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Geheime Gerechtigkeit: Der Fall Zuma
Geheime Gerechtigkeit: Der Fall Zuma
Geheime Gerechtigkeit: Der Fall Zuma
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Geheime Gerechtigkeit: Der Fall Zuma

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About this ebook

Was möchten wir in unserem Leben erreichen, wenn Geld keine Rolle spielt? Diese Frage plagte schon die Freibeuterin Anne Bonny, als sie am Ende ihres abenteuerlichen Lebens ein riesiges Vermögen hinterließ. Damit beginnt die Geschichte einer Familie, die sich ungeachtet sämtlicher Konventionen und Grenzen dafür einsetzt, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Über ihre Stiftung sorgen sie immer dann für Gerechtigkeit, wenn es sonst keine andere Hilfe gibt.
Der aktuelle Fall führt sie in die Lebensmittelindustrie. Die Stiftung nimmt die Verfolgung in einem Nahrungsmittelskandal auf und hinterfragt dabei die Grundsätze unserer Gesellschaft. Was ist Gerechtigkeit? Was wissen die mächtigen Unternehmen der Branche, was wir nicht wissen?
Leona und Konstantin, zwei Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein könnten, reisen quer durch Europa, um den Lebensmittelskandal aufzudecken und riskieren währenddessen immer wieder ihr eigenes Leben. Dabei kommen sie sich gefährlich nahe.
LanguageDeutsch
Release dateNov 13, 2020
ISBN9783752696806
Geheime Gerechtigkeit: Der Fall Zuma
Author

Karo Muschke

"Der Fall Zuma" ist der Debutroman von Karo Muschke. Sie ist 1985 in Hamburg geboren und schreibt am liebsten über ihre norddeutsche Heimat. Während sich die Autorin beruflich mit Handelsthemen beschäftigt, teilt sie privat die Sorge der jungen Generation nach dem Ursprung und dem Inhalt der industriell produzierten Lebensmittel. Ungerechtigkeiten jeder Art sind ihr schon immer zuwider gewesen und sie hofft, durch ihre Bücher Missstände in unserer Welt unter dem diplomatischen Deckmantel der Kunst hinterfragen zu können.

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    Book preview

    Geheime Gerechtigkeit - Karo Muschke

    führen?

    1

    Als Dr. Konrad Biegelmeyer vor gut drei Monaten die Geschäftsführung der ZUMA Foods AG übernommen hat, ist ihm klar gewesen, dass eine große Aufgabe auf ihn zukommen würde. Nie hat er daran gezweifelt, dass er diese meisterhaft bewältigen würde, denn er ist genau der richtige Mann für diesen Job.

    Auch heute ist er sehr zufrieden mit sich selbst. Er sitzt in seinem modernen Büro in der Hamburger HafenCity, viel Glas, viel Metall, klare Formen und ein atemberaubender Ausblick auf den Hafen. Es ist April und noch unerfreulich nasskalt draußen. Er legt seine Füße auf dem 23.000 Euro Designerschreibtisch ab und lehnt sich entspannt in seinem Stuhl zurück. Auf dem Tisch steht ein Aschenbecher, in dem eine seiner geliebten kubanischen Zigarren ruht. Ab und zu nimmt er einen Zug, pafft an der Zigarre und bläst genüsslich den Rauch aus. Eigentlich herrscht im ganzen Gebäude striktes Rauchverbot. Eigentlich. Aber für ihn gelten andere Regeln, oder anders gesagt, die Regeln interessieren ihn einfach nicht. Immerhin ist er hier der Chef und niemand würde es wagen, ihn auf diese Kleinigkeit hinzuweisen.

