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Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620
Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620
Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620
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Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620

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Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500 - 1620 Im Jahr 2013 waren in Mitteleuropa 12,7% der deutschsprachigen Bevölkerung Menschen mit sogenannter Behinderung, also mehr als jede zehnte Person. Dennoch wurden diese Menschen lange Zeit von der Geschichtsschreibung vergessen.

Menschen mit Behinderung haben aber sehr wohl eine lange Geschichte, die sich auf ihre Gegenwart und ebenso auf ihre Zukunft auswirkt. In seinem Buch Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung. Dis/abled in 500 - 1620 zeichnet Robert R. Keintzel die Geschichte der Menschen mit Behinderung in Mitteleuropa vom Jahr 500 bis zum Jahr 1620 nach.

Der Autor geht folgenden Fragen auf den Grund:
Was ist eigentlich Behinderung? Gab es Behinderung zwischen 500 - 1620, und wenn ja, wie sah diese Behinderung aus? Welche bekannten Herrscher waren behindert? Wie nahmen die Wissenschaft, das Rechtssystem, das Christentum und die Medizin das Phänomen der Behinderung wahr, und wie gingen sie mit Menschen mit sogenannter Behinderung um? Wie sah Medizin in dieser Zeit aus, und wie entwickelte sie sich? Wer wurde medizinisch behandelt, und wie gestaltete sich eine medizinische Behandlung früher im Vergleich zu heute? Wie sah die Gesellschaft von 500 - 1620 aus? Wurden alle Menschen in der historischen Gesellschaft gleichbehandelt und medizinisch versorgt?

Waren Menschen mit sogenannter Behinderung in dieser Zeit abled oder disabled? Welchen Einfluss hat die Geschichte der Menschen mit Behinderung auf unsere heutige Zeit? Viele Fragen, auf die der Autor in diesem Buch eine Antwort sucht.
LanguageDeutsch
Release dateNov 1, 2020
ISBN9783969870006
Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620

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    Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620 - Robert Ralf Keintzel

    Robert Ralf Keintzel

    EINE GESCHICHTE DER

    MENSCHEN MIT

    BEHINDERUNG

    DIS/ABLED IN 500 – 1620

    Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

    Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    1. Auflage 2020

    Alle Rechte vorbehalten

    © Herausgeber: Robert Ralf Keintzel

    Ichenhauserstr. 64, 89312 Günzburg

    Graphische Gestaltung: Vithusan Vijayaratnasingam

    Der Autor

    Grafik 12

    Robert Keintzel studierte Medizin an der Universität Ulm. Neben dem Studium absolvierte er das Certified Science Training an der Charité Berlin und erweiterte seine medizinischen Kenntnisse an der Sanitätsakademie in München.

    Schon während seines Studiums arbeitete der Autor im Universitätsklinikum Ulm und im Bundeswehrkrankenhaus Ulm.

    Während seiner praktischen Tätigkeit hatte Herr Keintzel Kontakt zu Menschen, die mit einer Behinderung leben. Diese prägenden Erfahrungen führten zu dem Entschluss, mit dem Studium der Sonderpädagogik und dem Fach Geschichte sein Wissen zu vertiefen.

    Zurzeit arbeitet Herr Keintzel als wissenschaftlicher Berater in einem medizingeschichtlichen Institut in München und beschäftigt sich hier mit Disability History sowie Medizingeschichte.

    Der Autor engagiert sich ehrenamtlich im Bereich Inklusion, unter anderem mit großem Erfolg als Trainer bei den Olympischen Winterspielen 2020 für Menschen mit geistiger Behinderung. Während dieser Zeit reifte in ihm die Idee, die Geschichte der Menschen mit Behinderung zu erforschen.

    Robert Keintzel wurde von der Bundesrepublik Deutschland, den Bundesländern Bayern und Sachsen-Anhalt ausgezeichnet. Darüber hinaus wurde dem Autor in Anerkennung der bemerkenswerten Beiträge für die deutsche Gesellschaft vom Bundespräsidenten a.D. Christian Wulf im Jahr 2019 eine Auszeichnung verliehen.

    Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung

    Dis/abled in 500 - 1620

    Im Jahr 2013 waren in Mitteleuropa 12,7% der deutschsprachigen Bevölkerung Menschen mit sogenannter Behinderung, also mehr als jede zehnte Person. Dennoch wurden diese Menschen lange Zeit von der Geschichtsschreibung vergessen. Menschen mit Behinderung haben aber sehr wohl eine lange Geschichte, die sich auf ihre Gegenwart und ebenso auf ihre Zukunft auswirkt. In seinem Buch Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung. Dis/abled in 500 - 1620 zeichnet Robert R. Keintzel die Geschichte der Menschen mit Behinderung in Mitteleuropa vom Jahr 500 bis zum Jahr 1620 nach.

    Der Autor geht folgenden Fragen auf den Grund: Was ist eigentlich Behinderung? Gab es Behinderung zwischen 500 - 1620, und wenn ja, wie sah diese Behinderung aus? Welche bekannten Herrscher waren behindert? Wie nahmen die Wissenschaft, das Rechtssystem, das Christentum und die Medizin das Phänomen der Behinderung wahr, und wie gingen sie mit Menschen mit sogenannter Behinderung um?

    Wie sah Medizin in dieser Zeit aus, und wie entwickelte sie sich? Wer wurde medizinisch behandelt, und wie gestaltete sich eine medizinische Behandlung früher im Vergleich zu heute? Wie sah die Gesellschaft von 500 - 1620 aus? Wurden alle Menschen in der historischen Gesellschaft gleichbehandelt und medizinisch versorgt?

    Waren Menschen mit sogenannter Behinderung in dieser Zeit abled oder disabled? Welchen Einfluss hat die Geschichte der Menschen mit Behinderung auf unsere heutige Zeit?

    Viele Fragen, auf die der Autor in diesem Buch eine Antwort sucht.

    Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Herausgebers Robert R. Keintzel unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verbreitung in elektronischen Systemen.

    Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstige Kennzeichen in diesem Buch berechtigen nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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    Inhaltsverzeichnis

    Titelseite

    Der Autor

    Das Buch

    Einleitung

    2. Verständnis von Behinderung

    3. Mitteleuropäische Herrschaftsstrukturen / (Dis)abled rulers

    4. Gesellschaftliche Machtstrukturen

    4.1 Der arbeitende Stand

    4.2 Der Adel

    4.3 Der Klerus

    5. Wissenschaft im Mittelalter und Renaissance

    6. Übergang der antiken in die mittelalterliche Medizin

    7. Byzantinische Medizin

    8. Phasen der Medizin des Mittelalters und der Renaissance

    8.1 Monastische Medizin

    8.2 Weltliche Medizin

    8.3 Die Medizin der Renaissance

    9. Wissen über die Anatomie und Physiologie

    9.1 Verdauungsphysiologie

    9.2 Herz-Kreislauf-System

    9.3 Zeugungsphysiologie

    10. Exemplarischer Vergleich der Medizin des Mittelalters und der Renaissance

    10.1 Behandlung von Depression mittels des Johanniskrautes

    10.2 Diagnostik

    11. Multidimensionale Wahrnehmung von Behinderung

    11.1 Behinderung in der Medizin

    Kennzahlen und Rahmenbedingungen

    Monastische Medizin

    Weltliche Medizin

    Medizin in der Renaissance

    11.2 Behinderung im christentum

    11.3 Wahrnehmung im Rechtssystem

    12. Behinderung im Wandel

    13. Fazit

    14. Abbildungsverzeichnis

    15. Quellen- und Literaturverzeichnis

    EINLEITUNG

    Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620. Ein Titel, welcher hohe Erwartungen weckt, die erfüllt werden wollen. Die Intentionen, weshalb man zu diesem Buch greift, können sehr vielfältig sein. Ein Leser möchte vielleicht die eine einfache Wahrheit erfahren, der andere eine wissenschaftliche Erfassung der Geschichte der Menschen mit Beeinträchtigung und ein anderer einfach eine Mischung aus Unterhaltung und Wissenszuwachs. Dieses Buch versucht, mehrere Zielgruppen anzusprechen; Personen, die nach wissenschaftlichem Input suchen, um später im wissenschaftlichen Diskurs die Thematik weiterzutragen, zu unterhalten sowie mit lebensnahen Geschichten zu sensibilisieren und ein Geschichtsbewusstsein zu schaffen respektive zu schärfen.

