTRETEN MIT WAHRHAFTIGEM HERZEN IN VOLLKOMMENEM GLAUBEN, BESPRENGT IN UNSERN HERZEN UND LOS VON DEM BÖSEN GEWISSEN UND GEWASCHEN AM LEIB MIT REINEM WASSER. LASST UNS FESTHALTEN AN DEM BEKENNTNIS DER HOFFNUNG UND NICHT WANKEN; DENN ER IST TREU, DER SIE VERHEISSEN HAT; UND LASST UNS AUFEINANDER ACHTHABEN UND UNS ANREIZEN ZUR LIEBE UND ZU GUTEN WERKEN UND NICHT VERLASSEN UNSRE VERSAMMLUNGEN, WIE EINIGE ZU TUN PFLEGEN, SONDERN EINANDER ERMAHNEN, UND DAS UMSO MEHR, ALS IHR SEHT, DASS SICH DER TAG NAHT. 

    Der Vorhang, um den es geht, ist der berühmte und kostbare Stoff, der vor zweitausend Jahren im Jerusalemer Tempel hing. Dieser Vorhang soll schwer gewesen sein, ein wunderbar gewebtes Stück Stoff: Purpur, Weiß und Scharlachrot waren die Farben; eingewebt sah man zwei geflügelte Wächter, groß und majestätisch. Dieser Vorhang trennte einen besonderen Raum des Tempels vom Rest des heiligen Bezirks. Der Vorhang versperrte den Zugang zum Allerheiligsten, zur Wohnung Gottes. Nur einer durfte den Vorhang zur Seite schieben, und auch das nur einmal im Jahr. Erst nach ausgiebigen Ritualen der Reinigung durfte der Hohepriester diese Grenze überschreiten. NICHTS UNHEILIGES oder Schmutziges, nichts Unangenehmes oder Unreines sollte Gott beleidigen. Gottes Herrlichkeit war zu furchtbar, zu groß, zu verzehrend, als dass ein normaler Sterblicher sie aushalten würde.

    Die römische Besatzungsmacht nahm die Verehrung des unsichtbaren Gottes im Jerusalemer Tempel nicht ernst. Dafür kannte man in Rom wie im ganzen römischen Reich zu viele Tempel und zu viele Gottheiten. Bereits im Jahre 63 vor Christi Geburt schockierte der römische Feldherr Pompeius die Einwohner Jerusalems, indem er sich Zutritt ins Allerheiligste verschaffte. Er demonstrierte seine Macht, indem er den Tempel entweihte. Als das jüdische Volk mehr als ein Jahrhundert später in einem bewaffneten Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht aufbegehrte, ging der gesamte Tempel in Flammen auf. Bis auf die Grundmauern brannte er nieder. Seit diesen Ereignissen gibt es in Jerusalem weder einen abgesonderten Tempelbezirk noch einen Vorhang, der das Allerheiligste vom Profanen trennt. Aber eine Sehnsucht ist geblieben, die jeder spürt, der heute Jerusalem besucht.

    Das alles schwingt mit, wenn Jesus über den Jerusalemer Tempel sagt: SIEHST DU DIESE GROSSEN BAUTEN? NICHT EINSTEIN WIRD AUF DEM ANDERN BLEIBEN, DER NICHT ZERBROCHEN WERDE. Und unvergesslich ist es, wie nach dem Bericht des Matthäusevangeliums der Vorhang vor dem Allerheiligsten genau in dem Moment von oben bis unten in zwei Stücke zerreißt, in dem Jesus am Kreuz auf Golgatha stirbt.

    Der Vorhang hat sich nicht von selbst beiseite geschoben. Dazu brauchte es die Hingabe Jesu Christi. Dadurch verwandelt sich die Angst vor der Nähe Gottes Schritt für Schritt in Erleichterung und Freude. Es kommt ja kein gnadenloser Scharfrichter, sondern mein Fürsprecher. Ich muss mich nicht zu Tode schämen. Jesus hat sich für mich in den Tod gegeben. Mein Elend und Deine Scham und die Schuld der anderen hat er mitgenommen ans Kreuz. Dort hat er Gott und Welt zusammengebracht. Versöhnt hat er sie. Der Vorhang ist weg. Der Weg ist frei. Ich kann Gott finden in meinem Leben, bei Dir und auch dort, wo es eigentlich nicht passt. Um diesen freien Weg geht es im Advent; auf ihn bereiten wir uns vor; staunend stehen wir davor.