    Außerdem hat er gerade ganz andere Sorgen und über diese kann er am besten bei einer entspannenden, kubanischen Zigarre nachdenken. Sein Unternehmen ist der zweitgrößte Lebensmittelkonzern der Welt, mit der Ambition, bald zum größten aufzusteigen. Man könnte also zu Recht sagen, dass er die Bevölkerung ernährt. Mit einem gewissen Stolz betrachtet er die Bewegungen der Containerschiffe im Hafen, die wie kleine Ameisen Lebensmittel verteilen. Er sieht sich selbst wie der Herrscher über Millionen von Arbeiterbienen, deren Wege er lenken und bestimmen kann.

    Doch sein Imperium ist etwas in Schieflage geraten und er muss dringend den Steuerkurs ändern. Natürlich sind Probleme in seiner Position nichts Außergewöhnliches. Gewissermaßen ist es seine Aufgabe, Probleme zu lösen und genau darin ist er besonders gut. Seine Spezialität besteht darin, sich geschickt in den Grauzonen zu bewegen, also immer wieder Lücken und Wege zu finden, wo eigentlich keine sind, dabei jedoch nie die Grenze der Illegalität zu überschreiten.

    Ein wenig Asche seiner kubanischen Zigarre fällt ab und landet auf dem Schreibtisch. Dr. Konrad Biegelmeyer pustet sie weg. Ordnung muss sein. Reinlichkeit ebenfalls.

    Aber zurück zu dem Thema, das ihm heute Kopfschmerzen bereitet: ein blöder Fehler seines Vorgängers. Dieser Dilettant hat sich mit den falschen Leuten eingelassen und dazu noch den Fehler begangen, zu viele Informationen preiszugeben. Informationen bedeuten Macht, das weiß keiner besser als Dr. Biegelmeyer. Wie auch immer, er schweift ab. Fakt ist, dass er nun die Suppe auslöffeln muss, die sein Vorgänger ihm eingebrockt hat. Letzterer ist vor zehn Monaten verstorben und langsam kann Dr. Biegelmeyer auch verstehen, weshalb es dazu gekommen ist. ZUMA Foods wird erpresst. Das ist an sich nichts Neues und auch die geforderte Summe des Schweigegeldes von monatlich einer Million Euro ist im Prinzip nicht der Rede wert, aber die Sache ist etwas komplizierter. In diesem Moment blinkt das kleine Briefsymbol an seinem Computer auf und macht auf eine neue E-Mail aufmerksam: Es ist der 1. April. Zeit zu zahlen! Eine Million Euro sind innerhalb von drei Tagen fällig. Nun hat Dr. Biegelmeyer ein riesiges Problem. Kalter Schweiß bildet sich auf seiner Stirn. Mit der Ruhe ist es jetzt vorbei, denn drastische Situationen erfordern nun mal drastische Maßnahmen.

    2

    Drei Tage später ist Dr. Biegelmeyer der Verzweiflung nahe. Da er mit den herkömmlichen Methoden nicht weitergekommen ist, muss er nun zahlen. Allein bei dem Gedanken daran, wie er die eine Million Euro Schweigegeld seinem Vorstand erklären soll, wird ihm ganz übel. Aber die Sachlage ist deutlich:

    Bereits seit Jahren hat ZUMA wissentlich Konsumenten überall auf der Welt gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt, indem sie künstliche Zusatzstoffe, also E´s, wie Aromen, Verdickungsmittel, Konservierungsstoffe und Farbstoffe in ihren Produkten verwendet haben, die zwar nicht verboten sind, aber deren Auswirkungen noch nicht hundertprozentig erforscht sind. Sie hätten sich damit rechtlich auf der sicheren Seite befunden, da alle Inhaltstoffe gemäß der einschlägigen Lebensmittelverordnungen der einzelnen Länder mehr oder weniger streng aufgeführt sind. In afrikanischen und asiatischen Ländern sind die erforderlichen Angaben weit weniger explizit als in Europa oder den USA und was noch entscheidender ist: In verschiedenen Kulturen wird den künstlichen Zusatzstoffen auch mehr oder weniger Bedeutung seitens der Verbraucher entgegengebracht. Natürlich hat ZUMA seine eigene Forschung betrieben und bald herausgefunden, wozu anderen bisher die Mittel oder die Forschungsinteressen gefehlt haben: Viele der von ZUMA verwendeten Zusatzstoffe führen zu erheblichen gesundheitlichen Schäden am tierischen oder menschlichen Organismus. Da mithilfe genau dieser Substanzen aber die Produktionskosten der Lebensmittel unschlagbar günstig sind, wollen sie ungern darauf verzichten. ZUMAs Strategie ist es seitdem, in allen verbraucherrechtlich unterrepräsentativen Ländern alle rechtlich legalen Zusatzstoffe weiter zu verwenden. In den weitaus kritischeren Ländern konzentrieren sie sich nur auf zugelassene Zusatzstoffe. So hat sich ZUMA innerhalb der EU beispielsweise auf die Zusatzstoffe konzentriert, die von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit zugelassen sind. Dies beinhaltete auch solche Inhaltsstoffe, die zwar zugelassen sind, deren Bewertung aber nicht eindeutig vorzunehmen ist oder zu denen es kaum verwertbare Forschungen gibt. Grauzonen eben. Sie haben damit bei ZUMA weltweit Milliardengewinne gemacht und sind sich darüber im Klaren, dass die möglichen Folgen für die menschliche Gesundheit noch nicht vollständig geklärt sind.

    Die Forschungsabteilung hat nach dieser Entdeckung damit begonnen, einen Plan B zu entwickeln, welcher intern das Projekt E-xit genannt wird. Doch bis eine wirtschaftliche Lösung gefunden ist, werden noch Jahre vergehen, in denen ZUMA die Forschung mit den gewonnenen Einnahmen weiter fortsetzen kann. Bis dahin heißt die Devise: bloß keine Pferde scheu machen.

    Das Brisante an der Geschichte ist, dass die internen Forschungsergebnisse von ZUMA allerdings sehr eindeutig sind: Sie wissen also sehr genau, dass die Menschen in einigen Regionen dieser Erde Lebensmittel kaufen, die in anderen Ländern von den dort zuständigen Behörden aufgrund ihrer gesundheitsschädigenden Auswirkungen in dieser Form verboten sind. ZUMA hat aber außerdem herausgefunden, was bislang niemand veröffentlicht hat, nämlich, dass einige in der EU zugelassene Inhaltsstoffe ebenfalls gesundheitsschädigend sind. Diese Information hat die ZUMA Geschäftsführung allerdings nicht an die zuständigen Behörden weitergeleitet, sondern sie verkaufen weiterhin solche Produkte an Millionen von Konsumenten. Milliarden um Milliarden.

    Dummerweise ist ihnen so ein kleiner Journalist auf die Schliche gekommen. Ach was, Journalist ist er noch nicht einmal gewesen. Heutzutage nennt sich jeder Möchtegern- Journalist ja „Blogger". Dr. Biegelmeyer kann sich gut vorstellen, mit welchen Methoden dieser IT-affine junge Mann an die internen Dokumente gekommen ist. Max Dietrichs ist nicht nur einer der aktivsten Mitarbeiter der Food-Watch Organisation gewesen, sondern auch ein anerkannter Blogger in der Lebensmittel-Szene, der als Hacker schon den ein oder anderen Skandal aufgedeckt hat. Dieser Journalist hat definitiv genug Einfluss besessen, um sich innerhalb kürzester Zeit mediale Aufmerksamkeit zu sichern.