    Geschichte erzählt uns, wie etwas war und wie etwas zu dem wurde, wie es heute ist. Die Geschichte ist nicht Vergangenheit, sie ist relevant für unser Leben. Wir können daraus lernen und gegenwärtige Zusammenhänge besser verstehen.

    Eine Geschichte für Menschen mit Behinderung ist daher zwingend notwendig, diese darf aber nicht einseitig erzählt werden, da Behinderung nicht homogen, sondern vielfältig ist. Sie kann sich auf unterschiedlichster Weise ausdrücken, betrifft verschiedene Personengruppen in spezifischer Weise und ist dem zeitlichen Wandel unterworfen. Im Zentrum der Fragestellung steht daher die Frage, was Normalität in verschiedenen Kontexten und zu welcher Zeit ist.

    Dabei sind besonders das Mittelalter und die Renaissance zu betrachten. Dieses sogenannte Dunkle Mittelalter, das in der dunklen Mitte zwischen Antike und Renaissance steht und die Renaissance als Wiedergeburt des antiken Wissens. Inwieweit das antike Wissen beziehungsweise die Hinterfragung des antiken Wissens eine Rolle für die Festlegung der Norm gespielt hat und wie Menschen ausgegrenzt wurden, bleibt zu hinterfragen.

    Dieses Buch möchte einen Beitrag leisten für die Fragestellung nach der Geschichte von Menschen mit Behinderung, es greift neben Aspekten der Disability History auch Aspekte aus der Medizingeschichte auf. Behinderung ist so viel mehr als beispielsweise ein fehlender Arm. Es spielen hier vielfältige Faktoren mit hinein, die in diesem Buche aufgezeigt und untersucht werden. Die Gesellschaft von 500-1620 war eine ganz eigene mit spezifischem Sinn und System, was erfasst werden muss, um Behinderung zu verstehen. Hierbei tut sich ein System von wechselseitigen Beziehungen auf, die im Verhältnis miteinander stehen und diese Zeit prägen. So lassen sich unter anderem das Geschlecht, der Stand, die geographischen Faktoren wie auch das Alter anführen.

    Dieses Buch versucht dabei, nicht getrennt in einzelnen Formen von Beeinträchtigung zu arbeiten, sondern vielmehr chronologisch einen Überblick sowie auch relevantes Detailwissen zu liefern. Dies erscheint zunächst als eine Sache der Unmöglichkeit, da eine Vielzahl von Quellen und Literatur vorherrscht, die gesichtet, eingeschätzt und bearbeitet werden will.

    Diese Form der Geschichte hat den Vorteil, einen chronologischen Prozess besser zu erfassen, dennoch kann an dieser Form berechtigter Weise auch Kritik geübt werden. Der Autor hat sich dennoch für dieses Format entschieden, da so eine Geschichte entsteht, welche interessiert gelesen werden kann, nicht nur von ausgebildeten Wissenschaftlern, sondern auch von Personen, die sich für die Thematik interessieren.

    Behinderung ist ein gesellschaftlich relevantes Thema und benötigt daher ein Publikum in der Mitte der Gesellschaft, eine Geschichte, die nicht nur Fakten liefert, sondern vielmehr eine Geschichte, die ein Geschichtsbewusstsein vermittelt. Mit einem Geschichtsbewusstsein können historische Prozesse erst erfasst sowie verstanden werden und eine Innovationsfähigkeit kann daraus entstehen.

    Diese Innovationsfähigkeit führt im, vom Autor erwünschten Fall, in ein besseres Verständnis als auch die Praxis der Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung.