    Die Wochen des Advent laden uns nicht nur dazu ein, besinnlich zu werden, sondern zur Besinnung zu kommen. Gerade an den Adventssonntagen kann uns deutlich werden, dass unser Weg zu Gott unverstellt ist. Niemand verlangt von uns, dass wir vor unser Herz eine Kette hängen, die uns die Freiheit raubt, den Sonntag zur Begegnung mit Gott zu nutzen. Dass wir nicht auch noch die Sonntage dem Kommerz ausliefern, ist ein Zeichen dafür. Jeder kann dieses Zeichen setzen. Wie also wollen wir Gott begegnen? Der Hebräerbrief antwortet: SO LASST UNS HINZUTRETEN MIT WAHRHAFTIGEM HERZEN IN VOLLKOMMENEM GLAUBEN, BESPRENGT IN UNSERN HERZEN UND LOS VON DEM BÖSEN GEWISSEN UND GEWASCHEN AM LEIB MIT REINEM WASSER.

    Das sind starke Bilder: BESPRENGT IN UNSERN HERZEN, GEWASCHEN AM LEIB, WAHRHAFTIGES HERZ, VOLLKOMMENER GLAUBE. Anspruchsvoll klingt das, aber auch würdig. Gott naht sich, darum diese hohe Sprache. An die Taufe klingt sie an, daran ist kein Zweifel. In ihr verwirklicht sich die Zugehörigkeit zu Gott. Gottes Ja wird in ihr laut, bevor wir irgendein Ja sprechen können. Deshalb taufen wir auch in dieser Kirche, auch am heutigen Tag, und freuen uns, wenn Kinder und Erwachsene das Ja Gottes zu ihrem Leben hören und spüren.

    In diesen Adventswochen können wir uns prüfen, ob der Geist der Taufe neu in uns lebendig wird: Besprengt in unsern Herzen, gewaschen am Leib, wahrhaftiges Herz, vollkommener Glaube. Ein wahrhaftiges Herz bleibt nicht in sich verschlossen. Es ist für Gott und den Nächsten offen. Es erkennt die Not und die Liebe, die nötig ist. Deshalb ist es gut, dass wir pünktlich zur Adventszeit damit beginnen, mehr als sonst an andere zu denken.

    Der Advent Gottes ebnet sich Bahn. Er tut es in vielfältigen Formen. Mit diesem Ersten Advent beginnt zum 49. Mal die Aktion „Brot für die Welt", die weltweite Hilfsaktion der evangelischen Kirchen. In diesem Jahr treten vor allem die Kleinbauern in den Blick. Mit den Spenden dieses Jahres soll unter anderem in Mittelamerika ein Selbsthilfenetzwerk von Kleinbauern entstehen. Die Bauern stärken sich wechselseitig und lernen voneinander. Sie entwickeln Strategien, um nachhaltig und rentabel für die lokalen Märkte anzubauen. Es geht dabei nicht nur um wirtschaftliche Argumente. Es geht um Gerechtigkeit. Es geht um die Zukunft der Armen; deren Anwalt ist nach christlicher Überzeugung Gott selbst.

    Der Advent Gottes ebnet sich seine Bahn. Manchmal kommt er sogar in Uniform und bricht die Wohnungstür auf. Er befreit ein verwahrlostes Mädchen aus den Fängen ihrer eigenen Eltern und beendet die Zeit der Finsternis und der Angst. Der Advent Gottes zieht den Vorhang des Schweigens weg und rettet, was zu retten ist.