    Max Dietrichs hat also ein umfassendes Dossier über ZUMA verfasst, einen Termin bei dem vorherigen Geschäftsführer bekommen und ihn damit konfrontiert. Blogger Dietrichs ist leider nicht käuflich gewesen, es ist ihm tatsächlich um die Sache gegangen. Er hat ZUMA aufgefordert, sofort die gesamte Produktion und den Vertrieb zu stoppen und noch in Verkehr befindliche Waren zurückzurufen. Sollte ZUMA nicht umgehend reagieren, das heißt innerhalb von 48 Stunden, würde er das Dossier veröffentlichen. Damit verbunden seien dann, wie Dietrichs richtig festgestellt hat, Imageverluste, Proteste der Endverbraucher, freier Fall des ZUMA Aktienkurses, Gerichtsprozesse, Geldstrafen, Verlust der aktuellen Marktposition zu Gunsten der Wettbewerber und so weiter und so fort. Diese Option wäre für ZUMA das absolute Worst-Case-Szenario. Andererseits hätten sie sich auch nicht von einem jungen Blogger einer NGO (Nichtregierungsorganisation) vorschreiben lassen können, wann, wie und welche Strategien sie verfolgen würden. ZUMA ist auf die Milliardengewinne für das E-xit Projekt dringend angewiesen, denn diese sichern schließlich die Zukunft des Unternehmens. Eine andere Lösung hat hergemusst und zwar schnell.

    Soweit Dr. Biegelmeyer das nachvollziehen kann, fragen kann er ja leider nicht mehr, hat sein Vorgänger sich noch am selben Tag mit einer kriminellen Organisation in Verbindung gesetzt, die in solchen Fällen eine schnelle und saubere Lösung anbietet. Der Auftrag hat gelautet, Max Dietrichs umgehend zu isolieren und unter Druck zu setzen. Er sei mit allen Mitteln dazu zu bewegen, sämtliche seiner Informationsträger zu nennen: Mitwisser, Kopien, Datenträger, Quellen und so weiter. Diese seien dann komplett zu beseitigen. Die Auftragstäter haben genau gewusst, was zu tun ist, und sind sehr professionell ans Werk gegangen. Noch am gleichen Abend haben sie Max Dietrichs auf dem Weg nach Hause mithilfe eines Lieferwagens, welcher in einer dunklen Seitenstraße auf ihn gewartet hat, entführt. Es ist alles so schnell gegangen, dass Max nicht einmal Zeit gehabt hat zu bemerken, was da passiert. Sie haben ihn in eine abgelegene Lagerhalle gebracht und nach allen Regeln der Kunst gefoltert.

    Max hat genau zwei Stunden durchgehalten, dann hat der Überlebensinstinkt gesiegt und er hat begonnen zu reden. Er hat über vier Stunden geredet, über das Projekt E-xit, über ZUMA, über seine Quellen und alle existierenden Kopien des Dossiers. Die Auftragstäter haben gut zugehört. Mit jedem Wort ist ihr Interesse gestiegen, sie haben angefangen nachzufragen und Max hat schon geglaubt, seine Peiniger von sich und seiner Sache überzeugen zu können. Er hat all seine Überzeugungskraft aufgebracht, die ihn immer so ausgezeichnet hat, und keine Details ausgelassen. Am nächsten Morgen sind die Entführer zum letzten Schritt ihres Auftrages übergegangen: der systematischen Zerstörung sämtlicher Beweise.

    Dr. Biegelmeyer schüttelt verächtlich den Kopf und nimmt noch einen Zug von seiner kubanischen Zigarre. Was sein Vorgänger leider nicht gewusst hat, ist, mit wem er sich da eingelassen hat. Natürlich legt man in der kriminellen Unterwelt keinen Lebenslauf vor, aber der ehemalige ZUMA Geschäftsführer hat es tatsächlich geschafft, mitten ins Wespennest zu stechen und die italienische Mafia mit dem Fall zu beauftragen. Dies hat zwei weitreichende Konsequenzen gehabt. Zum einen haben sie ihre Sache gründlich gemacht und nicht nur alle Beweise, sondern auch alle Mitwisser beseitigt. Die Leiche von Max Dietrichs ist zwei Wochen später bei Ebbe auf dem Grund der Elbe gefunden worden. Seine Füße haben in einem Zementklotz gesteckt.