    2. VERSTÄNDNIS VON BEHINDERUNG

    Unser Verständnis von Behinderung ist über die Zeit gewachsen, es ist dabei keine isolierte Geschichte der Medizin, des Rechts, der Philosophie oder der Religion, vielmehr zeigt die Begrifflichkeit der Behinderung unsere Gesellschaft, wie sie miteinander umgeht, sich voneinander abgrenzt und wie unsere Gesellschaft Normalität definiert. Es ist daher falsch, Behinderung nur aus einer Perspektive zu betrachten. Behinderung als Begriff mit einer technischen Definition, welche eine Wesenseigenschaft und Minderwertigkeit beschreibt, trifft nicht die sozialen Prozesse dahinter. Etikettierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung gehen mit der Abweichung von der Norm einher.

    Howard S. Becker formulierte im Jahr 1973 den Prozess der Etikettierung wie folgt:

    „Ich meine, dass gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, dass sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und dass sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln.

    Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der

    Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem

    ,Missetäter‘. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den

    diese Bezeichnung erfolgreich angewendet worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen."¹

    Danach beschreibt Waldschmidt im Hinblick auf die Disability History, dass „Behinderung keine ontologische Tatsache ist, sondern eine soziale Konstruktion […]. Ihr geht es darum zu zeigen, dass nicht beeinträchtigungsspezifische Aspekte für unser Verständnis von Behinderung entscheidend sind, sondern die gesellschaftlichen Deutungs-, Thematisierungs- und Regulierungsweisen."²

    Dagegen wird das „soziale Modell" von verschiedenen Seiten, auch wenn nicht im Zusammenhang mit der Disability History, zunehmend kritisiert. So aus einer interaktionistischen beziehungsweise kritisch-realistischen Perspektive, der phänomenologischen Perspektive sowie beispielsweise aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive.³ Zusätzlich ist auch die Theorie der „Normalitätsdispositiven" von Waldschmidt anzuführen.⁴

    Die Gesellschaft, oder auch eine Minderheit beispielsweise aus Experten, erstellt Regeln, welche das Unnormale technisch definieren, diese technischen Definitionen wiederum wirken auf die Gesellschaft zurück, sodass bei einer historischen Geschichte über Behinderung beide Sichtweisen angemessen erzählt werden müssen. Eine wissenschaftliche Betrachtung rückt darüber hinaus nur an die Realität heran, kann diese aber niemals vollständig erfassen, da Geschichte nach Rüsen keine Meistererzählung ist. Das Fach Geschichte ist ein Spiegelbild unserer heterogenen Gesellschaft und besitzt eine Vielfalt an Perspektiven sowie daraus resultierenden Erzählungen.

    „Man sieht nur, was man weiß."

    Die Beschränkung auf eine „medizinische oder eine „soziale Sichtweise erscheint daher nicht angemessen, da beides reziprok miteinander wirkt.

    Behinderung ist einerseits eine spezifische Unfähigkeit, welche aufgrund von sozialen Prozessen zugeschrieben sowie erzeugt wird und anderseits auch eine Beeinträchtigung, welche aus medizinischer Sicht besteht und einer Rehabilitation legitimiert beziehungsweise aus dieser Sicht bedarf.

    Zusätzlich ist zu sehen, dass Behinderung kein universelles, sondern ein zeitlich gebundenes Phänomen ist.⁷ Was richtig oder falsch, schön oder hässlich respektive normal oder unnormal ist, ist nicht pauschal zu beantworten. Dagegen muss Normalität im zeitlichen Verlauf immer wieder neu definiert und hinterfragt werden. Aus diesem Wandel entsteht eine neue gesellschaftliche Wechselwirkung, welche in verschiedenen Bereichen erfasst werden will. Durch den Wandel der gesellschaftlichen Wechselwirkungen verändern sich auch die Etikettierung, Stigmatisierung und die Aussonderung beziehungsweise der Umgang mit Menschen, welche nicht als Normal angesehen werden, sodass die Mehrheitsgesellschaft der „Normalen" mit in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung rückt.⁸

    3. MITTELEUROPÄISCHE HERRSCHAFTSSTRUKTUREN / (DIS)ABLED RULERS

    Die Zeit des Mittelalters ist eine Zeit von wechselnden Herrschaftsverhältnissen sowie -strukturen, der Autor möchte dabei die wichtigsten mitteleuropäischen Herrschaftsverhältnisse und -strukturen im Zeitalter des Mittelalters sowie der Renaissance aufzeigen.