    Der Advent Gottes war vor einigen Tagen siebzehn Jahre alt und weiblich. Er ereignete sich im sächsischen Mittweida. Eine junge Frau half einem sechsjährigen Spätaussiedlermädchen, das von vier Männern herumgeschubst wurde, und beschützte es durch ihren Mut. Sie forderte die Männer auf, das Kind in Ruhe zu lassen. Daraufhin warfen die Täter die Siebzehnjährige zu Boden. Während drei Täter die Jugendliche festhielten, schnitt der vierte ihr mit einem skalpellähnlichen Gegenstand ein Hakenkreuz in die Hüfte. Zudem versuchte er, der jungen Frau eine Rune in die Wange zu schneiden. Dies habe er jedoch wegen der heftigen Gegenwehr der Siebzehnjährigen nicht geschafft, stellte die Polizei fest.

    Der Advent Gottes ist stark und anspruchsvoll. Da gibt es nichts zu verniedlichen. Der Weg ist gebahnt. Nicht wir, nicht ich habe ihn gebahnt. Er ist gebahnt worden. Wir brauchen nur noch hineinzugehen. Doch wehe denen, die sich Gott in den Weg stellen. Wehe den Gewalttätern! Wehe denen, die schweigend hinter den Gardinen zusehen, ohne die Polizei zu rufen! Wehe denen, die den Gewalttätern auch nur einen Zentimeter Boden kampflos überlassen.

    Es geht um das Festhalten am Glauben. So wie sich einer festhält, der abzustürzen droht. Festhalten können wir nur, wenn wir uns gegenseitig Halt geben und wenn wir uns gemeinsam an Gottes Wort orientieren.

    Wir feiern heute den Ersten Advent. Die Tür öffnet sich zu einem neuen Kirchenjahr, zu einem neuen Jahr des Heils. Wir kommen aus den dunklen Novembertagen. Aber nun beginnt etwas Neues. Wir gehen auf Weihnachten zu, auf das Erscheinen Gottes in einem Kind. Schritt für Schritt gehen wir zu dem geöffneten Vorhang. Und wenn wir in den Raum hinein schauen, sehen wir den großen Gott in diesem kleinen Kind. Das Göttliche macht Rast im Normalen, auch in Menschen, die kein Monumentalformat haben. Nicht groß und unnahbar, sondern zart und verletzlich. Klein und zart wie er ist, will er zu mir kommen und bei mir wohnen.

    Der Vorhang ist weggezogen; Tür und Tor stehen offen. Gott kündet sein Kommen an. Deshalb wird auch die Welt neu werden. Tretet ein, haltet fest und achtet aufeinander.

    Die Adventszeit ist eine Zeit der Achtsamkeit. Da werden sorgsam Adventskalender geöffnet und Geschenke ausgesucht. Die Tage sind voller Festvorbereitungen und Geheimnisse. Eine eigenartige Gespanntheit ergreift uns, Dich und mich. Die Adventszeit ist beispielhaft für das, was möglich ist im wandernden Gottesvolk.

    So wie von heute an können wir immer miteinander leben. Dann ist Advent nicht nur im Dezember. Auch in anderen Zeiten des Jahres können wir achtsam miteinander umgehen.

    Offenbar gehört es zur Hoffnung, dass man sie mit anderen teilt, dass man andere sieht und nicht ohne sie leben will. Viele Menschen sind auf dem Weg zu den Andern. Sie achten auf ihre Mitmenschen. Sie besuchen einander, sie basteln miteinander, sie beten füreinander. KOMM, O MEIN HEILAND JESU CHRIST, MEINS HERZENS TÜR DIR OFFEN IST. 

    1. Advent, 2. Dezember 2007, St. Marien zu Berlin

    Große Freude allem Volk

    LUKAS 2,1 – 14

    I. 

    „Kann die christliche Weihnachtsbotschaft auch Nichtgläubigen Mut machen?" Diese Frage wurde mir vor kurzem gestellt.

    Welche Vorstellung war wohl mit dieser Frage verbunden? Liegt ihr die Meinung zu Grunde, dass die frohe Botschaft der Engel nur bei Kirchengeübten auf Verständnis stößt? Die Fülle der Teilnehmer an diesem Gottesdienst und ebenso die zunehmende Zahl derer, die heute in Berlin und im ganzen Land das Evangelium der Weihnacht hören wollen, sprechen eine andere Sprache. Oder meinte die

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