    Damit hat Biegelmeyers Vorgänger wohl rechnen müssen. Womit er aber nicht gerechnet hat, ist, dass die Mafia-Organisation aus der gewonnenen Information nun wiederum selbst einen Business Case gestrickt hat und ZUMA erpresst. Zu den schlimmen Folgen, die schon durch Max Dietrichs´ Veröffentlichungen über ZUMA entstanden wären, sind nun noch Vertuschung und Auftragsmord hinzugekommen. Die Mafia fordert jetzt also eine Million Euro monatliches Schweigegeld, lebenslang. Der ehemalige Geschäftsführer hat damit auf keinen Fall zur Polizei gehen können. Ein einzelner Blogger ist noch relativ leicht ruhigzustellen gewesen, aber mit dem mächtigen Netz der italienischen Mafia kann und will sich niemand anlegen, es ist aussichtslos. Zwei Tage später hat sich der ZUMA Geschäftsführer einen Strick genommen und sich in seiner Wohnung erhängt. Wiederum drei Tage später hat Dr. Konrad Biegelmeyer nichts ahnend die Geschäftsführung übernommen.

    Dr. Biegelmeyer steht auf und wirft einen prüfenden Blick in den großen Wandspiegel. Er streicht die Haare glatt und zieht sein Jackett über. Die Krawatte sitzt perfekt. Er legt großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres, trotz oder gerade aufgrund seiner 52 Jahre. Er sieht auf seine Rolex und stellt fest, dass er in genau neun Minuten zum Mittagessen verabredet ist. Perfektes Timing. Mit langen, langsamen Schritten geht er den Flur entlang zum Fahrstuhl, gerade, aufrecht und ohne Eile. Er ruft den Fahrstuhl und führt sich noch einmal den Abschiedsbrief seines Vorgängers vor Augen. Viel hat er nicht geschrieben:

    Ich kann nicht mehr, möge Gott mir verzeihen und jemand anderes für Gerechtigkeit sorgen.

    In dem Moment, in dem der Fahrstuhl seine Türen öffnet, rennt eine seiner Mitarbeiterinnen auf ihn zu. Hektisch und mit schnellen, kurzen Schritten kommt sie auf ihn zugelaufen und hält dabei einen Stapel Papiere in der Hand.

    „Dr. Biegelmeyer, ruft sie aufgeregt, „haben Sie noch einen kurzen Augenblick? Ich muss Sie wirklich dringend sprechen. „Nein. Holen Sie sich gefälligst einen Termin." Der Ton ist rauer als beabsichtigt. Vielleicht ist er doch nervöser als er sich eingestehen möchte.

    Er steigt in den Fahrstuhl, dreht sich um und sieht seiner Mitarbeiterin dabei direkt in die Augen, während sich die Türen langsam schließen und er sie verdattert auf dem Flur zurücklässt. „Was bildet sie sich nur ein, mich einfach so auf dem Flur anzusprechen. Etwas mehr Respekt kann ich schon erwarten." Biegelmeyer hasst dieses Gerenne auf den Fluren. Er ist der Überzeugung, dass man die Stellung eines Menschen an der Gehgeschwindigkeit erkennen kann. Je langsamer jemand geht, desto souveräner wirkt er. Je schneller sich jemand bewegt, desto niedriger ist er in der Hierarchie angesiedelt. Dr. Biegelmeyer geht und spricht langsam und überlegt, immer. Schon aus Prinzip!