    Das Römische Reich teilte sich im Jahr 395 n. Chr. in ein westliches und östliches Reich. Später, im Jahr 410 n. Chr., wurde Rom, die Hauptstadt des Weströmischen Reichs, durch die Westgoten erobert und letztendlich fand im Jahr 476 n. Chr. die Absetzung des letzten Weströmischen Kaisers durch den Ostgotischen König Theoderichs des Großen statt.⁹ In der Zeit der Königsherrschaft von Theoderichs des Großen vom Jahr 476-526 waren germanische Stammesgruppen sowie das Fränkische Reich in Mitteleuropa vorherrschend, zu dieser Zeit war Burgund mit Theoderichs des Großen verbündet.

    Im Jahre 498 fand ein ereignisreicher Tag am Ort der heutigen Kathedrale Notre Dame statt. Der fränkische König Chlodwig ließ sich taufen und nahm damit gemeinsam mit seinen Untertanen den römisch-katholischen Glauben an. Chlodwig war der erste Germanenherrscher, welcher den römisch-katholischen Glauben annahm, dieses Ereignis war die Voraussetzung für die Verschmelzung von römischer sowie germanischer Kultur und auch Bevölkerung. Mit der Taufe Chlodwigs sicherte er den Aufstieg des Frankenreiches, versöhnte Germanentum und römische Tradition und legitimierte eine spätere expansive Machtpolitik Karls des Großen.¹⁰ Die Wahl des Königs war bei den Römern der Spätantike wie auch bei den Germanen die traditionelle Form der Einsetzung eines Königs. Erst die Geblütsheiligkeit begründete eine Vererbbarkeit des Königtums, was im Frankenreich den Merowingern gelang.¹¹ Die Geblütsheiligkeit besagt, wie der Name schon sagt, die hohe Qualität des Geblüts einer Person und einer Familie, da in der damaligen Gesellschaft verbreitet war, dass Charaktereigenschaften sich vererben.

    Picture 7

    Abbildung 1:

    Die Ausdehnung des fränkischen Reiches in den Jahren 481-814

    Später, im Jahr 531, eroberte das fränkische Reich sowohl Thüringen als auch im Jahr 532 Burgund. Das Herrschaftsgeschlecht der Merowinger, welches Chlodwig angehörte, dehnte ihr Herrschaftsgebiet immer weiter aus, sodass das Frankenreich bald eine Vormachtstellung in Mitteleuropa innehatte.¹² Nach König Chlodwig wurde das fränkische Reich unter seinen Söhnen und Nachfolgern aufgeteilt. Erst ab dem Jahr 558 unter König Chlothar I. fanden die drei Reichsteile (Neustrien, Austrien und Burgund) wieder zusammen. Die Herrscher setzten bei der Verwaltung der Reichsteile sogenannte Hausmaier ein. In der Funktion von Hausmaiern gewann das Geschlecht der Pippiniden an Bedeutung. Karl Martell (686–741) konnte sich schließlich als Hausmaier im gesamten fränkischen Reich durchsetzen.¹³ Mit Karl Martell gründete sich der Hausname eines Herrschergeschlechts, das lange herrschen sollte: die Karolinger.

    Im Jahr 751 setzte die Adelsfamilie der Karolinger in Person von Pippin III die fränkische Herrschaftsfamilie der Merowinger ab. Pippin III übernahm 751 den fränkischen Königsthron auch mit Hilfe des Papstes,¹⁴ welcher im Jahr 756 mit der sogenannten Pippinischen Schenkung für seine Unterstützung belohnt wurde. Hierbei handelte es sich um Territorien in Mittelitalien, worauf sich der Kirchenstaat gründete.¹⁵

    Pippins Sohn Karl der Große dehnte das fränkische Königreich immer weiter aus und erlangte im Jahr 800 durch den Papst gekrönt die Kaiserwürde.¹⁶ Mit der Kaiserwürde trat der Kaiser des Römischen Reiches nun aber, wenn vielleicht auch ungewollt, in Konkurrenz mit dem byzantinischen Reich und seinem Kaiser, was zu 400 Jahre währenden angespannten Verhältnis führte.