    Möge jemand anderes für Gerechtigkeit sorgen… Dies hat ihn daran erinnert, was ihm ein Bekannter vor einiger Zeit erzählt hat. Von einer geheimnisvollen Stiftung, die immer dann für Gerechtigkeit sorgt, wenn es sonst keine andere Lösung mehr gibt. Die „Aufrichtigen Piraten" haben eine einfache Webseite, auf der die Figur der Justitia in ihrer üblichen Weise, als eine schöne Frau mit Schwert und Waagschale in den Händen, abgebildet ist. Eine Besonderheit gibt es jedoch: Ihr Gesicht ziert eine Piratenklappe über dem rechten Auge. Außer einem Kontaktformular gibt es keine Information auf der Webseite. Genau deshalb trifft sich Biegelmeyer jetzt mit eben jenem Bekannten, der ihm von dieser Stiftung berichtet hat, zum Mittagessen. Bei dem Gedanken daran ist ihm gar nicht wohl. Doch dramatische Situationen erfordern eben drastische Maßnahmen. Seine berufliche Zukunft, seine privaten Finanzen, ja alles, was er ist und was ihm wichtig ist, hängt an einem seidenen Faden. Hat er also wirklich eine Wahl? Dr. Konrad Biegelmeyer atmet tief ein, richtet sich auf, zieht die Schultern nach hinten und setzt sein unverfänglichstes Lächeln auf. Die Türen des Fahrstuhls öffnen sich. Vor ihm liegt das größte Abenteuer seines Lebens.

    3

    Der nasskalte Umhang des Aprils umhüllt Hamburg auch in tiefster Nacht. Das abgelegene Anwesen der Familie Sagesse wirft dunkle Schatten auf seine Zuwege und Türen.

    Es klopft, dreimal. Gleich darauf ertönt der Donner eines aufziehenden Gewitters, als müsse die Hartnäckigkeit der Aufforderung zu öffnen unterstrichen werden. Die Nacht ist finster, der Mond von grauen Wolken umnebelt und der Regen prasselt gegen die Fensterscheiben. Ohne über die Motive eines so späten Besuches nachzudenken und ohne Licht zu machen, öffnet die alte Frau umgehend die Hintertür. Zu spät für eventuelle Vorsichtsmaßnahmen. Ein junger Mann drängt hinein, groß, ein schwarzer vom Regen durchtränkter Mantel, dunkles Haar. Mehr ist bei der dämmrigen Beleuchtung nicht zu erkennen. In Sekundenschnelle verschließt er die Tür hinter sich und stürzt sich auf die alte Dame.

    Nein, es ist mehr eine eilige Umarmung. Es folgt hektisches Geflüster und die beiden Gestalten verschwinden durch eine Tür im Inneren. Kurze Zeit später ertönt ein weiterer Donnerschlag und in der Ferne startet ein Motorboot in Richtung Norden. Ansonsten bleibt die Nacht ruhig. Fast zu ruhig, möchte man sagen.

    `Wenn ich mit meiner Relativitätstheorie recht behalte, werden die Deutschen sagen, ich sei Deutscher, und die Franzosen, ich sei Weltbürger. Erweist sich meine Theorie als falsch, werden die Franzosen sagen ich sei Deutscher, und die Deutschen, ich sei Weltbürger ´ (Albert Einstein).

    So ist nun mal die Welt, so ist sie schon immer gewesen und so wird sie auch in Zukunft bleiben. Doch es besteht kein Grund zur Resignation. Die Kunst des Lebens besteht auch darin, sich dessen bewusst zu sein, zu lernen, damit umzugehen, und schließlich die eigenen Folgerungen daraus zu ziehen. Die Welt ist unendlich komplex.

    Geschrieben stehen Einsteins Worte auf einer dunkelblauen Tafel, goldene Schrift, überflogen von den grünen Augen einer alten Frau. Ihr Name ist Mercedes Sagesse. Ein leichter Geruch einer kubanischen Zigarre liegt in der Luft. Während sie wie lautlos auf dem roten Läufer im Dunkel des Korridors verschwindet, plagen sie Zweifel:

    „Diese Aufgabe wird gewiss nicht leicht. Ich vermag nicht zu sagen, ob es mir je gelingen wird, diese Welt zu verstehen. Schwere Zeiten kommen auf uns zu...Gott sei mit uns."

    4

    Konstantin Sagesse verlässt das Anwesen seiner Großmutter Mercedes mit gemischten Gefühlen. Sie haben einen neuen Auftrag bekommen. Ihre Mission ist sehr heikel und ihre Gegenspieler sind fast übermächtig. Lange hat er darauf gewartet, dass es wieder losgehen würde und gespannt hat er seiner Großmutter zugehört, als diese ihn in den neuen Fall eingeweiht hat. In den nächsten Monaten würde er all seine Kraft diesem Auftrag widmen, ja sogar sein eigenes Leben riskieren.