    Karl der Große zeugte nachweislich 18 Kinder, wobei die tatsächliche Zahl darüber liegt, sodass mancher Deutsche oder Österreicher die Gene Karls des Großen in sich trägt.¹⁷ Sein ältester Sohn war Pippin der Bucklige, dessen Beiname auf einen sogenannten körperlichen Defekt (gibbo deformis) anspielte. Seine Beeinträchtigung führte dabei zum Ausschluss in der Thronfolge.¹⁸

    Er ging aus der Ehe zwischen Karl dem Großen und Himiltrud hervor, diese Ehe wurde später als nicht vollwertig bezeichnet, sodass Pippin der Bucklige aus der Reihe der „vollwertigen Nachfolger" von Karl dem Großen verdrängt wurde. Pippin der Bucklige rebellierte im Jahre 792, wurde besiegt und später in ein Kloster verbannt.¹⁹

    Mit Karl dem Großen verlagerte sich der Mittelpunkt der Macht vom Mittelmeerraum in den Raum nördlich der Alpen. Dennoch zeigte sich das Frankenreich gegenüber der islamischen Herrschaft auf der iberischen Halbinsel als auch Byzanz im Hinblick auf die Bildung sowie Wissenschaft als unterlegen. Diesen Mangel versuchte Karl der Große durch die sogenannte karolingische Renaissance auszugleichen, hierbei bemühte er sich um die antiken römischen Traditionen sowie um die Zentralisierung und die Angleichung andererseits. So geht etwa die Vereinheitlichung der Verwaltung, der Liturgie als auch der Schrift (karolingische Minuskel) auf Karl den Großen zurück.²⁰ Ziel der Karolinger bereits vor Karl dem Großen war es, eine zentralistische sowie einheitliche Herrschaftsstruktur auszubilden. Dabei sollte eine fränkische Grafschaftsverfassung an die Stelle der germanischen Stammesherzogtümer rücken. Dies konnte aber im westlichen Teil des Frankenreiches besser umgesetzt werden als im östlichen Teil. Im fränkischen Herrschaftsgebiet rechts des Rheins konnten sich die älteren Stammesherzogtümer verstärkt halten, um sich auch unter den Nachfahren Karls des Großen ab Anfang des 10. Jahrhunderts wieder zu entfalten.²¹ Die Tatsache, der Differenz in der Durchsetzung des Zentralstaats unter Karl dem Großen, hatte weitreichende Folgen. Darin kann auch der Grund gesehen werden, warum sich später Frankreich zu einem zentralistischen Staat und Deutschland zu einem Staat mit vielen verschiedenen einzelnen Kräften im Bund entwickelte.

    Dieses riesige Reich von Karl dem Großen begann bereits nach ihm zu zerfallen und wurde schließlich unter seinen Enkeln im Jahre 843 in einen romanischen Westen, einen germanischen Osten als auch ein „Mittelreich" aufgeteilt. Im Vertrag von Verdun wurde die Reichsteilung beschlossen, unter Lothar I., Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen. Ludwig der Deutsche bekam das Gebiet östlich des Rheins und der Aare, Karl dem Kahlen wurden die Länder westlich von Schelde, Maas, Rhône sowie Saône zugesprochen und Lothar I. erhielt das heute nach ihm benannte Gebiet Lothringen, Italien wie auch die Provence. Die Herrschaftsgebiete verschoben sich später auch mit den Verträgen in den Jahren 870 sowie 880.²²