    Die norddeutsche Sonne geht gerade erst auf. Er setzt sich auf eine Bank und schaut in den Himmel. Dieser ist heute weit und groß und Konstantin versinkt immer tiefer in den Weiten dieser unendlichen Welt. Er sieht nichts außer den Wolken über ihm und kommt sich unendlich klein vor, ein Krümel unter der Hemisphäre, ein Molekül, das tatsächlich glaubt, etwas auf dieser Welt bewegen zu können. Doch was ist er, was ist diese Stadt, was ist schließlich diese Welt angesichts eines unbegrenzten Universums, in welchem wir nur an einem Bruchteil seiner Millionen von Jahren andauernden Evolution teilnehmen können? Geduldete Gäste, für einen kurzen Augenblick.

    Gerade deshalb ist Konstantin froh, wieder eine konkrete Aufgabe zu haben, aber auf der anderen Seite schockieren ihn seine Recherchen ungemein. Dieser Auftrag wird definitiv sein Leben verändern und die Art und Weise, wie er die Welt sieht. Lebensmittel sind unser ständiger Begleiter und eine große Unbekannte. Wie wenig er über Ernährung wirklich weiß, wird ihm jetzt erst bewusst und die Macht der Lebensmittelkonzerne bereitet ihm zunehmend Sorgen.

    Allein in Deutschland macht die Lebensmittelbranche einen jährlichen Umsatz von 106 Milliarden Euro. Den Gewinn teilen sich wenige große Konzerne, die damit eine ungeheure Macht innehaben. Sie bestimmen quasi, was wir essen, wie wir uns ernähren, was wir dafür ausgeben, wie Produzenten und Zulieferer überall auf der Welt behandelt werden. Mit anderen Worten - sie dominieren unser Leben weitaus stärker, als wir es wahrhaben wollen.

    In der Presse finden sich zahlreiche Vermutungen, dass selbst das gleiche Produkt der gleichen Marke in verschiedenen Ländern unterschiedliche Inhaltsstoffe aufweist. So sei der Koffeingehalt eines Kaffees in Tschechien wesentlich höher als in Deutschland. Eine Pepsi sei mit Glukose-Fructose-Sirup gesüßt und nicht mit Zucker, in den USA sei Maissirup verwendet worden. Selbst bei einer Sprite sind Aspartame und Acesulfame hinzugefügt. In einem anderen Fall hätte tschechischer Eistee vierzig Prozent weniger Teeextrakte enthalten als im gleichen Produkt in Deutschland, wo diese Produkte sogar günstiger sind. Dies ist nicht gefährlich, jedoch wird der Verbraucher wissentlich hinters Licht geführt. Die Liste lässt sich ewig weiterführen. Die entsprechenden Lebensmittelkonzerne bestreiten regionale Unterschiede in der Rezeptur ihrer Produkte und verweisen nur auf unterschiedliche kulturelle Vorlieben. So sei ein Nussnougataufstrich in Frankreich cremiger, da dort oft das weiche Weißbrot verwendet würde.

    Der Bereich der zugelassenen Zusatzstoffe wiederum ist ein ganz anderes Thema. Schon allein der Prozess der Zulassung kann durchaus kritischer betrachtet werden. Stoffe durchlaufen eine toxikologische Untersuchung an Ratten und Mäusen, die mit dem „E in konzentrierter Form gefüttert werden. Die Menge des Zusatzstoffes, die zu Lebzeiten des Tieres keinerlei Veränderung herbeiführt, wird als sogenannter NOEL-Wert (No Observed Effect Level) bezeichnet. Da es zwischen Mäusen und Menschen gewisse Unterschiede gibt, wird dieser Wert sicherheitshalber noch einmal reduziert, um schließlich zu dem ADI-Wert zu gelangen, dem „Acceptable Daily Intake eines Menschen. Interessanterweise würde Salz, welches seit Jahrhunderten in der Küche verwendet wird, bei einem ADI-Test heute nicht mehr zugelassen werden. Die Hürden sind also hoch, das Zulassungsprozedere aber fragwürdig. Doch auch hier gibt es nun wieder regionale Unterschiede.

    In der EU sind 320 Zusatzstoffe zugelassen. Sie tragen je eine E-Nummer, die bei der Zulassung vergeben wird, aber nicht alle E´s sind in Deutschland üblich. Sollte es gesundheitliche Zweifel geben, kann eine E-Nummer auch in einzelnen EU-Ländern nicht zugelassen werden, wie zum Beispiel der Farbstoff E129 in Dänemark, Belgien, Frankreich, Österreich, Schweden und der Schweiz nicht zugelassen wurde. In den USA hingegen sind erheblich mehr, über 1500 Zusatzstoffe zugelassen, Tendenz steigend.

    Konstantin hat erst die Spitze des Eisberges gesichtet, aber schon jetzt ist ihm klar, wie wichtig seine Mission werden würde. Sollten sie Missstände im Lebensmittelbereich identifizieren, wären Millionen von Menschen direkt betroffen. Er hat genug erfahren, um sich unverzüglich an die Arbeit zu machen. Jetzt müssen Taten folgen.

    5

    Mercedes Sagesse wuchs Anfang des 20. Jahrhunderts in einem kleinen Dorf im Hamburger Norden auf, in einer Welt voller Freiheit, in der die Kinder alles und sich selbst erkundeten und ausprobierten. Es war eine Welt ohne Internet und Smartphone, eine Welt der Wälder, Wiesen und Wunder. Es war auch eine unschuldige, heile Welt gewesen, in der die Türen nie abgeschlossen wurden und in der es immer ein offenes Ohr, ein Lächeln oder eine herzliche Umarmung gab.

    Sie wuchs in einem riesigen Haus auf, welches schon seit Generationen in Familienbesitz war und welches von hohen Mauern verborgen wurde. Es war ein geheimnisvolles Anwesen, welches zugleich der Sitz des Familienunternehmens war. Es handelte sich allerdings nicht um ein Unternehmen im klassischen Sinne, sondern um eine Stiftung, eine gemeinnützige Institution, die im Verborgenen agierte und nur wenigen Menschen bekannt war. Die Stiftung der Familie Sagesse war genauso geheimnisvoll wie ihr Ursprung. Manche munkelten sogar etwas von einem sagenumwobenen Piratenschatz. Wie so oft im Leben machten Gerüchte schnell die Runde und wie man sich sagte, war ja an jeder Geschichte auch immer ein Fünkchen Wahrheit zu finden.

    Mercedes eigene Geschichte zumindest war genauso real wie grausam. Denn das frühe 20. Jahrhundert brachte auch in Hamburg eine bewegte Zeit, der erste Weltkrieg verursachte ein bis dahin unvorstellbares Grauen. Während die Bevölkerung um das schiere Überleben rang, wurde die Familie Sagesse an mehreren Kriegsschauplätzen gleichzeitig aktiv. Doch von all diesen Dramen bekam die kleine Mercedes, damals noch ein Kind, wenig mit. Das Leben war für sie ein Spiel.

    Es war eine glückliche Kindheit, aus der sie einige Jahre später völlig unvorbereitet und naiv erwachte, noch im Halbschlaf des Erwachsenwerdens, behütet vor den Gefahren der Welt. Die Weimarer Republik durchlebte stürmische Zeiten und 1925 veröffentlichte Adolf Hitler ´Mein Kampf`. Als sie dreizehn Jahre alt war, sie erinnert sich noch ganz genau daran, kam ihr Vater auf sie und ihre Geschwister zu und sagte, dass er auf eine längere Reise gehen würde. Er hätte sie sehr lieb und

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