    Einer der Gründe war der Tod Lothar II. Im Jahre 855 übernahm Lothar II. die Herrschaft über Lothringen. Er hatte zunächst eine Friedelehe mit Waltrada. Diese Form der Ehe ging auf die germanisch-rechtlichen Vorstellungen zurück und war von der katholischen Kirche nicht gern gesehen. Die Bezeichnung leitet sich vom germanischen friudiea ab, was sich mit ‚Geliebte‘ übersetzen lässt. In dieser Form der Ehe steht die Frau nicht unter der Vormundschaft des Mannes. Im Laufe der Zeit verlor die Friedelehe an Bedeutung und wurde durch die Muntehe ersetzt. Bei der Muntehe ist der Mann Vormund der Frau. Lothar II. hatte vier Kinder in der Friedelehe mit Waltrada. Dies war aber problematisch, da es den Kindern an Legitimität fehlte und die Herrschaftsfolge gefährdet war. Daher ließ Lothar II. sich scheiden und heiratete neu in einer Muntehe mit Teutberga. Diese Ehe blieb bis zu seinem Tod kinderlos. Zuletzt versuchte Lothar II. seine Kinder als legitime Erben von der katholischen Kirche anerkennen zu lassen. Der Anerkennungsprozess konnte aber nicht abgeschlossen werden. Davor starb Lothar II. im Jahre 569. Kinderlosigkeit oder das nicht Vorhandensein nicht legitimer Erben zeigt sich als mögliches gravierendes Problem am Beispiel Lothar II.²³

    Im Laufe der Zeit versuchten sowohl das Ostfränkische Reich als auch das Westfränkische Reich, sich voneinander abzugrenzen, nicht nur die Grenzen von Territorien, sondern auch die von Sprachen wurden gezogen. So entwickelte sich im Westfränkischen Reich die spätere französische Sprache und im Ostfränkischen Reich die spätere deutsche Sprache.²⁴ Für das Ostfränkische Reich gab es aber auch noch ganz andere Nachbarn, so musste man sich gegen Slawen im Osten und plündernde heidnische Völker im Norden wehren.²⁵

    Picture 9

    Abbildung 2:

    Die Reichsteilung des Fränkischen Reichen im Jahr 843:

    Das Westfränkisches Reich mit Karl den Kahlen, das Ostfränkische Reich mit Ludwig den Deutschen und das „Mittelreich" bzw. Lotharingen mit Lothar I.

    Mit dem Aussterben der Karolinger übernahm zunächst von 911-918 Konrad I ein Kompromisskandidat, später im Jahre 919 erlangte Heinrich I aus dem Geschlecht der Ottonen die Königswürde im Ostfränkischen Reich oder „das Reich der Deutschen", wie es bereits genannt wurde, dehnte das Reich nach Osten aus, besiegte die Ungarn und konnte damit das Ostfränkische Reich etablieren.²⁶ Erst seinem Sohn Otto I war es aber im Jahr 962 möglich, die Kaiserwürde zu erlangen und so das Römische Reich zu gründen. Der Name leitete sich vom Anspruch ab, die Traditionen des Römischen Reiches fortzusetzen sowie das Kaisertum mit Gottes Willen zu legitimieren.²⁷ Otto I benütze darüber hinaus das Reichskirchensystem als Stütze der Königspolitik für die nächsten 120 Jahre, auch vollendete er den Prozess einer Schaffung von Reichsidentität ab dem Vertrag von Verdun. Er ließ sich von allen Stämmen als König wählen und vergab die wichtigsten Positionen und die Herzöge als Ämter.²⁸ Otto I oder auch Otto der Große war ein wahrhaft bedeutender Herrscher, welcher im Jahr 955 einen wichtigen Sieg gegen die Ungarn errang. Was aber häufig nicht bekannt ist, ist, dass er im Jahr 957 schwer erkrankte, so stellte er jedes Jahr durchschnittlich zehn Diplome aus, dies war das vornehmste Geschäft des mittelalterlichen Herrschers. Ab dem 12. Dezember 956 bis zum Januar 958 begann aber eine Pause von gut 13 Monaten, wobei kein Diplom ausgestellt wurde. Seine Krankheit wurde verschwiegen und nur bei

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